„Alarmierende Zahlen“Mehr als 55.000 Anzeigen wegen Verdachts auf Kindesgefährdung

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Kindesmissbrauch DPA 260122

Symbolbild

Düsseldorf – Es war der 22. November 2016, an dem der arbeitslose Dauercamper Andreas V. mit seiner sechsjährigen Pflegetochter Mandy (Name geändert) im Jobcenter Lippe aufschlug. Der 53-jährige wollte Hartz IV-Bezüge beantragen. Das Mädchen in seiner Begleitung wirkte verwahrlost, die Kleidung schmutzig. Im Laufe des Gesprächs brach es aus der Schülerin heraus. Nie mehr wolle sie zu den stinkenden Männern zurück. Ach ja, Mandy hasse den Geruch von Männern halt, versuchte V. die Situation im Jobcenter zu entschärfen. Und machte es immer schlimmere. Mandy mache ihn „heiß“, wolle kuscheln, und dann doch nicht. Frauen seien eben komisch. Für Süßigkeiten allerdings würde die Kleine alles machen.

Bei der Sachbearbeiterin schrillten alle Alarmglocken. Außer der Polizei und dem Jugendamt im westfälischen Lippe informierte sie die ebenfalls zuständige Jugendbehörde in Hameln-Pyrmont. Der Warnhinweis auf sexuellen Missbrauch eines kleinen Mädchens an die Behörden jedoch verpuffte wirkungslos. Kaum nachvollziehbar, aber die Verantwortlichen reagierten nicht.

Obwohl V. bei Hausbesuchen gegenüber den Jugendamtsmitarbeiterinnen sogar einräumte, er würde mit dem Mädchen in einem Bett schlafen, behielt er die Pflegschaft. Es sollten noch zwei Jahre vergehen, ehe Addi V. verhaftet und Mandy aus ihrem Martyrium auf dem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde befreit wurde.

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Schwerer Missbrauch in mehr als 200 Fällen

Im September 2019 verurteilte des Landgericht Detmold den Pflegevater zu 13 Jahren Haft wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in mehr als 200 Fällen. Das monströse Verbrechen in Lügde schlug bundesweit hohe Wellen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss durchleuchtete anschließend das offenkundige und groteske Versagen der Jugendämter. Jahrzehntelang hatten V. und ein Komplize vor den Augen der Behörden dutzende Mädchen und Jungen missbraucht. Obwohl es schon zuvor Trotz mehrere Hinweise auf sexuell übergriffiges Verhalten gab, wurde V. die Pflegschaft für Mandy übertragen.

Auf dem Campingplatz in Lügde waren Kinder für Pornodrehs missbraucht worden.

Auf dem Campingplatz in Lügde waren Kinder für Pornodrehs missbraucht worden.

Schlimmer geht es kaum: Mindestens vier Mal habe die Behörde anschließend noch Hinweise auf die mangelnde Eignung des Pflegevaters sowie mögliche Pädophilie erhalten, heißt es in einem vom Landkreis in Auftrag gegebenen Untersuchungsbericht. Auch Hinweise auf den Kontakt des Pflegevaters zu weiteren Mädchen sind nicht angemessen aufgegriffen worden.

Dramatischer Anstieg der Verdachtsfälle

Es sind solche Fälle unvorstellbaren Versagens, die die für die Öffentlichkeit meist lautlos ablaufenden Arbeit der nordrhein-westfälischen Jugendämter in den Mittelpunkt des Interesses zerren. Die die Aufmerksamkeit in den Behörden vielleicht noch einmal schärfen, bei der schwierigen Aufgabe, das Kindeswohl im Einzelfall seriös zu beurteilen. In Lügde wäre die Antwort einfach und zwingend gewesen. Die Frage aber, ob ein Kind in einer Familie bleiben soll oder eben nicht, kann oft zu einer Gradwanderung werden.

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Armut kann einsam machen

Über 55.000 Mal hatten die Jugendämter in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr einen Fall zu prüfen, bei dem der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung im Raum stand. Wie das Statistische Landesamt am Dienstag berichtete, sind das 1,9 Prozent mehr als im Jahr zuvor (2020: 54.347 Fälle). Im Fünf-Jahres-Vergleich beträgt die Steigerung sogar dramatische 40 Prozent (2017: 39.478 Fälle).

Bei einem Viertel der Fälle Kindeswohlgefährdung festgestellt

In rund einem Viertel der Verfahren wurde 2022 eine akute beziehungsweise latente Kindeswohlgefährdung festgestellt, was im Vergleich zu 2017 einen Anstieg von 30,4 Prozent bedeutet. „Bei der latenten Gefährdung konnte die Frage, ob gegenwärtig eine Gefahr besteht, zwar nicht eindeutig beantwortet, eine Kindeswohlgefährdung jedoch nicht ausgeschlossen werden“, teilt das Landesamt mit. In gut einem Drittel aller Fälle sei zwar keine Kindeswohlgefährdung, jedoch ein Hilfebedarf festgestellt worden.

