Interview mit Jens Spahn„Wir kennen jetzt die Gefahr“

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Gesundheitsminister Jens Spahn

  • Gesundheitsminister Jens Spahn erklärt im Interview, wie sich die Regierung auf eine vierte Welle vorbereitet, warum er ein Klimabudget für sein Ressort fordert und wie er mit Vorwürfen wegen Schlamperei und Geldverschwendung umgeht.

Der Vorwurf im vergangenen Jahr lautete: Im Sommer wurde nicht genug getan, sich auf die nächste Welle vorzubereiten. Was tut der Gesundheitsminister in diesem Sommer? Jens Spahn: Die Situation ist nicht zu vergleichen. Wir haben inzwischen sehr viel mehr Möglichkeiten, uns vor dem Virus zu schützen. Testen, Impfen – das gab es so vor einem Jahr noch nicht. Und im vergangenen Sommer hatten wir tatsächlich nicht so schnell wieder damit gerechnet, dass Reiserückkehrer das Virus so häufig nach Deutschland bringen, nachdem die Inzidenzen in Europa sehr niedrig waren.

Jetzt sind Sie schlauer?

Wir kennen die Gefahr. Wir wissen, dass es eine vierte Welle geben kann, wenn wir nicht aufpassen. Deshalb habe ich mich mit den Gesundheitsministern der Länder geeinigt, dass wir die Quarantäne- und Testpflichten auf jeden Fall bis zum Ende des Sommers verlängern werden. Auch das kostenlose Testangebot soll über den Sommer aufrechterhalten werden.

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Und die nächste Welle?

Das Robert Koch-Institut erarbeitet zurzeit Vorschläge, wie wir uns auf den nächsten Herbst und Winter vorbereiten. Dann bringen wir ein gutes Dutzend Expertinnen und Experten aller Fachrichtungen an einen Tisch und werden im Juli intensiv darüber sprechen, wie wir uns auf eine mögliche nächste Welle ab dem Herbst vorbereiten.

Aktuell setzt sich die Delta-Variante in Europa durch. Wie groß ist Ihre Sorge, dass sie uns im Herbst die vierte Welle bringt?

Niedrige Infektionszahlen sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass diese Variante möglichst wenig anrichten kann. Die Frage ist nicht, ob Delta die dominante Variante wird, sondern wann und in welcher Situation wir uns dann befinden werden. In nur einer Woche hat sich der Anteil der Variante an allen Infektionen von 2,7 auf 6,3 Prozent mehr als verdoppelt. Um einer nächsten Welle vorzubeugen, ist neben niedrigen Infektionszahlen die Zweitimpfung zentral. Der volle Schutz ist erst nach der zweiten Impfung da.

Haben Sie denn Hinweise, dass die Leute ihre Zweitimpfung schwänzen?

Nein. Aber es wird gerade zu oft nur auf die erfreulich hohe Statistik der Erstimpfung geschaut.

Haben Sie mit diesem Ausmaß an krimineller Energie in der Pandemie gerechnet?

Es ist ja in vielen Bereichen betrogen worden – von den Soforthilfen bis zu den Maskendeals einzelner Bundestagsabgeordneter. Dass einige so schamlos und so dreist die Pandemielage ausnutzen, das hatte ich in der Tat nicht erwartet. Dass es trotzdem so gekommen ist, sagt leider einiges über unsere Gesellschaft und das Verantwortungsgefühl aus.

Ihnen hält der Bundesrechnungshof, grob zusammengefasst, Schlamperei und Verschwendung vor.

Das ist die größte Krise seit Bestehen der Bundesrepublik. In dieser Krise fehlten kurzfristig Dinge zur gesundheitlichen Versorgung und zum Schutz der Bevölkerung. Wenn Sie dann als Gesundheitsminister die Wahl haben, ob in der nächsten Woche Kliniken den Betrieb einstellen, weil sie keine Masken mehr haben, oder ob sie unkonventionell Masken besorgen – da habe ich mich für den unkonventionellen Weg entschieden. Und ja: Es war teuer. Aber keine Masken zu haben wäre uns deutlich teurer zu stehen gekommen. Auf dem Markt herrschte damals eine Wildwestsituation. In einem Jahr wird der Bundesrechnungshof übrigens mit Sicherheit sagen, wir hätten zu viel und zu teuer Impfstoff bestellt. Aber was wäre denn die Alternative? Nun müssen wir die richtigen Lehren ziehen.

Und die wären?

