DokumentationDas Gutachten zum Fall eines Kölner Priesters und Sexualstraftäters

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Missbrauch Kirche

  • Wir dokumentieren das Gutachten zum Fall des Kölner Priesters und Sexualstraftäters Nikolaus A.

Köln – In den Diskussionen über die Vertuschung und Verharmlosung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche spielt für das Erzbistum Köln der Fall des Priesters und Sexualstraftäters Nikolaus A. eine zentrale Rolle. Kardinal Rainer Woelki beklagt eine „jahrzehntelange Aneinanderreihung schwerer Fehler“ und richtet damit massive Vorwürfe an die Bistumsführungen unter seinen Vorgängern Joseph Höffner und Joachim Meisner.

Involviert waren allerdings nicht nur Bischöfe und andere führende Würdenträger in Köln, sondern auch in den Bistümern Münster und Essen, zwischen denen Pfarrer A. im Lauf seiner Priesterkarriere mehrfach hin und her wechselte. Das gehört zu den besonderen Abgründigkeiten dieses speziellen Falls.

Im Frühjahr 2019 ließ der damalige Interventionsbeauftragte des Erzbistums, Oliver Vogt, auch im Auftrag der Bistümer Münster und Essen ein Rechtsgutachten zu der Frage erstellen, „inwieweit das Handeln der Verantwortlichen der betroffenen Bistümer als pflichtgemäß anzusehen ist“. Ihre Befunde und Bewertungen übermittelte die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl dem Erzbistum am 1. August 2019.

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Erzbistum stoppte Veröffentlichung des Gutachtens

In Köln liegt das 14-seitige Dokument seitdem unter Verschluss. Es sollte aber zusammen mit dem Gesamtgutachten derselben Kanzlei zum Umgang des Erzbistums mit Fällen sexuellen Missbrauchs im März 2020 publiziert werden. Kurz vor diesem Termin wurde das Vorhaben von Kardinal Woelki auf Eis gelegt und Ende Oktober schließlich komplett gestoppt. Als Grund gab das Erzbistum angebliche methodische Mängel an. Mehrere frühere und amtierende Funktionsträger des Erzbistums haben sich anwaltlichen Beistands versichert, um im Fall einer Veröffentlichung mit Nennung ihrer Namen und konkreten Vorwürfen zu Vertuschungen und anderem Fehlverhalten ihre Rechte zu wahren.

Mit dem Aus für das Gesamtgutachten sollte offenbar auch das vorgezogene Sondervotum zum Fall A. in der Schublade verschwinden. Während das Bistum Essen in der vorigen Woche eine eigene Arbeit insbesondere für die Zeit veröffentlichte, in der sich A. dort aufhielt, weigert sich das Erzbistum Köln, das unter seiner Federführung erstellte Gutachten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am 19. November teilte das Bistum Münster demgegenüber mit, es würde die Publikation begrüßen.

Wir dokumentieren das Gutachten

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat sich nun dazu entschlossen, das ihm vorliegende Dokument im Wortlaut verfügbar zu machen, weil daraus sowohl der Ablauf der Ereignisse und die Pfarrer A. zur Last gelegten Straftaten als auch das Vorgehen der verschiedenen Bistumsleitungen sowie die konkret gegen sie gerichteten Vorwürfe hervorgehen, die Kardinal Woelki zuletzt nur in allgemeiner Form formuliert hat.

Die im Gutachten genannten Namen und Funktionen haben wir dort geschwärzt, wo es sich um nachgeordnete Amtsträger handelt, die als Personen und mit ihrer Verantwortung nicht im Licht der Öffentlichkeit standen oder stehen. Die mit Namen genannten, noch lebenden Funktionsträger haben wir mit den Inhalten des Gutachtens konfrontiert und sie um Stellungnahme gebeten.

Hier können Sie das pdf-Dokument herunterladen:

Die früheren Generalvikare Norbert Feldhoff und Dominikus Schwaderlapp (heute Weihbischof in Köln) haben mitgeteilt, dass sie sich derzeit zu den Sachverhalten nicht äußern möchten. Schwaderlapp wies auf das Ergebnis der März 2021 angekündigten Untersuchung hin, der er „nicht vorgreifen“ wolle.

