Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

MauerfallMigranten im eigenen Land

Lesezeit 15 Minuten

Stephanie Maiwald zog 1999 zum Studium nach Frankfurt (Oder).

Er ist der Vater aller Sätze der deutschen Einheit und hat ihr vielleicht gerade deshalb am meisten geschadet – Willy Brandts berühmtes Diktum: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nicht, dass es der vormalige Kanzler und langjährige SPD-Vorsitzende nicht gut gemeint hätte mit dem Satz, den er am 10. November 1989 auf dem Balkon des Rathauses Schöneberg gesagt haben soll, den er in Wahrheit aber erst später in das Redemanuskript einfügte. Der Satz war in seinem Pathos der Stunde angemessen. Doch er war falsch. Ja, mehr noch: Er wurde zur sich selbst eben nicht erfüllenden Prophezeiung, sondern provozierte ihr Gegenteil. Waren sich die Deutschen in den ersten Monaten nach dem Fall der Mauer noch recht nahe, so wuchs die Entfremdung nach dem formellen Vollzug der Einheit am 3. Oktober 1990 rapide. Die Entfremdung war Ergebnis der Begegnung. Die Nähe war gefährlich geworden. Man sieht dies nicht zuletzt an jenen Menschen, die seit dem 9. November 1989 von West nach Ost übersiedelten, zunächst vereinzelt, dann immer zahlreicher. Sie werden neutral Westdeutsche genannt, kursieren in der wissenschaftlichen Literatur vereinzelt als „West-Ostler“ und mutierten bald zu den böse beleumundeten „Wessis“ mit der Steigerungsform „Besserwessis“. Ganz selten werden die Westdeutschen im Osten als das benannt, was sie tatsächlich sind: Migranten aus einem anderen Land – mit einer in Teilen anderen Geschichte, anderen Sprache und Kultur, anderen Religiosität, anderen Anbindung an die westliche Lebensart, mit einer anderen kollektiven Erinnerung an die Zeit nach 1945. Diese Migranten sind Agenten einer schwierigen Einheit.

Diesen Text von Markus Decker entnahmen wir seinem Buch „Zweite Heimat“, das jüngst erschienen ist. Markus Decker ist Redakteur der DuMont Redaktionsgemeinschaft, die den „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit politischen Texten versorgt.

Westdeutsche im Osten hat es entgegen der herrschenden kollektiven Erinnerung auch schon vor 1989 gegeben. Die Historikerin Andrea Schmelz beziffert sie auf mehr als eine halbe Million allein in den 50er und 60er Jahren. Es waren zu zwei Dritteln heimkehrende Ostdeutsche, vom SED-Regime als „Republikflüchtlinge“ gescholten, und zu einem Drittel „echte“ Westdeutsche. Manche kamen aus politischen Gründen, nicht zuletzt nach dem KPD-Verbot 1956, andere aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen wie der vor allem in den 50er Jahren noch hohen Arbeitslosigkeit. Und es waren keineswegs nur Nobodys, die es in die DDR zog, sondern auch Angehörige der intellektuellen Elite. Der Bekannteste unter ihnen war der Liedermacher Wolf Biermann, der 1953 mit 17 Jahren und voller Überzeugung aus Hamburg nach Ost-Berlin ging und 1976 von der Obrigkeit in den Westen ausgesperrt wurde. Ähnlich verhielt es sich mit Lothar Bisky, der als 18-Jähriger aus Schleswig-Holstein rüberkam, um in der DDR das Abitur zu machen.

Ein anderer interessanter Fall ist Horst Kasner, verstorbener Vater der heutigen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der evangelische Pfarrer übersiedelte 1954, also ein Jahr später als Wolf Biermann, ebenfalls aus der Hansestadt Hamburg in den real existierenden Sozialismus. Dort herrschte Mangel an Geistlichen. Überdies wird Kasner nachgesagt, Sympathie für die DDR gehabt zu haben: Man schimpfte ihn den „roten Kasner“. Auch Karl-Eduard von Schnitzler wäre zu nennen, der so verhasste TV-Propagandist vom „Schwarzen Kanal“, einer politischen Propagandasendung des DDR-Fernsehens. Last, but not least: Inge Viett. Die damalige Terroristin der Roten Armee Fraktion entwand sich der Strafverfolgung in Deutschland West, indem sie 1982 in Deutschland Ost untertauchte – mit Hilfe der Staatssicherheit. Das flog erst nach der Wende auf.

