Sind die Vorwürfe haltlos?Kolonialismus, Apartheid, Genozid: Israel und der Krieg der Wörter

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Pro-palästinensische Demonstration in Den Haag vor dem Internationalen Gerichtshof, wo Israel zu dem Vorwurf des Völkermordes im Gaza-Krieg Stellung nehmen muss.

Pro-palästinensische Demonstration in Den Haag vor dem Internationalen Gerichtshof, wo Israel zu dem Vorwurf des Völkermordes im Gaza-Krieg Stellung nehmen muss.

Kritiker an der Politik Israels greifen oft zu Begriffen aus Geschichte und Völkerrecht. Oft liegen sie damit daneben. Aber in einigen Punkten ist die Lage auch komplizierter. 

An großen Wörtern mangelt es nicht, wenn es um Israels Rolle im Nahostkonflikt geht. Das jüngste Beispiel dafür ist die Klage der südafrikanischen Regierung vor dem Internationalen Gerichtshof, in der sie Israel einen Genozid in Gaza vorwirft: Die israelische Regierung habe ihre Armee „systematisch völkermörderische Handlungen gegen die Palästinenser im Gazastreifen“ begehen lassen.

Die militärische Gewalt der letzten Monate sei „mit der Absicht des Völkermordes“ geschehen, erklärten die Rechtsvertreter Südafrikas vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag. Der Genozid-Vorwurf ist seit jeher schnell zur Hand, wenn Israel kritisiert wird. Auch „Kolonialismus“ und „Apartheid“ wird dem Land vorgeworfen. Israel weist das zurück. Doch was steckt hinter den Begriffen, wer wendet sie auf Israel an – und geschieht das zu Recht? Ein Überblick.

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UN-Büro sprach von „Genozid wie aus dem Lehrbuch“

Der Genozid-Vorwurf ist so alt wie der Staat: Israels Vorgehen gegen die Palästinenser sei ein Völkermord, erklärten deren Vertreter, aber auch Israels Erzfeinde wie der Iran und zunehmend auch westliche Aktivisten. Gemeint war in erster Linie der Umgang mit Gaza, wo es seit 1967 Besatzungsmacht ist und wo bei den Militäreinsätzen gegen die Hamas und andere Kämpfer, immer wieder auch Zivilisten starben.

Die Blockade des Gazastreifens, mit der Israel seit 2007 die Einfuhr von Waffen, aber auch die Entwicklung von Wohlstand unter der Hamas-Regierung verhindern wollte, verstärkte die Vorwürfe. Israel führte dagegen stets seine eigene Sicherheit als einzigen Grund an.

Nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober mit mehr als 1100 brutal ermordeten Israelis, verschärfte Israel die Blockade und unterband zeitweise die Versorgung mit Strom, Wasser und Nahrungsmitteln. Laut UN wurden mehr als 70 Prozent der Bevölkerung vertrieben, Tausende Palästinenser starben. Das New-York-Büro des UN-Menschenrechtsbeauftragten sprach von einem „Genozid wie aus dem Lehrbuch“.

Gerade das bestreiten Völkerrechtsexperten jedoch. Denn der Kern der Lehrbuchdefinition – festgehalten in der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 – definiert als Genozid „Handlungen mit dem Ziel, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Entscheidend ist also die offenkundige Absicht, eine bestimmte Gruppe auszulöschen.

Das Foto, aufgenommen am 22. Januar aus Rafah, zeigt die Bombardierung durch Israel über Khan Yunis im südlichen Gazastreifen.

Das Foto, aufgenommen am 22. Januar aus Rafah, zeigt die Bombardierung durch Israel über Khan Yunis im südlichen Gazastreifen.

Das kann man Israel höchstens unterstellen, nicht aber nachweisen. „Israel kämpft gegen Hamas-Terroristen, nicht gegen die palästinensische Bevölkerung“, erklärte Benjamin Netanjahu gerade. Die USA, Großbritannien und Deutschland teilen diese Sicht. Die Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs ist offen.