Das Gutachten, aus dem wir im Folgenden zitieren, listet chronologisch die sexuellen Vergehen an Kindern und Jugendlichen durch Pfarrer A. seit seiner Kaplanszeit in Köln-Weidenpesch Anfang der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre auf, die zu wiederholten Interventionen der Bistumsleitungen unter Kardinal Höffner und Kardinal Meisner führten, aber auch zu einer mehrmaligen Verurteilung durch die staatliche Justiz.

Nach seiner ersten Verurteilung 1972 zu einer 18-monatigen Haftstrafe durch das Amtsgericht Köln saß A. in der JVA Münster ein und nahm in dieser Zeit Kontakt unter anderem mit Ortsbischof Heinrich Tenhumberg auf. 1973 erreichte A. mit einem Gnadengesuch die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung.

„Verstörend mit Blick auf den weiteren Verlauf des Geschehens ist, dass der damalige Generalvikar [Peter] Nettekoven [Erzbistum Köln, d.Red.] im Hinblick auf das Gnadengesuch bekräftigt, kirchlicherseits werde dem A. eine Aufgabe außerhalb der Seelsorge zugewiesen und dafür gesorgt werden, dass dieser nicht mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat.“

Eine Beurteilung durch den „psycho-therapeutischen Vertrauensmann des Bistums Münster“, der „ausweislich eines Aktenvermerks einen möglichst schnellen Einsatz des A. »in seelsorgliche Aufgaben dringend empfohlen habe«“, wurde A. „daraufhin für längere Zeit und in offenkundigem Widerspruch zu den Versicherungen des Generalvikars Nettekoven gegenüber den staatlichen Strafverfolgungsbehörden mit der Aushilfe in der Pfarrei Bocholt/Lowick – St. Bernhard betraut. In der späteren Anklageschrift der StA [Staatsanwaltschaft, d.Red.] Duisburg wird festgestellt, dass A. in diesem Zeitraum sowohl mit Strichjungen in Essen, als auch während seiner Urlaubsaufenthalte in Sri Lanka sexuelle Kontakte mit Minderjährigen unterhalten hatte.“

„Obwohl sowohl der Erzbischof [Höffner] als auch dessen Generalvikar von der Verurteilung des A. wegen sexueller Unzucht wussten, haben diese die Durchführung eines kirchlichen Strafverfahrens pflichtwidrig unterlassen.“

Zuletzt wurde 1988 vom Landgericht Duisburg eine Freiheitsstrafe auf Bewährung „wegen sexueller Handlungen an insgesamt zwei zehn bzw. 13 Jahre alten Opfern, mehrheitlich jedoch an dem 10jährigen Opfer“ gegen A. verhängt. Die Taten beging er im Rahmen einer Aushilfstätigkeit als Seelsorger in Moers (Bistum Münster).

„Erzbischof Meisner und Generalvikar Feldhoff, die davon Kenntnis hatten, [haben] ungeachtet dessen, dass es sich hierbei um das insgesamt dritte einschlägige Strafverfahren gegen Pfr. i.R. A. gehandelt hat und dessen fehlende Unrechtseinsicht zweifelsfrei dokumentiert war, wiederum pflichtwidrig sowohl auf jegliche Sanktionierung gemäß c.[anon] 1395 § 2 CIC/1983 [kirchliches Gesetzbuch, d.Red.] kirchlicherseits als auch auf Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Kinder und Jugendlicher verzichtet.“

„Das Urteil des LG [Landgerichts] Duisburg befindet sich weder bei den Akten des Erzbistums Köln noch des Bistums Essen. Aus einer Notiz in den Akten des Bistums Münster geht hervor, dass eine zweijährige Bewährungsstrafe verhängt wurde. In der Folge wird die Tätigkeit des A. im Bistum Münster einvernehmlich beendet.“

