Rechtsextreme, Bürgerliche, HippiesVerschwörungsmythen als Kitt der Corona-Demos

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Corona-Leugner Berlin 290820

Demonstranten am 29. August in Berlin

  • Die Bilder von Rechtsextremen auf den Stufen des Reichstags bewegen Deutschland noch immer.
  • Es waren nicht alles Rechte, die am Samstag in Berlin auf die Straße gegangen sind, sondern auch Bürgerliche und Hippies.
  • Was eint all diese Menschen, wo hat die Bewegung der Corona-Demonstranten ihren Ursprung?

Berlin – Dicht gedrängt stehen sie vor dem Brandenburger Tor. Auf einer kleinen Bühne behauptet ein Redner, in Deutschland herrsche eine „Meinungsdiktatur“, die dem Dritten Reich sehr nahekomme. „Die Politik ist nichts weiter als die Unterhaltungsabteilung der Hochfinanz und der Pharmaindustrie“, ruft er. Das Publikum jubelt. Das Publikum: Männer und Frauen, die zum Protest aus ganz Deutschland nach Berlin gereist sind. Manche wirken bürgerlich, andere wie Hippies. Viele haben Kinder dabei. Rechtsextreme und Reichsbürger sind unter ihnen, ein bekannter Holocaustleugner interviewt am Rand Demonstrationsteilnehmer für seinen Youtube-Kanal.

Es geht nicht mehr um links oder rechts. Es geht nur noch um „wir“ gegen „die da oben“. Und um die Überzeugung, dass dunkle Mächte dieses Land und seine Menschen fest im Griff haben. Sie selbst aber, die Querdenker, sind diejenigen, die alles verstanden haben. Nicht erst seit Corona.

Am Anfang war der Impfprotest

Die eingangs beschriebene Szene ist nicht vom vergangenen Wochenende – sie spielte sich bereits vor einem Jahr in der Hauptstadt ab. Rund 2000 Menschen protestierten am 14. September 2019 bei strahlendem Sonnenschein in Berlin gegen die geplante Masernimpfpflicht für Kita- und Schulkinder. Doch die Bilder der bunt gemischten, relativ kleinen Menge aus dem vergangenen Jahr helfen zu verstehen, wie sich die weitaus größeren Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und die Bundesregierung zusammengebraut haben, an denen sich allein am vergangenen Samstag rund 38.000 Menschen in Berlin beteiligt haben.

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Auch dort bot sich ein für viele überraschend buntes Bild. Friedensbanner und Räucherstäbchen neben Reichsfahnen und aggressivem Gebaren. So viel ist klar: Längst nicht alle Demonstranten waren Rechtsextreme, auch wenn Gewalttäter vom rechten Rand das öffentliche Bild dominierten. Doch was eint diese Menschen, die so unterschiedlich wirken? Ist es bloß die legitime Kritik an den weitreichenden Maßnahmen, mit denen Bund und Länder seit Monaten versuchen, der Pandemie Herr zu werden?

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Nein, da ist noch mehr. Es ist der Glaube an Verschwörungserzählungen, der immer mehr Menschen auf die Straße bringt. Dass das Coronavirus harmlos und die Pandemie bloß erfunden sei, ist eine dieser Erzählungen. Dass die Regierenden das Virus gezielt nutzten, um die Bevölkerung zu unterdrücken und die Demokratie abzuschaffen, gehört ebenfalls dazu. Die Psychologin Pia Lamberty sieht solche Verschwörungserzählungen gar als den Kitt der Corona-Demos, der die verschiedensten Gruppen zusammenhält.

Menschen gehen gegen „Zwangsimpfungen“ auf die Straße

Dieses Phänomen ist nicht neu. Bei den Impfprotesten kamen ebenfalls Menschen zusammen, die glauben, dass eine unheilvolle Allianz aus Politik und Pharmakonzernen sie mit „Zwangsimpfungen“ vergiften wolle. Viele, die sich an diesen Protesten beteiligten, sind auch bei den Corona-Protesten an vorderster Front mit dabei. „Wir“ gegen „die da oben“. Wie sehr dieses Weltbild die Proteste prägt, war am vergangenen Samstag weithin sichtbar. Auf dem Transparent zweier Demonstranten stand in groß aufgesprühten Buchstaben „Fake Virus“. „Stoppt den Putsch des Merkel-Regimes gegen unser Grundgesetz“, hatte ein anderer auf sein Plakat geschrieben.

Eine Gruppe von Demonstranten trug Schilder mit sich, auf denen nicht nur Politiker wie Jens Spahn und Angela Merkel, sondern auch der Microsoft-Gründer und Philanthrop Bill Gates und die ZDF-Journalistin Dunja Hayali in Häftlingskleidung abgebildet waren. Darauf der Schriftzug: „Schuldig.“ Politiker, Medien und mächtige Eliten vereint gegen das Volk – diese Vorstellung ist nicht nur unter den Corona-Demonstranten weit verbreitet.

