„Einzigartige Erfahrung“Historiker erklärt, wie wir in 100 Jahren auf 2020 schauen
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Särge im italienischen Bergamo, das von der Corona-Krise besonders betroffen war
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Corona war das prägende Thema des Jahres. Wie wird man in 100 Jahren auf dieses Jahr schauen? Ist beispielsweise die Abwahl von Donald Trump dann nicht mehr als eine Fußnote?
Im ausführlichen Interview haben wir mit dem Historiker Andreas Rödder darüber gesprochen, wie sich die Gesellschaft in diesem Jahr verändert hat - und was davon dauerhaft bleiben wird.
Herr Rödder, wie wird man das Jahr 2020 mit großem historischem Abstand sehen?Andreas Rödder: Das Jahr 2020 wird auch in den Augen der Historiker das Jahr der Corona-Pandemie sein. Die Pandemie, wie wir sie jetzt im globalen Zusammenhang erleben, ist nur mit der Pest im mittleren 14. Jahrhundert zu vergleichen – auch wenn die akute Sterblichkeit heute zum Glück geringer ist. Dafür übertrifft die Geschwindigkeit der globalen Verbreitung von Corona alle früheren Epidemien. Corona hat das Jahr 2020 aus der Kurve aller vorherigen Erwartungen getragen.
Viele verweisen darauf, die Spanische Grippe sei ähnlich schlimm gewesen.
Die Spanische Grippe war von den Todeszahlen her betrachtet verheerend, ist aber in der Nachschau tatsächlich nie zum historisch prägenden Ereignis geworden, weil sie mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zusammengefallen ist. Bei Corona korreliert übrigens bisher historisch einmalig die rasante Verbreitung des Virus mit der Verbreitung der Information durch die modernen Informationskanäle, insbesondere die sozialen Medien.
Es gibt zahlreiche Einschränkungen des öffentlichen und auch privaten Lebens durch Corona. Wie prägt die Pandemie unsere Gesellschaft?
Corona hat das gesamte Bewegungsgesetz der Moderne außer Kraft gesetzt. Wenn Sie zum Beispiel bedenken, dass selbst der Zweite Weltkrieg die Berliner Philharmoniker nicht daran gehindert hat zu spielen, sehen Sie: Einen solchen Stillstand der Dynamik des öffentlichen Lebens hat es seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert nie gegeben. Das ist eine einzigartige Erfahrung. Wenn man Anfang des Jahres über einen Lockdown, wie wir ihn jetzt erleben gesprochen hätte, hätten alle gesagt: Das geht doch gar nicht.
Hat sich in diesem Jahr grundsätzlich etwas am Verhältnis von Menschen und Staat verändert?
Was das Verhältnis von Bürger und Staat angeht, haben wir es mit gegenläufigen Entwicklungen zu tun. Politik hat in der Zeit der Pandemie weltweit durchregiert wie sonst nur im Krieg. Auf gesellschaftlicher Ebene haben wir einerseits ein Verlangen nach dem starken Staat, teils sogar nach autoritären Übertreibungen gespürt. Auf der anderen Seite regt sich ein Widerstand gegen die Pandemie-Politik, der oft ins Überrationale übersteigert ist – und das in ganz ungewöhnlichen gesellschaftlichen Koalitionen.
Das müssen Sie genauer erklären.
Die Querdenker-Bewegung ist soziologisch ein hochinteressantes Biotop. Gerade im Südwesten Deutschlands können Sie beobachten, dass Anthroposophen und Impfgegner, die zuletzt in hoher Zahl die Grünen gewählt haben, plötzlich an der Seite von Rechten demonstrieren. Hier sind also Unterströmungen der Gesellschaft in Bewegung, die viel komplexer sind, als die einfache Aufteilung der Gesellschaft in Covidioten und Befürworter der Corona-Politik das manchmal scheinen lässt.
Sehen Sie durch die Corona-Erfahrung einen dauerhaften, die Welt und die deutsche Gesellschaft verändernden Schub für die Digitalisierung?
Die Digitalisierung verändert unser Leben gerade in einer Art, von der vieles dauerhaft bleiben wird. Videokonferenzen werden auch künftig Teil unseres Alltagslebens sein. Einige sagen: Die Menschen werden nach der Pandemie ganz schnell in die Normalität zurückkehren. Ich meine: Es wird nach der Krise eine neue Normalität geben.
Verändert sich die Arbeitswelt damit auch in Sachen Homeoffice permanent?