Klarer liegt der Fall bei der Hamas: Deren Gründungsurkunde von 1988 verpflichtet sie ausdrücklich zur Auslöschung Israels und zum Töten „der Juden“. Die Morde vom 7. Oktober folgten also eindeutig völkermörderischer Absicht.

Vorwurf mit historischer Dimension

Der Völkermord-Vorwurf ist nicht der einzige mit historischer Dimension, zu dem Israels Kritiker seit Jahrzehnten greifen. Ein Klassiker ist auch die Bezichtigung des „Kolonialismus“. Bei den Protesten gegen den laufenden Nahostkrieg taucht sie immer wieder auf – in Petitionen, auf Plakaten und in Veranstaltungstiteln wie bei einer Berliner Kundgebung gegen den Umgang der Universitäten mit dem Gazakrieg: „Decolonise Universities“, „Universitäten entkolonialisieren“.

Der israelische Historiker und Autor Tom Segev bezeichnete den Begriff im „Spiegel“ als Zeichen „intellektueller Faulheit“. „Israel ist nicht kolonialistisch, weil die Gründe des Kolonialismus entweder wirtschaftlich oder strategisch sind“, erklärte er. „Zionismus ist eine nationale Ideologie.“ Vor allem aber seien die meisten Menschen nicht als Kolonialherren nach Israel gekommen, sondern weil sie keine andere Möglichkeit hatten, so Segev. „Das sind Flüchtlinge aus arabischen Ländern und aus Europa gewesen.“

Auch aufs jüdische Volk oder die jüdische Staatsgründung lässt sich der Begriff nicht anwenden. Juden sind im Gebiet des heutigen Israel seit rund 3000 Jahren ansässig. Und die Staatsgründung im Jahr 1948 erfolgte unter dem Eindruck des Holocausts in Europa durch den Rückzug der Briten aus ihrem „Mandatsgebiet“ – und auf Basis eines Teilungsplans der Vereinten Nationen. Die israelische Besetzung von Gaza und Westbank war dann 1967 Folge des Sechstagekrieges, mit dem Israel einem arabischen Angriff auf sein Territorium zuvorkam. Richtig ist, dass Israel nach der Eroberung der beiden Gebiete sehr schnell eigene Bürger dort ansiedelte.

Wenn Israel nun vorgeworfen wird, die besetzten Gebiete wie Kolonien zu behandeln, lässt sich das am ehesten als Kampfbegriff verstehen: So wie einst die europäischen „Überseegebiete“ seien auch die Palästinensergebiete von einer auswärtigen Macht abhängig, ohne eigene politische und wirtschaftliche Macht zu haben. Richtig daran ist, dass zwar 139 von 193 UN-Mitgliedsstaaten die palästinensischen Gebiete als eigenen Staat anerkennen, dass aber Israel ihre Souveränität nach wie vor beschränkt – ebenso wie die Rechte der Palästinenser, die dort leben.

Amnesty International wirft Israel systematische Diskriminierung vor

Es ist der komplizierteste der Vorwürfe: Israel habe gegenüber den Palästinensern „die Schwelle zur Apartheid überschritten“. So hat es 2022 Amnesty International formuliert – und großes Aufsehen erregt. Kein Wunder, wirft die Menschenrechtsorganisation Israel damit doch eine Praxis vor, die juristisch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Wie Amnesty sehen es derzeit viele propalästinensische Demonstranten, etwa die Klimaaktivisten um Greta Thunberg, sowie – ausgerechnet – Südafrika.

„Apartheid“, niederländisch für „Getrenntheit“, bezeichnete ursprünglich die von 1948 bis 1990 in Südafrika herrschende Praxis der rassistischen Separation von Staatsbürgern ein und desselben Staates. Die weiße Minderheit herrschte in der einstigen britischen Kolonie über die nicht weiße Mehrheit – mit einer gewaltsam durchgesetzten und rechtlich verankerten Segregation.

