„Mir fehlt etwas, für immer“15 Jahre Stadtarchiv-Einsturz: So sprechen zwei Betroffene über die Katastrophe

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Marvin Pagel verlor beim Einsturz seinen Halbbruder, Sabine Pohl-Grund erlebte das Unglück als Anwohnerin.

Eigentlich sei das hier ja eine schöne Ecke, sagt Marvin Pagel. Vom Café Boxenstopp aus blickt er auf den Waidmarkt. Auf die fast 1000 Jahre alte Kirche St. Georg. Die hat er schon mal besucht, sie hat ihm gefallen. Zum Geburtstag seines Bruders hat er hier Kerzen angezündet. Doch neben der Kirche sieht Pagel nur Bauzäune, Kräne, Schutt. Die seit 15 Jahren bestehende Baustelle, dort, wo das Stadtarchiv stand. Bis es am 3. März 2009 in Folge von Fehlern bei den Bauarbeiten für die Nord-Süd-Bahn einstürzte und zwei Wohnhäuser neben sich mit in die Tiefe riss.

In einem schlief gerade Marvins Halbbruder Kevin. Er ist einer der beiden jungen Männer, die beim Stadtarchiv-Einsturz ums Leben kamen. Neben dem damals erst 17-jährigen Bäckerlehrling starb der 24-jährige Designstudent Khalil. Eine 84-jährige Frau, die ihre Wohnung und ihren gesamten Besitz durch den Einsturz verlor, nahm sich wenige Zeit später das Leben.

Marvin Pagel möchte an seinen Bruder und an die Katastrophe erinnern

„Ich möchte mich gar nicht so sehr in den Vordergrund drängen“, sagt Marvin Pagel. „Die Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, sollten genauso gehört werden wie ich. Ich kann mir das gar nicht vorstellen.“ Pagel ist 21 Jahre alt, macht gerade eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann, ist Karnevalist in der Nippeser Bürgerwehr. Ein aufgeschlossener Mann, einer, mit dem man sich gerne unterhält. Einer, der kein Mitleid will. Und der sagt: „Ich habe meinen Bruder verloren. Mir fehlt etwas, und das für immer. Aber mein Leben geht weiter.“

Marvin Pagel vor der Einsturzstelle am Waidmarkt.

Marvin Pagel vor der Einsturzstelle am Waidmarkt.

Pagel war erst sechs Jahre alt, als Köln einen seiner schlimmsten Tage in der jüngeren Geschichte erlebte. Er hat es sich trotzdem zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an seinen Bruder und an die Katastrophe aufrechtzuerhalten. Deshalb spricht er über seinen Bruder, deshalb tritt er vor Gericht als Nebenkläger auf. Bis nach Karlsruhe ist er dafür gefahren, als der Bundesgerichtshof 2022 die vom Landgericht Köln gefällten Urteile gegen Verantwortliche des Einsturzes aufhob. Gegen Ende des Sommers könnten die Prozesse in Köln von neuem losgehen, habe ihm sein Anwalt gesagt. „Um emotional mit der Sache abzuschließen, kann ein Prozess nicht helfen“, sagt Pagel. „Aber ich will, dass die Sache rechtlich und sachlich endlich aufgeklärt ist.“

„Dass es keinen Gedenkort gibt, ärgert mich sehr“

Die bewussten Erinnerungen an den Einsturz und auch an seinen Bruder verblassen immer mehr. Als Kinder hätten Kevin und er im Treppenhaus Ballons mit Wasser gefüllt und sich auf der Straße damit beworfen. „Wir haben viel Mist gemacht“, sagt Pagel und lacht. „Mein Bruder war so jemand, der während einer Bahnfahrt ein Gespräch mit seinem Nachbarn angefangen hat. Er ist immer auf alle zugegangen. Wenn ich ihn mit drei Worten beschreiben müsste, würde ich sagen: ein korrekter Typ.“ Zum 15. Jahrestag hätte Pagel sich gewünscht, dass es endlich einen richtigen Gedenkort für den Stadtarchiv-Einsturz gibt. Damit die Erinnerung lebendig gehalten wird. „Das ärgert mich sehr“, sagt Pagel. „Es muss ja nicht viel sein. Aber etwas, wo die Namen draufstehen, vielleicht ein Foto. So erinnert gerade nichts daran, dass mein Bruder hier gestorben ist.“

Die Einsturzstelle des Stadtarchivs direkt nach der Katastrophe. Archivfoto aus 2009.