Mehr Vorsorge. Wir müssen uns schon jetzt ganz praktisch auf die nächste Pandemie vorbereiten. Das ist eine Investition wie in den Militärhaushalt. Wir haben die Bundeswehr als Sicherheitsvorsorge für den Verteidigungsfall, und wir brauchen eine Sicherheitsvorsorge für den Krisenfall einer Pandemie. Löcher stopfen ist jedenfalls teurer als vorsorgen. Wir schreiben jetzt eine jährliche Produktionskapazität für 500 bis 600 Millionen Impfdosen für die nächsten fünf Jahre aus. Dabei müssen sich die Hersteller verpflichten, uns sofort diese Produktionskapazität zur Verfügung zu stellen und diese Anzahl an Dosen zu liefern, wenn wir sie abrufen. Dafür zahlen wir eine Gebühr.

Ist jenseits Ihrer langfristigen Planung auch für den Herbst genügend Impfstoff da – für die Auffrischungen?

Ja. Wir haben für 2021 mehr als 300 Millionen Dosen bestellt. Und die Impfstoffe werden fortlaufend an neue Varianten angepasst.

Der Rechnungshof wirft Ihnen auch vor, Apothekern viel zu hohe Preise für Masken erstattet zu haben. Haben Sie keine Marktanalyse gemacht?

Das war der Marktpreis. Als vor Weihnachten die Entscheidung bei der Ministerpräsidentenkonferenz fiel, 30 Millionen Menschen in Deutschland mit FFP2-Masken zu versorgen, war ungewiss, ob das der Markt überhaupt hergibt. Deshalb mussten wir über den Preis sicherstellen, dass die Bürger in der Apotheke die versprochenen Masken erhalten können. Die Alternative wäre gewesen, die Masken günstiger besorgen zu wollen, dann aber eventuell keine zu bekommen. Darauf, dass der Preis in kurzer Zeit so stark fällt, konnte man nicht setzen. Wir haben dann aber reagiert und die Vergütung gesenkt.

Fürchten Sie einen Untersuchungsausschuss in der nächsten Legislaturperiode zu den Fehlern der Regierung während der Pandemie?

Nein. Ich sage im Nachhinein nicht, dass wir alles richtig entschieden haben. Aber wir haben nach bestem Wissen und Gewissen entschieden. Es wäre doch niemand auf die Idee gekommen, in China nicht zertifizierte FFP2-Masken zu bestellen, wenn es in Europa zertifizierte FFP2-Masken gegeben hätte. Die ganze Welt hat in China gekauft. Manchmal fühle ich mich wie bei der Feuerwehr, die einen Großbrand gelöscht hat und die dann zu hören bekommt, dass dabei Wasser danebengelaufen ist. Am meisten zählt für mich: Wir haben diese Pandemie gemeinsam unter Kontrolle gebracht.

Sehen Sie die Gesundheit der Bevölkerung angesichts der einsetzenden Hitze gefährdet?

Ja. Es gibt in Deutschland seit einigen Jahren im Sommer eine Übersterblichkeit. Das hängt mit der Hitze zusammen. Alleine im vergangenen August waren es nach Schätzungen über 4000 Menschen, die wohl wegen der Hitze gestorben sind. Temperaturen bis zu 40 Grad bedeuten gerade für ältere Menschen eine hohe gesundheitlich Belastung. Und Deutschland hat eine der ältesten Bevölkerungen der Welt.

Das heißt, das Gesundheitsministerium muss nun den Klimawandel stoppen?

Klimaschutz ist Gesundheitsschutz. Als Teil der Bundesregierung stehe ich hinter allen beschlossenen Maßnahmen, den Klimawandel zu bremsen. Aber in meinem Ressort geht es primär um die Anpassung an den Klimawandel. Zur gesundheitlichen Vorbeugung muss in Zeiten der Klimaveränderung und extrem heißer Tage auch der Schutz vor Hitze gehören. Zunächst einmal wollen wir für das Thema das Bewusstsein stärken. Dafür gibt es eine neues Online-Informationsportal Klima-Mensch-Gesundheit bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das heute freigeschaltet wird.

Und praktisch?

Krankenhäuser und Pflegeheime müssen so umgebaut werden, dass die Räume nicht mehr überhitzen können. Diese Debatte werde ich mit den Ländern führen.

Haben Sie dafür auch ein Budget?

Noch habe ich nur ein Budget für die Pandemiebekämpfung. Aber wir werden das Thema anpacken. Zuerst müssen die Länder ihrer Investitionsverantwortung gerecht werden. Aber auch das Gesundheitsressort braucht zukünftig eine Art Klimabudget, um nötige Anpassungen im Gesundheitswesen auf den Weg zu bringen.

Dann zum Unionsprogramm: Wird es ein inhaltlicher Aufbruch?

Wir werden nicht weiter so machen wie bisher, aber auch nicht alles anders. Unser Anspruch ist, nach 16 Jahren Angela Merkel in zwei kurzen Sätzen: Wir wollen den notwendigen Wandel aktiv gestalten und nicht erleiden. Und wir geben diesem Wandel die nötige Sicherheit für die Menschen.

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