Der DDR waren die überwiegend jungen Übersiedler selbstredend genehm, weil sie den Aderlass in die Gegenrichtung kompensieren halfen, vor allem aber aus ideologischen Motiven. DDR-Zeitungen schrieben mit Blick auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland: „Jetzt stimmen die westdeutschen Jugendlichen mit den Füßen ab.“ Gemeint ist: Sie fliehen vor dem Westmilitär in den Osten. In einem Aufnahmeheim in Röntgenthal bei Berlin fand sich noch im Januar 1990 ein 33-jähriger Dachdecker aus Köln ein und tat kund, er suche in der DDR „’ne Perspektive im menschlichen Bereich“. Ihm gehe der bundesrepublikanische „Scheißladen auf die Nerven“. Der verzweifelte Handwerker ist einer von 300 Gleichgesinnten, die, wie der Soziologe Rudolf Stumberger später herausfand, noch in dem Augenblick Sehnsucht nach der DDR haben, als sie sich aufzulösen beginnt. Das alles kann wiederum nicht darüber hinwegtäuschen, dass die West-Ost-Migranten bereits vor dem Verschwinden der DDR Integrationsschwierigkeiten hatten. Den Rückkehrern haftete der Makel an, auf der anderen Seite der Mauer nicht zurechtgekommen zu sein. Die „echten“ Westdeutschen wurden mit Kopfschütteln betrachtet, weil man sich fragte, warum sie nicht blieben, wo sie waren. Schließlich war der Westen doch golden. Oder nicht?

Neben den Übersiedlern waren da die vielen Westdeutschen, die im Osten, so gut es ging, ihre Verwandten besuchten, und jene Schülergruppen, die für ein paar Tage den zweiten deutschen Staat in Augenschein nahmen. Im Oktober 1990 hatten 52 Prozent der westdeutschen Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren die DDR beziehungsweise Ost-Berlin bereist, knapp ein Viertel davon allerdings maximal zwei Tage. Die meisten Schüler beurteilten das, was sie vor 1989 in der DDR sahen, milde. Sie begegneten Land und Leuten mit Empathie sowie in der falschen Gewissheit, dass sie mit beidem nichts weiter zu tun haben würden. Hinterher wurde der Blick, wie Forscher herausfanden, gnadenloser. Ansichten wurden nachträglich revidiert. Plötzlich erschienen die Ostdeutschen „fast wie kleine Kinder“. Man schämte sich vorangegangener Urteile und urteilte nun umso härter. Mit der deutsch-deutschen Einfühlungsbereitschaft war es spätestens vorüber, als die Einheit erreicht war.

Dies gilt auch für den Blick der Ostdeutschen auf die in ihrem Land nun zahlreicher anzutreffenden Westdeutschen. 2 324 569 Frauen und Männer übersiedelten zwischen 1989 und 2011 von West nach Ost (bei 4 184 903 in die Gegenrichtung). Gerade am Anfang war der Anteil der Rückkehrer sehr hoch. Es kamen weitaus mehr Männer als Frauen und vor allem die mittleren Altersgruppen. Lediglich 13 Prozent waren über 50. Kurzum: Es kamen hauptsächlich Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Medien – Menschen, die im neuen Deutschland Ost gute Jobs fanden und sich besonders gern dort niederließen, wo es ihnen nicht ganz so fremd erschien. Bei vielen von ihnen ist dennoch bis heute ein Fremdheitsgefühl geblieben – ein Fremdheitsgefühl, das auch der Tatsache geschuldet ist, dass ausweislich einer Umfrage von 2012 noch immer über 40 Prozent der Ostdeutschen die Westdeutschen für arrogant, geldgierig und oberflächlich halten. Die Frage ist: Woher kommt das?

