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NRW-Ermittler fordern HilfeZahl der ungeklärten Todesfälle massiv angestiegen

Lesezeit 4 Minuten
Gerichtsmedizin Getty

Blick in die Gerichtsmedizin: Viele Todesfälle in NRW werden als „ungeklärt“ gemeldet.

  1. Die Zahl der ungeklärten Todesfälle in Nordrhein-Westfalen ist massiv angestiegen.
  2. In Köln und Leverkusen sterben knapp 12.000 Menschen, in fast jedem fünften Fall kreuzen der Haus- oder Notarzt mittlerweile die Rubrik „ungeklärt“ an.
  3. Chefs der Kriminalpolizei in NRW suchen nun nach Unterstützung durch Rechtsmediziner.

Köln – Der Jahreswechsel brachte die Kölner Kripo ans Limit. Immer wieder klingelte das Telefon, wenn Notärzte oder Polizeistreifen die Ermittler zu einem neuen ungeklärten Todesfall riefen. An einem der Wochenenden musste die Kriminalwache 27 Leichensachen aufnehmen, untersuchen und im Zweifelsfall auf Geheiß der Staatsanwaltschaft den Rechtsmedizinern zur Obduktion übergeben. Danach folgte der Papierkram. Die Fälle beschäftigten noch tagelang das halbe Mordkommissariat (KK11). „Dies führt zu einer enormen Arbeitsbelastung“ und man habe ohnehin alle Hände voll zu tun, sagt Klaus-Stephan Becker.

Jeder fünfte Todesfall in Köln und Leverkusen bleibt ungeklärt

Der Leitende Kriminaldirektor sitzt Anfang Februar im Kölner Polizeipräsidium und hebt ein heikles Thema auf die Agenda: die stark steigende Zahl von Todesermittlungsverfahren. Laut Becker sterben in Köln und Leverkusen knapp 12.000 Menschen, in fast jedem fünften Fall kreuzen der Haus- oder Notarzt mittlerweile die Rubrik „ungeklärt“ an. Dann kommt die Kripo im Auftrag der Staatsanwaltschaft ins Spiel.

Jürgen Neuendorf

Jürgen Neuendorf

Seit 2011 stieg allein in Köln die Anzahl der so genannten Leichensachen um 55 Prozent auf 2238 Fälle im vergangenen Jahr – bei annähernd unveränderter Sterberate. Hochgerechnet ist mehr als ein Drittel der 38 Kölner Todesermittler nur damit beschäftigt zu klären, ob die Toten durch Fremdverschulden starben. In den meisten Fällen laute die Antwort: Nein. Ein Phänomen, das Andreas Dickel in vielen großen NRW-Städten ausmacht. Der Bochumer Kripochef verzeichnet allein in seiner Behörde im Schnitt 1400 Untersuchungen, die Kollegen in Duisburg 1500 jährlich. „Die ungeklärten Leichensachen nehmen landesweit enorm zu“, sagt der langjährige Polizeiausbilder. Dickel führt mehrere Gründe an: Zum einen hielten sich die Ärzte ob einer eindeutigen Diagnose zurück, weil sie in der Regel nicht mit der Patientengeschichte vertraut seien: „Zudem hat sich die Bewertung durch die Notärzte geändert.“

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Szenario 2030: 255 Kripo-Beamte wären nur mit Todesermittlungen beschäftigt

Dickel hat bereits 2018 vor den Folgen in einem Aufsatz gewarnt. Demnach werden 2030 in NRW etwa 212.000 Menschen sterben. Dieser Umstand dürfte zu 30.000 Todesermittlungsverfahren führen. Die Folge: 255 Vollzeit-Kriminalbeamte wären nur damit beschäftigt. Und das, obwohl es in nur bis zu vier Prozent aller Fälle Hinweise auf ein Tötungsdelikt gäbe.

Das Leichenwesen müsse dringend reformiert werden, fordern die Kripochefs. Geht es nach ihnen soll die Landesregierung sich nach dem Bremer Modell richten und die Funktion eines amtlichen Leichenbeschauers einführen. Als einziges Bundesland haben die Bremer im August 2017 das Modell der „Qualifizierten Leichenschau“ installiert. So nimmt seither das Institut für Rechtsmedizin jeden der etwa 7500 jährlich anfallenden Todesfälle in der Stadt unter die Lupe. Nur wenn der Pathologe Ungereimtheiten feststellt, schaltet er Polizei und Justiz ein. Die Kosten von 222 Euro für die Leichenschau müssen die Hinterbliebenen übernehmen.

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Zwar wurden durch das neue System keine übersehenen Morddelikte aufgedeckt. Kölns Kripochef Becker stellt dennoch fest, dass „in Bremen die Leichenschau viel professioneller verläuft.“ In NRW komme es vor, dass etwa Augenärzte oder andere Mediziner einen Totenschein „ungeklärt“ ausstellten, auch weil ihnen das nötige Fachwissen fehle. „In diesem Moment muss die Kripo mit einem hohen Aufwand ran, der kaum zu kriminalistischem Mehrwert führt, und auch nirgends in der Kriminalstatistik auftaucht.“

Innenministerium reagiert verhalten positiv

Das Düsseldorfer Innenministerium reagierte nach Anfrage verhalten positiv auf die Vorschläge: Man werde sich mit dem Vorgehen der Bremer Kollegen konstruktiv auseinandersetzen und prüfen, ob „wir hier für unsere Arbeit etwas herausziehen können“, teilte ein Sprecher mit. Allerdings seien „die Begebenheiten in einem Flächenland wie NRW nicht mit denen eines Stadtstaates vergleichbar“. Folglich könne es Situationen geben, „in denen es ratsam und wichtig ist, Kriminalisten sofort an dem Fundort einer Leiche im Einsatz zu haben. Man muss hier die Chancen und Risiken gut gegeneinander abwägen.“

Aus Sicht der Kripo-Experten in Köln und Bochum würde ein amtlich bestellter Leichenschauarzt die Arbeit der Todesermittler deutlich entlasten und zugleich das Risiko eines fälschlich bescheinigten natürlichen Todes minimieren. Man verschwende Ressourcen, in denen der kriminalistische Mehrwert überschaubar ist, lautet der Tenor. Zumal diese Fälle bei der Personalberechnung unberücksichtigt bleiben. Der personelle Aufwand steigt also stetig, dennoch gibt es keinen Beamten mehr.

Mehr Mordkommissionen

Jürgen Neuendorf, Chef des Mordkommissariats in Köln, kennt die Probleme zu genau. Seit Jahren nimmt die Zahl der Mordkommissionen (MK) zu. 2020 zählte die Kripo fast 70 Einsätze, jede Woche kam mehr als ein neuer Fall dazu. Trotz der Corona-Einschränkungen spricht der Dienststellenleiter „von einem der höchsten Werte der vergangenen Jahre“. Letztlich pendelt sich die Zahl von Mord- und Totschlag in Köln meist zwischen 30 und 50 Taten ein. Der Rest wird am Ende zur gefährlichen Körperverletzung heruntergestuft. Das Opfer überlebt, eine Tötungsabsicht ist letztlich nicht nachzuweisen. Dennoch ermittelte eine achtköpfige MK in so einem Fall.

Das liege insbesondere daran, dass immer häufiger bei Konflikten Messer zum Einsatz kommen. Im vergangenen Jahr handelte es sich bei 14 von 29 abgeschlossenen Ermittlungen im Bereich Mord- und Totschlag um Messerattacken. Insgesamt zählte man 547 Messerdelikte mit 630 Opfern.