Ja. Die Erfahrungen, die wir in der Pandemie gemacht haben, bleiben. Das heißt: Es werden nach der Pandemie mehr Menschen zumindest gelegentlich im Homeoffice arbeiten als vorher. Die Menschen werden auch bei anderen beruflichen Terminen, zum Beispiel Konferenzen, sehr viel genauer darüber nachdenken, ob man das noch persönlich machen muss oder sich einfach per Video dazu schaltet. Da wird sich viel ändern, aber auch nicht alles – auch hier werden wir es immer wieder mit Gegenbewegungen zu tun bekommen.
Warum?
Der Bildschirm ist die neue gläserne Decke. Durch diese gläserne Decke hindurch baut man keine sozialen Beziehungen auf. Kommunikation lässt sich mittels Video und Internet nie vollständig abbilden. Der Bedarf nach persönlicher Begegnung wird bleiben – aber es wird stärker abgewogen werden, wo er nötig ist und wo nicht. Wir werden so zu einer neuen Form von abgestuften sozialen Beziehungen kommen. Das ist so, als würde man für die Gesellschaft einen Restart-Knopf drücken.
Übertreiben Sie da nicht?
Ich denke nein. Online verwalten wir in aller Regel bestehende Kontakte, es kommen aber kaum neue dazu. Durch den Bildschirm lernen wir niemanden kennen. Die neue Macht der Videokonferenz verändert also die Gesellschaft. Gleichzeitig werden die Menschen natürlich nach Möglichkeiten suchen, auch ihr Bedürfnis nach Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zu leben. Wir werden vielleicht so gar lernen, das wirklich Persönliche besser zu schätzen.
Wird man die Präsidentschaft des nun abgewählten Donald Trump im Nachhinein eher als Betriebsunfall sehen – oder hat sich durch sie in den USA und der Welt dauerhaft etwas verändert?
Die Präsidentschaft Donald Trumps wird, auch wenn er nicht ein zweites Mal gewählt wurde, ein großer Einschnitt in der Geschichte bleiben. Im glücklichsten Fall ist sie ein Warnschuss gewesen. Und zwar ein doppelter.
Nämlich?
Trumps Präsidentschaft hätte vielleicht noch etwas Positives, wenn sie als Warnschuss innerhalb der Vereinigten Staaten verstanden würde. Ein Warnschuss, der klar gemacht hat, dass sich die Gesellschaft stark in global orientierte Menschen vor allem in dem Metropolen und die vor allem auf dem Land verwurzelten Menschen gespalten hat – und dass man diese Spaltung nicht noch dadurch vertiefen darf, dass man diese Menschen als „Beklagenswerte“ abwertet, wie es Hillary Clinton getan hat. Dann darf man sich nicht wundern, wenn sie Trump wählen.
Andreas Rödder
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Und der zweite Schuss?
Ein Warnschuss an die Europäer, dass sie sich nicht darauf verlassen dürfen, dass die USA etwa militärisch alle Arbeit für sie übernehmen. Auch wir müssen einen fairen Beitrag in die transatlantische Partnerschaft einbringen. Die Wahl Bidens bietet die einmalige Chance für einen Neustart der transatlantischen Beziehungen – und es liegt an den Europäern, sie tatkräftig zu nutzen. Europa braucht eine Strategie und muss mehr tun, und Deutschland vorneweg.
Zum Schluss noch ein kurzer Blick in die deutsche Innenpolitik: Verändert sich unser Parteiensystem durch die immer stärkeren Grünen gerade dauerhaft?
Das ist nicht sicher. Es gibt in der Historie solche Übergänge, bei denen die eine Partei die andere ablöst, so wie die Labour-Party einst die Liberalen in Großbritannien als zweitstärkste Partei abgelöst haben. Das könnte den Grünen auch mit der SPD gelingen. Andererseits sitzen sie zurzeit noch als kleinste Fraktion im Bundestag. Die Grünen nennen Nachhaltigkeit ihr Thema. Ob ihr Aufwärtstrend nachhaltig ist, muss sich erst noch zeigen.
Werden Historiker in 2020 später womöglich das Jahr sehen, in dem die Welt wegen Corona die größere Herausforderung, nämlich den Kampf gegen den Klimawandel, aus den Augen verloren hat?
Das hängt im Wesentlichen davon ab, wie die Klimakrise weiter verläuft. Ich habe aber derzeit auch gar nicht den Eindruck, dass plötzlich alle das Klima-Thema vergessen haben. Es ist auch in der Pandemie in der Debatte präsent, etwa wenn wir über den Trend eines Rückgangs von Reisen – nicht nur, aber auch durch die Möglichkeiten der Digitalisierung – sprechen. Das Meinungsklima hat sich in der Klimadebatte kaum verändert.