Asymmetrische Beziehungskiste

Die anhaltende Distanz hat außer mit einer unterschiedlichen Herkunft und ihren Konsequenzen wesentlich mit den Machtverhältnissen zwischen Ost- und Westdeutschland im Ganzen sowie Ost- und Westdeutschen im Einzelnen zu tun. Die Beziehungskiste war und ist asymmetrisch. Nicht umsonst aber gelten Beziehungen im Privatleben dann als am aussichtsreichsten, wenn sich die Partner ähnlich und gleich stark sind. Davon kann bei der deutsch-deutschen Paarung keine Rede sein.

Die Westdeutschen waren den Ostdeutschen zahlenmäßig überlegen. Knapp 64 Millionen Altbundesrepublikaner trafen auf rund 16 Millionen neue. Das ökonomische Gefälle war gigantisch und kam in der ersten Hälfte der 90er Jahre voll zum Tragen, als es darum ging, die DDR-Wirtschaft zu privatisieren. Bis Mitte 1994 fielen 80 Prozent des von der Treuhandanstalt verwalteten Produktivvermögens an Westdeutsche und nur sechs Prozent an ehemalige DDR-Bürger. Der Rest, nämlich 14 Prozent, fiel ausländischen Investoren zu. Die 45 Treuhanddirektoren kamen ihrerseits zu nahezu hundert Prozent aus dem Westen. Hinzu traten die zahllosen Rückgabeansprüche auf Immobilien, die in Städten wie Kleinmachnow bei Berlin bis zu 80 Prozent erreichten. Mit anderen Worten: Die Westdeutschen teilten die Reste der DDR unter sich auf. Dabei ist die westdeutsche ökonomische Dominanz im Osten in Teilen ungebrochen. So ergab eine Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks in den Großstädten der Region, dass noch 2011 exakt 45 Prozent aller Eigentumswohnungen an Westdeutsche verkauft wurden. In Leipzig betrug der Anteil sogar 61 Prozent (in Erfurt hingegen nur 23 Prozent) – wobei die Westdeutschen eher die neuen oder frisch renovierten Wohnungen erwarben, während die Ostdeutschen auf gebrauchte Ware zurückgriffen. Dass von den 500 Zentralen der großen deutschen Konzerne bis heute 95 Prozent im Westen residieren, versteht sich fast von selbst. Es ist polemisch formuliert und doch richtig: Die Ostdeutschen leben in einem Land, das ihnen mehrheitlich nicht gehört.

Politisch-strukturell sah es nach 1989 ähnlich aus. Ökonomische wie politische Vorherrschaft bedingten sich gegenseitig. Die Deutschen Ost wollten keine Experimente. Schon im Dezember 1989 jubelten sie in Dresden Helmut Kohl, dem „Kanzler der Einheit“ zu. Auf den Transparenten stand nicht mehr: „Wir sind das Volk.“ Darauf stand bekanntlich: „Wir sind ein Volk.“

Ohnehin wirkte die alte Bundesrepublik bis dahin im Ganzen wie ein exportfähiges Modell. Der Westen war ebenso wenig wie der Osten in der Stimmung, etwas auszuprobieren. Er hatte es scheinbar auch nicht nötig. Währungsunion, Einigungsvertrag, Vereinigung – es ging alles Schlag auf Schlag. Und weil das westliche System im Osten etabliert werden sollte, mussten die westdeutschen Eliten ran, allen voran die Juristen: „Leihbeamte“ mit Zulage, Letztere bald für Ostdeutschland wenig schmeichelhaft „Buschzulage“ getauft.

Bereits Ende 1991 kamen in Brandenburg 53 Prozent der Beamten im Höheren Dienst aus den alten Ländern. In der Staatskanzlei waren es sogar 73 Prozent. Lediglich in den Randressorts konnten sich die Ostdeutschen besser behaupten. Auch in diesem Punkt herrscht bis heute Kontinuität.