Die völkerrechtliche Bedeutung geht aber über den historischen Fall hinaus: Laut mehreren UN-Konventionen gilt als Apartheid, wenn eine schwere systematische Diskriminierung dauerhaft installiert und durch schwere Rechtsverstöße in Form unmenschlicher Behandlung, Freiheitsentzug sowie den Entzug von Grundrechten durchgesetzt wird.

Amnesty vertritt den Standpunkt, dass Israel die Palästinenser in den besetzten Gebieten wie auch im Kernland systematisch diskriminiere. So werde palästinensisches Land und Eigentum beschlagnahmt, es gebe rechtswidrige Tötungen, Zwangsumsiedlungen, Bewegungseinschränkungen und die Verweigerung der Staatsbürgerschaft.

Israel und seine Verbündeten, darunter Deutschland, weisen den Begriff zurück. Die Einschränkungen für Palästinenser seien nicht rassistisch motiviert, sondern dienten allein der Sicherheit der jüdischen Bevölkerung. Jede Verschärfung sei eine Reaktion auf Angriffe und Terror gewesen. Auch viele Völkerrechtler argumentieren so.

Zudem sei es Wesen einer Besatzung, betont der Berliner Historiker Konstantin Sakkas, dass die okkupierte Bevölkerung benachteiligt wird. Allerdings endet eine Besatzung normalerweise, indem die Okkupierten entweder wieder unter ihr eigenes Staatsrecht gestellt oder dem okkupierenden Staat und dessen Recht unterstellt werden. Israel aber vermeidet eine dauerhafte Annexion der Westbank, sodass die knapp drei Millionen arabischen Palästinenser unter Besatzungsrecht bleiben, während gleichzeitig Hunderttausende Juden dort siedeln und unter israelischem Friedensrecht stehen. Daraus ergeben sich viele praktische Unterschiede, etwa in der Bewegungsfreiheit und beim Zugang zu Agrarflächen und Fischereigebieten.

Israel verweigert diese Rechte und Bedingungen auf der Grundlage der ethnischen und nationalen Identität
Leipziger Völkerrechtsexpertin Lisa Wiese

Hinzu kommt, dass Israel sich als Konsequenz aus Holocaust und Vertreibung grundgesetzlich als „jüdischen Staat“ definiert. Um diesen Status zu wahren, dürfen Nichtjuden keine Staatsbürger werden – auch nicht durch Heirat oder Konversion. Jude ist, wessen Mutter jüdisch ist. So verläuft die Trennung faktisch eben doch entlang der Ethnizität.

„Die Bundesregierung sollte sich den Apartheid-Vorwurf vor einer sorgfältigen Prüfung durch die zuständigen Organe weder zu eigen machen noch ihn abtun“, empfiehlt deshalb Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Und auch die Leipziger Völkerrechtsexpertin Lisa Wiese bleibt ambivalent: „Dieses System räumt den jüdisch-israelischen Siedlern umfassende Rechte und Lebensbedingungen ein, während es den Palästinensern militärische Herrschaft und Kontrolle auferlegt“, schreibt sie. „Israel verweigert diese Rechte und Bedingungen auf der Grundlage der ethnischen und nationalen Identität.“

Zugleich gebe es in Israel eine De-facto-Gleichbehandlung israelischer Araber: Sie sind in der Knesset, im Obersten Gericht sowie in Leitungsämtern von Universitäten und Armeeeinheiten vertreten, so Wiese: „Es gibt Bürgerrechte, Mehrheitswahlrecht und Minderheitenschutz in einem Maß, wie es kein anderer Staat im mittleren Osten seinen ethnischen und religiösen Minderheiten gewährt.“

So bleibt Israel ein Zwitter: Es ist die einzige Demokratie der Region, die zugleich kriegs- und völkerrechtliche Grenzen überschreitet – sich dabei aber auf Dauerbedrohung durch Krieg und Terror berufen kann. Der Nachweis einer anderen Motivation ließe sich erst antreten, wenn Israel nicht mehr in Gefahr wäre.

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