AusgespähtWie ein Kioskbesitzer erfuhr, dass der NSU ihn ermorden wollte

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Kerim Demir in seinem Kiosk. Seit er weiß, dass er vom NSU beobachtet wurde, wechselt er alle fünf Jahre den Standort.

Dortmund – Ich habe mich oft gefragt: Warum gerade ich? Ich habe ja nichts gemacht. Meine Herkunft, das ist der einzige Grund. Aber das kann ich nicht ändern. Man kommt halt irgendwo her. Aber dass das der Grund ist, warum du umgebracht werden sollst – das ist mehr Belastung, als eine menschliche Seele verträgt.

10. Januar 2012, ein Dienstag. Kerim Demir ist allein zu Hause, als die Polizisten klingeln. Zwei Kriminalkommissare, einer vom Bundeskriminalamt, einer vom Polizeipräsidium Dortmund. Er weiß nicht, worum es geht. Er bittet sie herein.

Ob er etwas gesehen habe, fragen sie ihn, damals, 2006, als Mehmet Kubasik getötet wurde, hinter dem Tresen seines Kiosks, mit zwei Kopfschüssen, 5,3 Kilometer entfernt von Demirs damaligem Geschäft.

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Nein, sagt Demir, ebenfalls Kioskbesitzer, Ehemann und Vater eines Sohnes und einer Tochter dazu. Nichts gesehen. Warum fragen Sie?

Weil da auch ein Kreuz an seiner Adresse war. Auf dem Dortmunder Stadtplan, den die Polizei in Zwickau fand, in den Überresten der Wohnung an der Frühlingsstraße 26. Im Brandschutt des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU).

Dreieinhalb Jahre lang lebten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe dort, nachdem sie neun Morde an Menschen mit Migrationshintergrund, einen an einer Polizistin und drei Sprengstoffanschläge begangen hatten. In den Trümmern ihrer Schattenexistenz fanden die Beamten handgeschriebene Notizen über mögliche Anschlagsziele, mögliche Mordopfer in verschiedenen Städten. Kerim Demir, das erfährt er nun, sechs Jahre später, war eines davon. 

Ausstellung in Köln

Das Projekt „Menschen – Im Fadenkreuz des rechten Terrors“ ist eine Kooperation von elf Regionalmedien, darunter der „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Zusammenarbeit mit dem „Weißen Ring e.V.“, unter der Leitung des gemeinnützigen Recherchezentrums „Correctiv“.

Das Herzstück des Projekts sind die Porträts von 57 Menschen, die auf sogenannten „Feindeslisten“ von Neonazis und Rechtsextremisten stehen oder standen. Sie werden in einer Wanderausstellung gezeigt, die vom heutigen Dienstag, 20. Juli, bis zum Freitag, 23. Juli, täglich von 11 bis 18 Uhr auf dem Kölner Ebertplatz zu sehen ist.

Außerdem erscheint am 29. Juli ein gleichnamiges Buch. Auch daran hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ mitgearbeitet. Es enthält neben den Porträts auch Recherchen zum Ausmaß und zur Komplexität des rechten Terrors in der Bundesrepublik.

Keine Bange, sagen die Polizisten, wir sind ja jetzt da. Dann gehen sie wieder. In ihre Ermittlungsakte werden sie später über Demir schreiben: „Er wirkte leicht verunsichert“ und „Nach der erfolgten Ansprache bedankte er sich und gab er an, dass er sich nun beruhigt fühle“.

Herr Demirs Sohn kommt von der Schule nach Hause. Wer, fragt er, waren diese Männer? Sein Vater wird es ihm erst Jahre später sagen.

Das ist die Erinnerung von Kerim Demir an den 10. Januar 2012. Sie deckt sich mit internen Unterlagen, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ in einer gemeinsamen Recherche mit „Correctiv“ einsehen konnte.

Nach dem einen Besuch von der Polizei gab es keinen Kontakt mehr. Keine Telefonnummern oder Adressen, wo ich mich melden könnte, wenn ich mir Sorgen mache. Ich dachte, die hätten mich vergessen. Das war also der Schutz des Bundeskriminalamts. Zehn Minuten, und dann kannst du allein damit fertig werden.

Neun Jahre danach, ein Mittwoch im Juli 2021, irgendwo im Dortmunder Norden. Sonnenstrahlen quetschen sich an den Schnapsflaschen im Schaufenster vorbei, zerlaufen auf dem Fliesenboden. Herr Demir steht hinter dem Tresen seines Kiosks. Es ist mittlerweile der vierte, seit sie ihm gesagt haben, dass die gefährlichste rechte Terrorzelle in der deutschen Nachkriegsgeschichte überlegt habe, ihn umzubringen. Ein Euro und fünfzig Cent bitte, sagt Herr Demir. Der Junge lacht. Münzgeklirr. Er nimmt das Eis, Schoko und Haselnuss, und rennt hinaus, bis auch die zwei Überwachungskameras ihn nicht mehr sehen. Wie müde Käfer hängen sie an der Decke, auf einem Bildschirm hinter den Lollipops kann Herr Demir beobachten, was sie gerade filmen.

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Demir in einem seiner Lagerräume.

Manchmal, sagt er, schaut auch seine Frau zu, von zu Hause. Die Bilder werden live in das Einfamilienhaus der Demirs übertragen. Sie guckt oft abends, sagt Herr Demir. Nicht weil sie mich kontrollieren will. Sondern, weil sie Angst hat. Sie sieht dann: Herr Demir, wie er Erwachsenen Zigaretten, Bier, die „Freizeit Revue“ verkauft, Kindern Limonade und Bonbons.

Zum Glück nur das.