Selbst da, wo Westdeutsche eine Anpassung des DDR-Systems an eigene Gepflogenheiten am allerwenigsten vermuten würden, bei den Kirchen, blieb kein Stein auf dem anderen. Der ehemalige evangelische Superintendent von Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), Christoph Magirius, beklagte, dass alles eins zu eins übernommen worden sei, was aus dem Westen kam: Kirchensteuer, Religionsunterricht in Schulen, Militärseelsorge. „Es wäre ein Trugschluss zu glauben, die Wessis brachten einiges mit“, ärgert sich der Kirchenmann. „Sie brachten alles mit.“

Zu der strukturellen Überlegenheit in beinahe allen Bereichen des öffentlichen Lebens gesellte sich ein geistiges Dominanzgefühl West. Der aus Düsseldorf stammende Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer hat herausgearbeitet, was das bedeutet. So attestiert er der westdeutschen Gesellschaft eine mentale Abkehr vom Erbe des Nationalsozialismus. Diese sei spätestens seit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1985 im Bundestag „unbestrittener Teil des öffentlichen Selbstverständnisses“. Parallel zur Läuterung im Westen sei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen des Warschauer Pakts die Attraktivität des real existierenden Sozialismus allmählich gesunken. Auch die westdeutsche Linke verstand sich mehr und mehr als Teil des Westens. Die alte Bundesrepublik versöhnte sich mit sich selbst, so Frommer, ohne den Nationalsozialismus vollkommen aufzuarbeiten. „Als Ersatz für die verlorenen Projektionsflächen dienten nun im öffentlichen Diskurs zunehmend die gerontokratischen repressiven Systeme im Osten Europas einschließlich der DDR.“ Nach einer kurzen Phase der Wiedervereinigungseuphorie seien die Westdeutschen dann nach 1989 dem inneren Zwang verfallen, „die neuen Länder als den Ort wahrzunehmen, an dem die unbewältigten negativen eigenen Identitätsanteile projektiv Platz finden konnten“. Einfacher ausgedrückt: Der Osten repräsentiert in den Augen des Westens das, was er glaubt, hinter sich gelassen zu haben – autoritäres Denken, intellektuelle Enge und jede Menge Provinzialität.

So kommt der Psychoanalytiker zu dem Schluss, „dass die Wiedervereinigung nicht nur die Identitätsentwicklung der Ostdeutschen richtungsweisend prägte, sondern auch für die westdeutsche Bevölkerung kollektiv identitätsrelevant wurde“. Wir haben es also mit einem Paradox zu tun: Im Prozess der Vereinigung entstand die alte Bundesrepublik neu. Ja, erst nach 1989 entstand sie wirklich. Es entwickelte sich ein „scharfes Abgrenzungsbedürfnis“ (Frommer) – ein Abgrenzungsbedürfnis auch von sich selbst und der eigenen Vergangenheit. Was nach 1990 zunächst unverständlich erschien, ist aus heutiger Perspektive sonnenklar: Die Deutschen konnten nicht so zusammenkommen, wie sich das die Naiveren wohl gedacht hatten. Dies ging auch deshalb nicht, weil, wie der Soziologe Georg Simmel lehrte, Fremdheit erst durch Begegnung überhaupt entsteht, während das Fremde bis dahin einfach nur das Unbekannte ist und Fremde keine „Bodenbesitzer“ sind. Die Westdeutschen im Osten sind fatalerweise – nicht immer als Person, aber als Repräsentanten des anderen Landesteils – Fremde und Bodenbesitzer zugleich. Dadurch wird Fremdheit zementiert. Und der Umzug von West nach Ost wird für den Psychoanalytiker Frommer eine „biografische Schwellensituation, die ein entsprechendes psychisches Bewältigungspotenzial herausfordert“ – mit zwei problematischen Varianten: Entweder die soziale Integration gelingt zulasten des westdeutsch geprägten Selbstwertgefühls. Oder aber das westdeutsch geprägte Selbstwertgefühl bleibt unverletzt – zulasten der sozialen Integration.

