Soziale Probleme an Kölner SchulenSchüler waren in Krise monatelang auf sich gestellt

Lesezeit 6 Minuten
Schulcheck-Header-Problem

Jesithan Jekatheeswaran (13) war einer von denen, die drohten verloren zu gehen.

Köln – Wer an Schulen im sozialen Brennpunkt arbeitet, der muss laut und beharrlich sein, damit er gehört wird. „Einem Baby, das nicht weint, gibt man ja auch nicht die Flasche“, meint Martin Süsterhenn. Das ist die Lektion, die Corona den Schulleiter der Katharina-Henoth-Gesamtschule in Köln-Höhenberg gelehrt hat.

schulcheck_logo

Selbst das Fernsehen hat er im zweiten Lockdown reingeholt in seine Schule, um einen Hilferuf abzusetzen. Weil es ihn umtrieb, dass die Pandemie die ohnehin schon massive Bildungsungerechtigkeit von Woche zu Woche weiter zuungunsten seiner Schützlinge verschärfte. „Es gibt eine Priorisierung, die die Benachteiligten weiter benachteiligt“, sagt er. Das klingt akademisch. Ganz konkret bedeutete das für Süsterhenn und sein Kollegium, einen Distanzunterricht auf die Beine zu stellen für Schüler, die zumeist allenfalls ein Handy besaßen – und zuhause kein WLan.

70 Prozent erhalten Sozialhilfe

Von den 1329 Schülern, die die Katharina-Henoth-Gesamtschule besuchen, haben 85 Prozent einen Migrationshintergrund. 70 Prozent leben in Familien, die nach dem Sozialhilfegesetz unterstützt werden. Als es in den ersten Lockdown ging, verschwanden viele seiner Schüler in einem schwarzen Loch, unerreichbar. Laptops gab es keine. Klassensätze iPads erst recht nicht. „So was bekommen halt Kinder am Gymnasium“, meint Schülerin Zehra Yüksel (15). Noch im Dezember – neun Monate nach Beginn der Pandemie – sammelte Schulleiter Süsterhenn Spenden von Unternehmen und die Lehrerinnen und Lehrer brachten die davon gekauften Pre-Paid-Karten den Schülern nach Hause.

Alles zum Thema Ford

Schul-Check-Problemschulen_002

„Plötzlich ist er voll dabei“, sagt Lehrer Numan Sarrac. „Endlich klappt wieder was“, sagt Jesithan Jekatheeswaran.

Jesithan Jekatheeswaran (13) war einer von denen, die drohten verloren zu gehen. Der Sechstklässler will heute endlich mal erzählen, wie das für ihn und viele seiner Freund war. Wie er daheim im Wohnzimmer saß und Woche für Woche immer wieder versuchte, sich in den Unterricht einzuloggen. Mit dem Handy und mit einem alten Laptop. „Aber ich kam nicht rein, nie. Und wenn ich mal reinkam, war das Bild eingefroren oder ich konnte den Lehrer nicht hören.“ Irgendwann hat Jesithan frustriert aufgegeben.

Daniel Jung ist mit seinen Youtube-Mathevideos zum Nachhilfelehrer von Millionen Kindern und Jugendlichen geworden. Im Podcast hat er über seinen Werdegang und die Angst vor Mathe gesprochen:

„Wir haben es nicht geschafft, ihn zu erreichen“, sagt sein Lehrer Numan Sarrac. Er ist selbst Einwandererkind in zweiter Generation, seine Eltern standen bei Ford am Band. Er weiß wie das ist, um Chancen kämpfen zu müssen. Und wie wichtig es ist, dass man an der Schule Lehrer findet, die einen unterstützen, weil es zuhause halt keiner kann. Er, der für seine Schüler nicht nur Lehrer, sondern auch Sozialhelfer und Psychologe ist, gab Jesithan, das pfiffige Kerlchen, nicht verloren. Versuchte es immer wieder. Aber erst als er ihm eine gespendete Prepaid-Karte vorbeibrachte, verstand er das Problem: „Der Laptop, den er da hatte, der war so veraltet und langsam, dass darauf wirklich keines der Programme lief.“

Laptops oder Tablets? Fehlanzeige

In der Gustav-Heinemann-Hauptschule in Chorweiler war die Ausgangssituation noch schwieriger: Von seinen 330 Schülerinnen und Schülern sprächen lediglich elf zuhause Deutsch, erzählt Schulleiter Andreas Malm. Bei den Fünft- und Sechstklässlern beziehen zwischen 80 und 90 Prozent Leistungen nach dem Sozialhilfegesetz. Laptops oder Tablets? Fehlanzeige. Seine Schüler haben – sofern sie welche besaßen – mit Handys gearbeitet und die Schul-App Kiks Chat genutzt.