„38 Prozent der Deutschen haben eine Verschwörungsmentalität“

„38 Prozent der Deutschen haben eine mehr oder weniger ausgeprägte Verschwörungsmentalität“, sagt Sozialpsychologin Pia Lamberty, die seit Jahren die Anziehungskraft von Verschwörungstheorien erforscht. Diese Mentalität beinhalte mehr als nur den Glauben an einen bestimmten Mythos. Lamberty beschreibt sie als „ideologische Perspektive auf die Welt“, als „generalisiertes Vorurteil gegenüber »denen da oben«“. Die 38 Prozent hat übrigens die Friedrich-Ebert-Stiftung in einer Studie ermittelt – im Vorjahr, noch vor der Corona-Pandemie.

Weitere Erkenntnisse dieser Studie: Ein Drittel der Deutschen glaubt, dass Politiker nur Marionetten dahinterstehender Mächte sind, jeder Vierte geht davon aus, dass Politiker und Medien unter einer Decke stecken. 18 Prozent der Deutschen, erklärt Lamberty, glaubten außerdem an Verschwörungsberichte über Impfungen. Auch während der Corona-Pandemie hätten bereits Studien den Verschwörungsglauben in Deutschland abgefragt, ergänzt sie: „In der Gesamtschau dieser Studien würde ich sagen, dass ungefähr ein Viertel der Bevölkerung an Verschwörungserzählungen über Corona glaubt.“ Da wirkt die Zahl von rund 38 000 Demonstranten geradezu überschaubar.

Und doch gibt alles zusammen Anlass zur Sorge: Der Glaube an Verschwörungen gehe mit einem Rückzug aus der Demokratie einher, erklärt die Psychologin, „mit einem stärkeren politischen Zynismus und auch mit einer stärkeren Gewaltbereitschaft“. Ein Viertel derer, die eine stärkere Verschwörungsmentalität haben, sei tendenziell gewaltbereit – auch das ist eine Erkenntnis der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nicht jeder, der an Verschwörungen glaubt, greife zu Waffe, „aber wir haben ein Potenzial von relativ vielen Menschen, die in letzter Konsequenz dazu bereit sind, Gewalt zu nutzen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen“.

Auch bei den Demonstrationen am Samstag kam es mehrfach zu Gewalt: Vor der russischen Botschaft griffen Hunderte Demonstranten Polizisten an, widersetzten sich ihrer Festnahme, manche warfen mit Glasflaschen. Später am Tag stürmten Hunderte über Absperrungen vor dem Reichstagsgebäude und postierten sich Flaggen schwenkend und Parolen skandierend auf den Treppen des Parlamentsgebäudes. Auch dort wurden Polizisten angegriffen.

In beiden Fällen waren es vor allem Neonazis und Reichsbürger, die sich versammelt und die Eskalation gesucht haben. Auch ihr Weltbild ist geprägt von wilden Verschwörungserzählungen: Deutschland sei kein souveräner Staat und noch immer von den Alliierten besetzt, die Bundesrepublik bloß eine Firma. Lange wurden Reichsbürger belächelt und als skurrile Spinner abgetan. Bei den Berliner Corona-Protesten konnten sie trotzdem mitlaufen, ohne dass sich Veranstalter oder Mitdemonstranten wahrnehmbar an ihnen und ihren schwarz-weiß-roten Flaggen gestört hätten.

„Rechtsextremisten haben Großveranstaltung gekapert“ 

Verfassungsschützer hatten sich im Vorfeld noch zurückhaltend gegeben, was die Mobilisierung von Rechtsextremisten anbelangt. Eine Dominanz sei nicht erkennbar, hieß es vom Bundesamt für Verfassungsschutz. Nach dem „Sturm“ auf die Reichstagstreppe ist nun ein anderer Eindruck entstanden. Der Präsident des thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Stephan Kramer, hat keine Mühe, beides zusammen zu bringen. „Es gab eine überdurchschnittliche Mobilisierung in der rechtsextremistischen Szene in Thüringen“, sagt er im Nachgang. „Wenn unter den 20.000 Demonstranten 1000 Rechtsextremisten waren, dann ist das natürlich keine Dominanz. Aber die Rechtsextremisten haben mit relativ wenig Einsatz eine Großveranstaltung gekapert und eine Woche lang für Schlagzeilen gesorgt. Sie haben also mit relativ wenig Aufwand viel erreicht.“ Dabei seien die Methoden etwa der Identitären Bewegung längst bekannt: Mit symbolträchtigen Aktionen an symbolträchtigen Orten möglichst viel Aufmerksamkeit zu erhaschen.

In Kreisen der Sicherheitsbehörden herrscht jedenfalls kein Zweifel daran, dass derlei Ereignisse nicht die letzten ihrer Art gewesen sein werden. Der Neonazi-Szene gehe es „immer darum zu zeigen, wie unfähig dieser Staat ist“, sagt Stephan Kramer. „Über dieses stete Herausfordern des Rechtsstaates muss man sich mehr Gedanken machen.“

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