„Diese Zahlen sind alarmierend“, sagt Jochen Ott, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag. „Zwar deuten sie einerseits auf ein deutlich gewachsenes Problembewusstsein hin, was grundsätzlich positiv ist.“ Auf der anderen Seite indes komme es wohl immer häufiger zu Verstößen gegen das Kindeswohl. „Möglicherweise sind hier auch die Auswirkungen der Pandemie ablesbar, die zahlreiche Familien zusätzlich unter Stress gesetzt hat“, so Ott.

SPD fordert einen Bildungslotsen für jedes Kind in NRW

Vor allem gelte es jetzt aber, die betroffenen Kinder umfassend zu betreuen. „Dazu brauchen wir dringend mehr Personal in den Allgemeinen Sozialen Diensten“, betont der SPD-Politiker. Die Landesregierung müsse deshalb „eine Fachkräfte-Offensive auf den Weg bringen“: „Wir fordern neue und speziell auf das Berufsbild zugeschnittene Studiengänge, die für zusätzliches Personal sorgen.“

jochen ott

Jochen Ott

Da auch immer mehr Fälle offensichtlich werden, bei denen zwar keine akute Kindeswohlgefährdung, aber ein Hilfebedarf bestehe, müssten „durch den Ausbau kommunaler Präventionsketten weitere Unterstützungsangebote gemacht werden“. Ott’s Vorschlag: Familienbüros in den Wohn-Quartieren, Familienzentren an Grundschulen sowie Bildungslotsen, die sich um jedes einzelne in NRW geborene Kind ab der Geburt kümmern und es dabei unterstützen, sein volles Potenzial auszuschöpfen.

1257 Kinder in Köln aus ihren Familien genommen

In Köln gab es im vergangenen Jahr 3948 Meldungen wegen des Verdachts der Kindeswohlgefährdung, was jedoch keine wesentliche Steigerung im Vergleich zu den Jahren zuvor bedeutete.  2021 wurden letztlich 1257 „Inobhutnahmen“ angeordnet, berichtet Renate Schäfer-Sikora, Leiterin der Pädagogischen und Sozialen Dienste in Köln sowie stellvertretende Leiterin des Amtes für Kinder-, Jugend und Familie: „Das heißt, unsere Fachkräfte haben bei einem Hausbesuch entschieden, die betroffenen Kinder sofort aus den Familien zu holen, weil eine akute Gefährdung bestand."

Die Gründe dafür seien vielfältig gewesen. „Verwahrlosung beispielsweiise, Misshandlungen, Drogensucht oder aber oft auch Gewalt der Eltern untereinander, denn das ist auch eine Form von Kindeswohlgefährdung", so Schäfer-Sikora. Bevor ein Kind bei einer sogenannten Bereitschaftsfamilie oder in einer Einrichtung untergebracht werde, würde meist auch gemeinsam mit den Eltern überlegt, ob es im famiiären oder sozialen Umfeld eine Person gibt, die sich vorübergehend kümmern könnte.

Familiengericht muss Inobhutnahme prüfen

Sofort nach der Herausnahme von Kindern aus ihren Familien, muss das Jugendamt das Familiengericht informieren, das dann zügig die Rechtmäßigkeit der Maßnahme überprüfen muss. „Es ist immer ganz wichtig, das zu sagen, weil wir agieren nicht im rechtsfreien Raum“, betont die stellvertretende Jugendamtsleiterin. Dass die Fallzahlen in NRW so drastisch gestiegen sind, habe womöglich mit den spektakulären Fällen wie in Lügde zu tun, durch die „die Leute noch einmal aufmerksamer geworden sind und auch die Mitarbeitenden beipeislweise in Schulen, in Krankenhäusern oder in Kindertagesstätten sich häufiger trauen, einen Verdacht zu melden."

In Köln gebe es mit solchen Einrichtungen schon seit Jahren feste Kooperationsvereinbarungen. „Die Verantwortlichen dort wissen ganz genau, an wen sie sich in einem solchen Fall wenden können, die haben dabei meist sogar ein konkretes Gesicht vor Augen“, so Schäfer-Sikora. Zudem gebe es einen speziellen Kinderschutzdienst, der rund um die Uhr unter der Rufnummer 0221/90999 zu erreichen sei und im Notfall sofort vor Ort fahre. Um dieses Angebot aufrecht erhalten zu können, gebe es 45 Vollzeitstellen. Zudem stünden dem Kölner Jugendamt noch weitere 220 Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst zur Verfügung, der Hilfsangebote für Familien mit Kindern anbietet. „Eigentlich“", ergänzt die Vizechefin: „Leider aber sind etwa zehn Prozent der Stellen unbesetzt, weil es bundesweit zu wenig sozialpädagogische Fachkräfte gibt, die den Job machen könnten."

Die neue NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) betont ebenfalls die Bedeutung, Verdachtsfälle  bei den  Behörden zu melden: „Für uns ist jeder Fall von Kindeswohlgefährdung einer zu viel. Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, bei Verdachtsfällen hinzusehen und zu handeln“, so die Ministerin. 

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