Der einzige Schulsozialarbeiter der Schule fuhr derweil die Familien ab, um sich ein Bild von der Lage daheim zu machen. Das Problem: „Bei dem überwiegenden Teil der Familien gibt es keinen Festnetzanschluss, keine Fritz-Box im Keller, kein WLAN, geschweige denn einen Drucker“, sagt Malm. Prepaid-Guthaben sind für teilweise zehnköpfige Familien das einzige Tor zur Welt und zur Schule.

Jetzt im März, nach einem Jahr Pandemie hat sich etwas getan: In der Katharina-Henoth-Gesamtschule hat die Stadt vor einem Monat 420 iPads für die Schüler geliefert. „Es ist ein Anfang. Damit konnten wir pro Klasse jetzt zumindest die bedürftigsten vier oder fünf Schüler mit Leihtablets ausstatten.“ Süsterhenn ist dankbar dafür, und Kinder wie Jesithan blühen auf. „Plötzlich ist er voll dabei“, sagt sein Lehrer. „Endlich klappt wieder was“, sagt er selbst.

Ein guter Anfang, der nur bedingt hilft

Auch in der Chorweiler Hauptschule sind inzwischen die ersten städtischen iPads eingetroffen: 124 Stück. Genug für ein Drittel der Schüler, die nun ein solches Leihgerät für den Wechselunterricht zuhause haben. „Als erstes haben wir die Schüler ausgestattet, die nicht mal ein Handy besitzen, dann die Kinder, die mit mehreren Geschwistern bei uns Schüler sind, damit im Haushalt wenigsten ein Gerät vorhanden ist.“ Das ist ein guter Anfang, findet er. Doch: Für den jetzt zu stemmenden Wechselunterricht hilft das nur bedingt.

Das könnte Sie auch interessieren:

„Wenn nur ein Drittel über die Tablets das Officepaket wirklich nutzen kann und die anderen weiter auf dem Handy improvisieren, kann man das ja im Unterricht nicht wirklich richtig nutzen.“ Also produziert das Kollegium weiter Videos, verschickt Lernpläne über Kiks Chat. Die Schüler schauen sich die verschickten Bilder und PDF-Dateien an. Sie schreiben die Aufgaben in ihre Heft, fotografieren sie und schicken sie an die Lehrer. „Damit bestreiten wir immer noch zwei Drittel des Unterrichts.“

Schulleiter Malm hat deshalb jetzt eine große Initiative gestartet, um mehr Tablets in die Familien zu bringen: Er hat Briefe an die Eltern aufgesetzt, mit einem Appell und mit einer Anleitung, wie die Antragsunterlagen des Jobcenters ausgefüllt werden. Ziel sei, dass die Eltern Unterstützung aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für die Anschaffung eines Tablets beantragen.

Ein Ziel vor Augen

Malm weiß, dass das ein schwieriger Weg ist. Und bei nur einem Sozialarbeiter für eine ganze Schule, ist es eine Sisyphosarbeit, die Eltern vor Ort dabei zu unterstützen, die Anträge zu stellen. Aber er hat ein Ziel vor Augen: „Ich möchte, dass hier in Zukunft jedes Kind ein Tablet zur Verfügung hat. Wie auch immer wir das erreichen.“

Martin Süsterhenn

Schulleiter Martin Süsterhenn: „Es gibt eine Priorisierung, die die Benachteiligten weiter benachteiligt.“

Wenn die Wunschfee käme, dann sieht sich auch Schulleiter Süstermann, wie er dem neuen 5er Jahrgang quasi als neuer Standard ein Tablet übergibt. „Wenn das dabei rausspränge, dann hätte sich das ganze Rufen gelohnt“, meint er. Zumal Schulen wie die seine die Geräte gerade jetzt gut brauchen könnten, um im Wechselunterricht das Versäumte aufzuholen.

Mit Versäumtem meint Süsterhenn nicht einfach Inhalte, die auf dem Lehrplan stehen. „Viele Schüler haben jetzt im zweiten Lockdown monatelang kein Deutsch mehr gesprochen. Bei den Basiskompetenzen wie Leseverständnis, Texte wiedergeben oder etwas Schreiben sehen wir riesige Rückschritte. Mit den Tablets könnte man jeden Schüler jetzt individuell zugeschnitten fördern.“

KStA abonnieren