Kerim Demir ist ein Mann mit weicher Stimme und grauem Haar. Noch immer, sagt er, habe er Alpträume. Die türkische Armee, wie sie in das kleine kurdische Dorf kommt, in dem er aufgewachsen ist. Provinz Tunceli, die Kurden nennen sie Dersim, Ostanatolien. Berge reihen sich hier aneinander wie gute Freunde für ein Foto, tauchen ihre Füße ins Grün. Demir sagt, er träumt davon, wie sie ihn foltern, wie sie ihn erschießen wollen.

1993 flüchtet er nach Deutschland, am 24. November kommt er an, mit 26 Jahren. Die neue Heimat ist jetzt Dortmund, ein graues Mehrfamilienhaus an einer Hauptstraße. Verwandte helfen ihm und seiner Frau anzukommen, Anträge zu stellen. Demir macht einen Sprachkurs. Die Lehrerin will, dass er studiert, ihm fehlt das Geld. Sie leihen sich etwas von Bekannten, Freunden, eröffnen 1999 ihren ersten Kiosk. Sie wollen arbeiten. Sich ein neues Leben bauen. Eines, das sicherer ist als das in der Türkei. Sie bekommen zwei Kinder.So erzählt Demir ihre Geschichte.

Dann findet am 4. April 2006 eine Kundin Mehmet Kubasik in einer Blutlache.

Und Kerim Demir fürchtet wieder um sein Leben.

Ich war auf der Beerdigung von Mehmet. Aus Solidarität, wir kannten uns nur flüchtig. Aber gut genug, dass ich wusste: Der hat nichts mit Waffenhandel oder Schwarzgeschäften zu tun, wie das die Polizei damals behauptet hat. Der war harmlos. Damals, nachdem er erschossen wurde, nachdem in ganz Deutschland immer wieder türkische Ladenbesitzer erschossen wurden, da dachten wir alle: Das sind Neonazis. Bei jedem Kunden, den ich nicht kannte, hatte ich Angst. Vielleicht ist der das. Vielleicht zieht der jetzt eine Waffe. Ich habe überlegt: Was machst du dann? Aber du kannst nichts machen. So schnell kannst du nicht wegrennen oder Hilfe holen. Ich habe meinen Kiosk dann zwei Stunden später geöffnet, eine Stunde früher zugemacht. In der Dunkelheit wollte ich da nicht alleine sein.

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„Gutes Objekt, guter Weg von dort weg!!! Personal ist nicht optimal – vorher noch mal prüfen“ steht auf einer ausgedruckten Adressliste, die die Polizei ebenfalls in der  zerstörten NSU-Wohnung fand. Gemeint ist Demirs Kiosk. Aber das sagen die Kommissare ihm am 10. Januar 2012 nicht. „Verfahrensinternas, wie der Umstand, dass es sich bei den Unterlagen um Karten bzw. Listen mit Ausspähnotizen etc. handelt, wurden explizit nicht dargelegt“ steht in der Ermittlungsakte. Warum, das steht dort nicht.

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Zwei Überwachungskameras hängen in Demirs Kiosk an der Decke.

Die Kommissare sagen Demir auch nicht, dass es neben dem Stadtplan mit dem Kreuz eine weitere Karte von Dortmund gab. Ausgedruckt aus einer Routenplanungssoftware. Auch auf ihr ist Demirs Kiosk markiert. Darüber steht eine Notiz, handgeschrieben: „Wohngebiet wie in Mühlheim Köln“. Der Ort, an dem der NSU am 9. Juni 2004 einen Nagelbombenanschlag verübte, bei dem 22 Menschen verletzt wurden. Vier davon schwer.

Hätte er das damals alles gewusst, hätten sie ihm das damals alles mitgeteilt, sagt Demir heute, er hätte seinen Kiosk zugemacht. Sofort. Dass nichts passiert ist, ist gut, sagt Demir. Aber es hätte auch anders laufen können.

Ich hasse diese Leute nicht. Ich finde es schade, eigentlich muss man Mitleid mit ihnen haben. Dass die mit anderen Menschen, anderen Kulturen nicht zusammenleben können. Schade. Wirklich schade. Aber ich habe Angst vor diesen Leuten. Sie sind unberechenbar. Du kannst nicht einschätzen, wann und wie es passiert.

Neulich, erzählt Demir, kam ein Kunde in seinen Laden und wollte seine Maske nicht aufziehen. Er hat ihn freundlich gebeten. Der Mann hat sich geweigert, ein Bier gekauft und dann zu ihm gesagt: „Verpiss dich dahin, wo du herkommst.“

Wenn du das hörst, nach all den Jahren, bist du immer noch nicht in Deutschland als Mensch anerkannt. Das Gefühl bekommst du. Dabei habe ich einen deutschen Pass. Meine Frau und ich zahlen unsere Steuern. Mein Sohn geht studieren, meine Tochter aufs Gymnasium. Ich denke manchmal,  ich bin ein besserer Deutscher als so ein Typ.

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Schnapsflaschen im Schaufenster.

Demir sagt, er habe den ganzen NSU-Prozess verfolgt. Seine Frau und er hatten noch ein paar Jahre lang Angst. Davor,  dass es da noch jemanden gibt, der außer Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die Listen kennt. Der weitermacht, wo sie aufgehört haben. Aber irgendwann ging die Angst vorbei. Wann, weiß er gar nicht mehr genau.

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Herr Demir wollte auch mit seinem echten Namen und seinem Gesicht in diesem Text stehen. Wir entschieden uns dagegen, um ihn zu schützen.

Seiner Tochter, sagt Herr Demir, hat er  erst vor ein paar Monaten  erzählt, was passiert ist. Sie will jetzt Kriminalkommissarin werden.

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