Bereits 1991 sahen 65 Prozent der Westdeutschen und sogar 70 Prozent der Ostdeutschen „große Unterschiede“ zwischen beiden Bevölkerungsgruppen. Waren die Ostdeutschen noch 1991 der Ansicht, es kämen zu wenige Westbeamte, waren es ihnen 1993 schon zu viele. Den Westdeutschen im Westen ist dies nach wie vor einerlei. An der Wirklichkeit in Konstanz oder Saarbrücken hat sich bis heute wenig verändert. Für die Westdeutschen, die ihren Lebensmittelpunkt in die „jungen Länder“ verlegten, blieb das System dagegen identisch. Sie hatten eine erhebliche Anpassungsleistung in psychischer, kultureller und sozialer Hinsicht zu vollbringen. Eine Anpassungsleistung, die weder die daheimbleibenden Westdeutschen noch die daheimbleibenden Ostdeutschen wohl so richtig einzuschätzen wissen.

Wahrnehmung als Aufbauhelfer

Unter den West-Ost-Migranten hat die Soziologin Claudia Dreke drei Verhaltensmuster herausdestilliert. Da sind jene, die rasch auf einen Ordnungs- und Integrationserfolg hinsteuern. Sie können die Fremde ordnen, messen dem Ost-West-Gegensatz immer weniger Bedeutung zu und integrieren sich voll in die neue Gesellschaft. Dabei hilft ihnen die eigene Wahrnehmung als Aufbauhelfer und Pionier, der aus idealistischen Motiven handelt und die Lage langsam unter Kontrolle bringt. „Die westlichen Aufbauhelfer waren überwiegend Männer“, schreibt etwa der Ökonom Friedrich Thießen. „Sie verbrachten Wochen um Wochen in den neuen Bundesländern und arbeiteten vom frühen Tag bis in die späte Nacht.“ Es herrscht das Selbstbild eines Cowboys vor, der Ordnung schafft in der Wildnis. Die zweite Gruppe bilden Claudia Dreke zufolge jene, die den fremden Osten als Bedrohung wahrnehmen. Ihnen gelingt die Überwindung von sozialer und kultureller Fremdheit nicht. Die dritte und letzte Gruppe besteht, folgt man der Potsdamer Soziologin, aus Grenzgängern. Sie spielen mit den Ost-West-Kategorien und ihrer eigenen Identität. Sie fühlen sich mal hier, mal da zugehörig. So wie die erste Gruppe können sie das Fremde im Osten als Abenteuer genießen.

Zweifellos sind die hitzigen Zeiten, in denen Ost und West ungebremst aufeinanderprallten, weithin vorüber. Man hat beidseitig Erfahrungen miteinander gesammelt und das Gegenüber in seiner gesellschaftlichen Stellung und damit auch in seiner Individualität lesen gelernt. Es sind Freundschaften entstanden. Und da, wo es nottut, geht man sich meist ohne Geschrei aus dem Weg. Die Jungen sind überdies in der Regel nicht so von der Vergangenheit belastet wie die Alten. Allein: Die alten Konfliktlinien sind noch da, auch weil sich Machtverhältnisse kaum geändert haben und die Teilgesellschaften sich zumindest in den ländlichen Regionen weiter autonom entwickeln. Es ist bei der inneren Einheit wie mit einem Hemd, das am ersten Knopf falsch zugeknöpft wurde: Es kann auch am letzten Knopf schwerlich richtig zugeknöpft werden.

Man sieht die west-ost-deutschen Abgründe gut ausgerechnet an jener Partei, die sich Die Linke nennt und die 2007 aus der Partei des Demokratischen Sozialismus und der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit entstand. Da liefert sich der ungeliebte westdeutsche Vorsitzende Klaus Ernst aus Bayern während einer Fraktionssitzung im Juni 2011 ein Wortgefecht mit dem sächsischen Linken Michael Leutert. Ernst sagt, Leuterts Lebensleistung legitimiere ihn nicht zu Kritik – gemeint war augenscheinlich, so jedenfalls wurde es interpretiert, dass es eine „nur“ ostdeutsche Lebensleistung ist. Daraufhin knallen Türen. Einer soll gerufen haben: „Arschloch!“ Ernst ist nicht zu halten.

