Wüst über neues ÖPNV-Ticket„Die Länder benötigen über drei Milliarden Euro pro Jahr“

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Hendrik Wüst dpa 021121

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU)

Düsseldorf/Berlin – NRW-Ministerpräsident und MPK-Chef Hendrik Wüst erklärt die Länder im Interview bereit zur Beteiligung an Entlastungen, aber nur an „zielgerichteten“ Maßnahmen. Weiter fordert der CDU-Politiker Milliarden für den ÖPNV – und eine einheitliche Maskenpflicht in allen öffentlichen Verkehrsmitteln.

Herr Wüst, wie groß ist Ihre Sorge, dass die Industrie im kommenden Herbst und Winter durch zu hohe Preise und Gasmangel substanziell Schaden erleiden wird?

Wüst: Die Preise sind eine große Herausforderung – insbesondere für die energieintensiven Unternehmen von der Großindustrie bis zur Bäckerei. Selbst wenn die Gasmangellage vermieden werden kann, bleiben die Preise eine enorme Belastung. In vielen Branchen wird sich die Produktion bei diesen Preisen dauerhaft nicht lohnen. Deswegen geht es nicht nur darum, Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sondern auch die Preise in den Blick zu nehmen.

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Die Preise lassen sich ja kaum einfangen. Der Ampelregierung ist das bisher jedenfalls nicht gelungen. Haben Sie einen Vorschlag?

Die in Aussicht gestellte Preisbremse für Strom ist vage. Es ist unklar, wie die sogenannten Zufallsgewinne tatsächlich abgeschöpft werden sollen. Das zeigt: Bei einem wesentlichen Eckpfeiler des Entlastungspakets steht in den Sternen, ob er standhält. Und beim drängenden Thema Gaspreis wurden die Maßnahmen vertagt, da wird erst einmal eine Kommission einberufen.

Wie sieht Ihr Vorschlag aus?

An der Ursache anzusetzen hieße allerdings auch, zusätzliche Erzeugerkapazitäten zu schaffen. Ich bin überrascht, dass die Ampel das Risiko eingeht, den eigentlich schon gesellschaftlich anerkannten Streckbetrieb für Atomkraftwerke jetzt nicht möglich zu machen. Wir sollten in einer solchen Notlage jede Möglichkeit pragmatisch nutzen. In den ganzen letzten Monaten ist weiter Gas verstromt worden und hat die Preise nach oben getrieben. Die Ampel bemüht eine kräftige Krisenrhetorik, zieht aber nicht alle Register.

Die Union fordert über das neue Entlastungspaket hinaus weitere Hilfen für den Mittelstand. Was fordern Sie konkret?

Die so wichtige Entlastung für die Mitte der Gesellschaft über die Absenkung der kalten Progression, die vielen Betrieben zum Beispiel im Handwerk wie Privathaushalten gleichermaßen hilft, wird auf die lange Bank geschoben. Die steuerlichen Entlastungen werden nicht vor Mitte nächsten Jahres wirksam.

Beim Abbau der kalten Progression, bei der Wohngeldreform und beim Nachfolger des 9-Euro-Tickets werden die Länder mitfinanzieren müssen. Sind sie dazu in der Lage?

Die Länder sind selbstverständlich bereit, ihren Teil beizutragen – für die dringend notwendige, zielgerichtete Entlastung der Menschen in unserem Land. Fest steht aber auch: Wer mitbezahlt, muss auch mitreden können. Für Nordrhein-Westfalen schätzen wir aktuell eine zusätzliche Belastung in Höhe von mindestens 3 bis 4 Milliarden Euro.

Wir brauchen deshalb jetzt zügig eine Beratung der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundesregierung. Es kann nicht sein, dass der Bund die Länder an die finanziellen Grenzen bringt oder gar darüber hinaus. Entscheidungen über Nacht, die offenkundig die Befindlichkeiten von einzelnen Parteien der Ampel bedient haben, haben so massive Auswirkungen auf die gesamte Finanzstatik in Deutschland. Es geht um Zielgenauigkeit der Hilfen, nicht ums Prinzip Gießkanne.

Werden die Länder auf jeden Fall einen Nachfolger für das 9-Euro-Ticket mitfinanzieren?

Es ist richtig, die Menschen auch bei den Kosten der Mobilität zu entlasten. Dennoch: In der Verkehrspolitik gibt es jenseits eines 9-Euro-Tickets aktuell noch eine Vielzahl weiterer wichtiger Maßnahmen, die es zu finanzieren gilt – beispielsweise der Ausbau des ÖPNV insbesondere im ländlichen Raum. Viele Menschen haben gar nicht erst die Möglichkeit, mit dem ÖPNV morgens zur Arbeit zu fahren. Die Ampelparteien sollten nicht nur Großstadtpolitik machen, sondern auch an die Menschen im ländlichen Raum denken.

Heißt das, dass die Länder sich nur am Nachfolger des 9-Euro-Tickets beteiligen, wenn der Bund die Regionalisierungsmittel erhöht?

Allein die Energiekostensteigerung verteuert den ÖPNV so drastisch, dass er bei gleicher Leistung aus den bisherigen Regionalisierungsmitteln nicht zu finanzieren ist. Wenn man die Leistungen des ÖPNV weiter ausdehnen will, braucht es allein dafür eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel.

Können Sie eine Größenordnung nennen?

Die Länder benötigen in der aktuellen Situation über 3 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für einen leistungsfähigen ÖPNV. Für einen Nachfolger des 9-Euro-Tickets muss der Bund zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.