Im April 2002 wird A. in den Ruhestand versetzt

Nach einem zweieinhalbjährigen Einsatz als Altenseelsorger im Dekanat Lövenich wurde A. am 1. April 2002 „seiner Bitte entsprechend aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt. Nach seiner Entpflichtung zieht A. nach Bochum und im Jahr 2015 in eine Seniorenresidenz in Essen um. Er wird dort, allem Anschein nach ohne offiziellen Seelsorgeauftrag, weiterhin in der Seelsorge tätig; dies allem Anschein nach zumindest bis zum Jahr 2013 […] Zu einem aus den Unterlagen des Bistums Essen nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt, spätestens im August 2002, wird durch Zufall die Gefängnisstrafe des A. bekannt.“

Auf eine Erkundigung der Bistumsverantwortlichen in Essen hin gab ein Vertreter des Erzbistums die Auskunft, „dass sich der Fall ausweislich des Akteninhalts als sehr problematisch darstelle, so dass ihm »schlecht« geworden sei und er dringend davon abrate, dem A. irgendeinen irgendwie gearteten Auftrag im Bistum Essen zu erteilen".

2008 teilte der damalige Kölner Personalchef Stefan Heße einem Missbrauchsopfer auf dessen Hinweise zu Verdachtsfällen gegen A. und die Anfrage zum Kenntnisstand des Erzbistums über A. zu Beginn der 1970er Jahre „zumindest unvollständig mit, dass »in der fraglichen Zeit lediglich aus der Personalakte hervorgeht, dass Kaplan A. zum 02.02.1964 in der Pfarrei St. Josef in Köln-Porz als Kaplan eingesetzt wurde. Während dieser Zeit wurden den Verantwortlichen keine diesbezüglichen Beschwerden bekannt.«“

Hamburger Erzbischof verweist auf Schwaderlapp

Heße, so das Gutachten weiter, wäre verpflichtet gewesen, den ihm bekannt gewordenen Hinweis auf neue Verdachtsfälle „der vom Erzbischof beauftragten Person zur Kenntnis zu bringen. Dies ist allem Anschein nach aber nicht geschehen." Der heutige Hamburger Erzbischof verweist, mit diesen Vorwürfen konfrontiert, mehrfach auf die Zuständigkeit seines damaligen Vorgesetzten, des früheren Generalvikars Schwaderlapp. Erst durch dessen Auftrag, dem Betroffenen 2008 die „von ihm gewünschte Information zukommen zu lassen“, habe er selbst Kenntnis von dem Vorgang erhalten, so Heße. Das Gespräch mit dem Betroffenen habe nicht er geführt, sondern der zuständige Ansprechpartner des Erzbistums. Dieser wiederum habe Schwaderlapp darüber schriftlich in Kenntnis gesetzt. Damit, so Heße weiter, „waren aus meiner Sicht die zuständigen Dienststellen im Erzbistum Köln informiert“. Sein „ausführlicher Brief“ an den Betroffenen „im Auftrag des Generalvikars“ habe im Übrigen sehr wohl weiterführende Angaben zu A. enthalten, unter anderem zu dessen Verurteilung.

Heße betont auch, dass in seiner Zeit als Personalchef seit 2006 Pfarrer A. das Erzbistum längst verlassen hatte. „Ich kannte diesen Priester nicht. Nach meiner Erinnerung habe ich in der Personalakte des Priesters keine Hinweise auf derartige Gerüchte gefunden. Auch im Übrigen hatte ich davon keine Kenntnis.“

Essener Gutachten online veröffentlicht

Das von Kardinal Woelki angestrengte kirchliche Strafverfahren ist nach Heßes Worten „positiv zu bewerten, legt aber den Schluss nahe, dass genau dies damals an verschiedensten Stellen versäumt worden ist“. Dies wiederum legt den Schluss nahe, dass Heße auf die Verantwortung unter anderem seines ehemaligen Chefs Schwaderlapp aufmerksam machen will. Für alle, die mit Kirchenhierarchie und Bistumsorganisation vertraut sind, liegt das auf der Hand: Was immer mit Priestern in Konflikten oder heiklen Situationen geschieht, ist Sache des Generalvikars. Allein: Der Name Schwaderlapp steht nicht in dem Münchner Gutachten, zumindest nicht in diesem.

Das Essener Gutachten der Kölner Kanzlei axis zum Fall A. ist auf der Webseite des Bistums Essen (18. November) veröffentlicht.

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