Im Herbst 2012 wirft der Justiziar der Bundestagsfraktion, der Lübecker Wolfgang Neskovic, dem Landesverband Mecklenburg-Vorpommern vor, „auch über zwanzig Jahre nach der Wende“ hätten Teile der Partei noch immer „größte Mühe, einfachste Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beachten“. Zwischen den Ereignissen bringt der ostdeutsche Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi auf dem Göttinger Parteitag im Juni 2012 eine neuerliche Trennung der beiden Parteihälften ins Gespräch. Auf die Frage, warum der West-Ost-Konflikt gerade in der Linken mehr als 20 Jahre nach dem Mauerfall wieder ausbricht, antwortet er: Weil es der Westflügel nicht ertragen könne, schwächer zu sein als der Ostflügel.

All das beschreibt nur ausschnittsweise die deutsche Realität 25 Jahre nach 1989. Eine Realität, in der sich die Gegensätze langsam abschleifen und in der sich das Klima zu bessern beginnt. Das Bemerkenswerte an der Situation der Westdeutschen im Osten ist unterdessen, dass sie praktisch kein Thema sind und damit auch ihre Nöte nicht ins Gewicht fallen. Aber diese Nöte gibt es. Partnerschaften zerbrechen, weil die Cowboy-Frauen häufig nicht mitziehen wollen in den „Busch“. Die Westdeutschen stehen aus diesen und aus anderen Gründen zwischen West und Ost. Im Osten stehen sie zudem zwischen den alten SED-Eliten und den Dissidenten. Vor allem treten die „Wessis“ in den Augen der „Ossis“ entweder als geldgeile Kapitalisten in Erscheinung, die alten Besitz für sich beanspruchen, oder sie werden, sofern sie Beamte sind, als zweite Garnitur betrachtet, die im Osten eine Laufbahn einschlagen, die sie im Westen niemals hätten einschlagen können. „Ausschuss aus dem Westen – das verletzt manchmal“, sagt ein Verwaltungsangestellter im Gespräch mit der Soziologin Claudia Dreke.

An anderer Stelle heißt es: „Trotzdem bleibt so was innen drin, wo es dann doch irgendwie schmerzt, weil man nicht dazugehört.“ Hinzu tritt ein Phänomen, das auch türkische und andere „Gastarbeiter“ kennen. Sie wurden angeworben oder kamen aus eigenem Antrieb – mutmaßlich für eine Übergangszeit. Dann blieben sie länger, ohne dass Integration stattfand. Nur geredet wird darüber kaum mehr.

Bloß nicht sein wie die da drüben

Die Zeche zahlt im Zweifel der Westdeutsche im Osten. Er steht nicht für sich selbst. Er steht nolens volens für ein Ganzes. Und so kommt es, dass der aus Baden stammende Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf, der Sozialdemokrat Stefan Komoß, noch im Januar 2013 verschämt zu Protokoll gibt, er sehe sein Leben „nicht als Maß aller Dinge“. Im Westen versteht sich das von selbst. Wer sieht sein Leben schon im Ernst „als Maß aller Dinge“? Im Osten ist es der Erwähnung weiter wert. Es ist ein Signal: Ich bin nicht so wie die da drüben.

Dass bald ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ein Fünftel der Westdeutschen noch nie in Ostdeutschland war, spricht jedenfalls Bände. Und es verweist auf ein weiteres Paradox der deutschen Einheit: dass Westdeutsche für das östliche Selbstwertgefühl ein Problem sein können, wenn sie kommen und wenn sie nicht kommen.

So oder so stimmt nicht, dass nach 1989 zusammenwuchs, was zusammengehörte. Näher an der Wahrheit ist der Satz, den der Intendant der Ost-Berliner Volksbühne, Frank Castorf, 1992 sprach: „Wenn wir zweierlei Deutschen nicht begreifen, dass wir verschieden sind, werden wir nicht zueinanderkommen.“