Die Einsturzstelle des Stadtarchivs direkt nach der Katastrophe. Archivfoto aus 2009.

Für einen Gedenkort setzt sich seit Jahren auch die Initiative Archivkomplex ein. Günter Otten und Anwohnerin Sabine Pohl-Grund stehen vor Erklärtafeln zur Katastrophe am Bauzaun, die ihre Initiative organisiert hat. Von ihrer Idee eines unterirdischen Gedenkraums musste sich die Initiative im vergangenen Jahr verabschieden. Die Stadtverwaltung und der Rat hielten das Konzept für nicht umsetzbar. „Das war schmerzhaft, wir haben viel ehrenamtliche Arbeit darein investiert“, sagt Otten. Nun gehe es darum, einen oberirdischen Gedenkort zu planen – und schnell mit kulturellen Aktivitäten rund um die Einsturzstelle zu beginnen. „Am besten noch in diesem Jahr.“

Für Sabine Pohl-Grund kam ein Umzug nie in Frage

Sabine Pohl-Grund ist 84 Jahre alt, sie wohnt seit 52 Jahren im Georgsviertel. Wenige Tage vor dem Jahrestag des Einsturzes verteilt sie in der Nachbarschaft Plakate, die auf die Gedenkveranstaltung am Sonntag vor der Kneipe „Papa Rudis“ hinweisen. „Wenn dann um 13.58 Uhr die Kirchenglocken läuten, bekomme ich immer noch weiche Knie“, sagt sie. Den Einsturz erlebte sie damals unmittelbar mit. Pohl-Grund stand gerade im Hinterhof, als sie den Lärm hörte. Und den Staub sah. „Da bin ich nach draußen gerannt und habe nur Schutt gesehen, überall Schutt. Dann kamen schon die Polizei und die Feuerwehr“, erzählt sie. Ihr kamen die zuvor entdeckten Risse im Keller des Stadtarchivs in den Sinn, der eingesackte Turm an der Sankt-Johann-Baptist-Kirche. „Ich dachte nur: Es musste ja was passieren“, sagt Pohl-Grund.

Günter Otten und Sabine Pohl-Grund engagieren sich in der Initiative Archivkomplex.

Günter Otten und Sabine Pohl-Grund engagieren sich in der Initiative Archivkomplex.

Ihre Familie, aber auch das Engagement in der Initiative haben ihr Halt gegeben, sagt Pohl-Grund, die mit ihrer weiß-grünen Brille und den scharlachroten Haaren auch mit 84 Jahren noch etwas sehr Jugendliches hat. „Hier wegzuziehen stand nie zur Debatte“, sagt sie. „Die Lage ist für mich perfekt. Ich mache am Rhein meine Joggingrunde, gehe gern ins Odeon-Kino oder die Philharmonie. Ich bin hier von Kultur umgeben.“ 15 Jahre nach dem Stadtarchiv-Einsturz möchte sie nach vorne blicken. „Ich wünsche mir eine Perspektive, und dass die Leute mitbekommen, was hier passieren soll“, sagt sie.

Im nächsten Jahr, zum 16. Gedenktag, fällt der 3. März mit Rosenmontag zusammen. Der Zug biegt kurz vor der Baustelle ab. „Vielleicht legen die Leute dann wieder ihre Strüßjer an der Einsturzstelle ab“, sagt Günter Otten.

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