Der Bund stellt sich vor, dass für eine Nachfolge des 9-Euro-Tickets die Länder die Hälfte finanzieren…

Der Bund stellt sich vieles vor. Das wäre ein Kompromiss zulasten der Länder. Es geht nicht, dass der Bund einfach mal sagt, die Länder sollen die Hälfte bezahlen, während sie bei den Verhandlungen gar nicht mit am Tisch sitzen. Die Mittel würden uns nachher bei anderen wichtigen ÖPNV-Projekten wie Schnellbussen fehlen.

Zum CDU-Parteitag: Friedrich Merz sagt, die Union sei bereit, das Land zu führen, wenn die Ampelkoalition scheitert. Nun gilt der NRW-Ministerpräsident traditionell als Kanzleroption. Stehen Sie persönlich bereit, das Ruder zu übernehmen?

Diese Frage stellt sich gerade überhaupt nicht. Wir haben übrigens einen starken Oppositionsführer.

Die Frage werden Sie sich also 2025, zur nächsten Bundestagswahl, stellen?

Die Menschen im Land haben gerade nun wirklich andere Sorgen als Personalspekulationen.

Die CDU geht am Freitag in ihren ersten Präsenzparteitag seit 2019 und wählt keinen neuen Parteivorsitzenden. Welches Signal sollte von dem Parteitag ausgehen?

Wir müssen den erfolgreichen Modernisierungskurs der Ära Merkel fortsetzen: wirtschaftlicher Aufschwung, verantwortungsvolles Krisenmanagement und liberale Gesellschaftspolitik auf einem klaren Wertefundament. Das hat diesem Land gutgetan. Diese Erfolge von Angela Merkel setzt die Ampel gerade aufs Spiel.

Angela Merkels Regierungszeit war geprägt von vielen internationalen Krisen. Ihr Grundkompass war dabei immer klar ausgerichtet. Die Union war immer dadurch erfolgreich, dass sie nicht nach links oder rechts geschlingert ist. Wir müssen eine moderne Volkspartei der Mitte bleiben.

Ihre Partei sagt mit Blick auf Putins Angriffskrieg inzwischen selbst, dass es ein Fehler war, sich auf billige Energie aus Russland und in der Friedenspolitik nur auf die Bündnispartner zu verlassen.

Dass wir in der Sicherheitspolitik stärker aufgestellt sein müssen, ist unstrittig. Am lautesten haben diejenigen gefordert, die Bundeswehr kaputtzusparen, die sich heute dafür rühmen, sie wieder angemessen auszustatten.

Schlingert die CDU nach links, wenn sie auf dem Bundesparteitag eine Frauenquote beschließt?

Nein. Wir haben jahrelang versucht, Positionen innerhalb der Partei stärker mit Frauen zu besetzen. Da war die CDU nicht überall erfolgreich genug. Ich unterstütze die stufenweise Einführung der Frauenquote, wie sie Friedrich Merz vorschlägt.

Sie brauchen 501 Stimmen. Es könnte knapp werden.

Wir haben in Nordrhein-Westfalen bereits ein paritätisch besetztes Kabinett und die Listenplätze zur Landtagswahl in Niedersachsen sind ebenfalls hälftig von Frauen wie Männern besetzt. Ich rate allen Delegierten auf dem Parteitag dazu, die Frage zügig und sachlich zu diskutieren. Das Signal muss sein, dass sich die CDU mit den für die Menschen relevanten Fragen der Zeit auseinandersetzt.

Wie stehen Sie zu einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr?

Junge Menschen haben in der Pandemie den höchsten Preis gezahlt. Daher bin ich gegen eine Pflicht, auch weil es verfassungsrechtlich schwierig umzusetzen ist. Nichtsdestotrotz kann ein freiwilliges Gesellschaftsjahr den jungen Menschen neue Perspektiven aufzeigen. Ich plädiere für den Weg der besseren Anreize, zum Beispiel ein Gesellschaftsjahr oder Gesellschaftsmonate bei der Vergabe von Studienplätzen oder eventuellen Rückzahlungen von BaföG zu berücksichtigen. Da haben wir noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Zur Pandemie: Sind die Länder mit dem Infektionsschutzgesetz ausreichend auf den nächsten Corona-Herbst vorbereitet?

Das Infektionsschutzgesetz ist an entscheidender Stelle nicht vollständig. Es gibt keine klare Definition darüber, unter welchen Bedingungen verschärfte Maßnahmen aus Sicht des Bundes notwendig sein werden. Der Bund muss jetzt schnellstmöglich Schwellenwerte zur Einschätzung des Infektionsgeschehens nachliefern.

Die Maskenpflicht im Flugzeug ist aus dem Infektionsschutzgesetz gestrichen. Sollte auch im Fern- und Nahverkehr darauf verzichtet werden?

Nach zwei Jahren Pandemie sollte allen klar sein, dass die Maske einen elementaren Beitrag dazu leistet, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Das Hin und Her der Ampel bei der Maskenpflicht muss beendet werden. Wir brauchen die Maske zumindest vorerst weiterhin in öffentlichen Verkehrsmitteln, weil dort viele Menschen auf engem Raum sind.

Die Länder sollen über die Maskenpflicht im Nahverkehr selbst entscheiden. Braucht es da ein einheitliches Vorgehen?

Unterschiedliche Regelungen sind ein Problem in der Praxis und können zu Vertrauensverlust in der Bevölkerung führen. Ein einheitliches Vorgehen bei der Maskenpflicht in allen Bundesländern ist richtig.

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