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Überleben am NeumarktCracksüchtige und Kleindealer berichten aus einem Alltag am Abgrund

7 min
29.08.2025, Köln: Rund um den Neumarkt - ein Ortsbesuch in der Innenstadt. Zahlreichen Drogenabhängigen prägen das Bild des Stadtteils. Die Polizei ist im Dauereinsatz. Foto: Arton Krasniqi

Personen müssen unkentlich gemacht werden!!!!

Armut, Elend und Drogensucht prägen das Bild rund um den Neumarkt.

Tag für Tag kämpfen Suchtkranke am Neumarkt ums Überleben. Dem  „Kölner Stadt-Anzeiger“ haben sie erzählt, wie das gelingt – und was ihnen helfen könnte.

Vor einem Café am Josef-Haubrich-Hof reißt Domenico sein T-Shirt bis auf Brusthöhe hoch und präsentiert ein Tattoo auf seinen Rippen: eine Timeline seiner Knastaufenthalte, von der linken Brustwarze bis zur Hüfte, eine Kurzdokumentation, wann und wo er gesessen hat. Insgesamt zehn Jahre, sagt Domenico.

Am Neumarkt deale er mit Kokain, um sich seinen Crack-Konsum zu finanzieren. Der Italiener öffnet seine Faust und zeigt die weißen Crack-Krümel auf seiner Handfläche. „Ein Scheißzeug ist das. Wenn du es einmal nimmst, willst du immer mehr.“

Köln: Neumarkt ist längst Thema im Wahlkampf

Der 33-Jährige ist an diesem Nachmittag Ende August einer von etwa 50 Männern und Frauen, die sich auf dem Josef-Haubrich-Hof und im Umfeld bewegen und Rauschgift kaufen, verkaufen oder mehr oder weniger verzweifelt jemanden suchen, der es verkauft. Auf der Lungengasse, zwischen dem Sanitätshaus Stortz und der Methadon-Abgabestelle, hockt ein dürrer Mann in einem Hauseingang und zündet sich eine Crack-Pfeife an. Menschen gehen achtlos vorüber.

Alles zum Thema Polizei Köln

Über die drastischen Zustände am Neumarkt hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ in den vergangenen Wochen ausführlich berichtet. Wir haben Polizeieinsätze begleitet, waren mit Streetworkern und dem Ordnungsamt unterwegs, haben mit dem Sozialdezernenten gesprochen, mit Drogenforschern, dem Polizeipräsidenten, Politikern, Anwohnern, Bürgerinitiativen und Geschäftsleuten. Längst ist das Thema auch im Kommunalwahlkampf angekommen. Die OB-Kandidaten diskutieren derzeit über Lösungen und geeignete Standorte für neue Drogenhilfeeinrichtungen.

29.08.2025, Köln: Rund um den Neumarkt - ein Ortsbesuch in der Innenstadt. Zahlreichen Drogenabhängigen prägen das Bild des Stadtteils. Die Polizei ist im Dauereinsatz. Foto: Arton Krasniqi

Personen müssen unkentlich gemacht werden!!!!

Drogenabhängige und Obdachlose kämpfen am Neumarkt täglich ums Überleben.

Aber was denken diejenigen darüber, die Tag für Tag am Neumarkt ums Überleben kämpfen? Was bewegt sie? Von wem erhoffen sie sich Hilfe? Und welche?

An verschiedenen Tagen im August hat der „Kölner-Stadt-Anzeiger“ versucht, mit den oft schwer kranken Crack-Konsumenten, mit Kleindealern und Obdachlosen ins Gespräch zu kommen. Einfach war das nicht. Viele wollten nicht sprechen, andere nur gegen Geld, aber das haben wir nicht gezahlt, um keine Gefälligkeitsaussagen zu provozieren. Und doch gab es schließlich Menschen, die ohne Gegenleistung Auskunft gaben, auch wenn niemand von ihnen mit Foto und richtigem Namen in der Zeitung stehen wollte.

Domenico zum Beispiel, der Kleindealer auf dem Josef-Haubrich-Hof, der eigentlich anders heißt. Er sei vor eineinhalb Jahren nach Köln gekommen und in dieser Zeit von 86 auf 66 Kilo abgemagert, sagt er. Das liege an seinem Crack-Konsum. Ein Teil seiner Familie lebt in Köln. Ob er versteht, dass Menschen inzwischen Angst hätten, den Neumarkt zu betreten? „Ist nicht mein Problem“, sagt Domenico. „Das ist das Problem vom Kölner Bürgermeister.“ Der solle endlich ein großes Gebäude bauen. Ein Haus, wo Drogensüchtige schlafen könnten, essen, duschen, Wäsche waschen, Suchtmittel oder Ersatzstoffe erhalten.

Aber so lange sich nichts ändere, sei er eben gezwungen, „dies und das“ zu machen, um sich seinen Konsum zu finanzieren. Dies und das? „Ja, dies das. Ist doch klar, oder?“ Mehr möchte er nicht sagen. Viele Süchtige hier verkaufen selbst Drogen, sie rauben sich gegenseitig aus oder stehlen in umliegenden Geschäften und verhökern die Beute an Passanten.  

Hier läuft viel Dreckspack rum, die bedrohen Leute und ziehen sie ab
Hector

Auf dem Josef-Haubrich-Hof bilden sich indes immer wieder kleine Gruppen, dann gibt es Geschrei, jemand wird von den anderen verfolgt, geschubst und angebrüllt. „Das hast du hier alle fünf Minuten, es geht immer um Geld“, sagt Marco. „Meistens um fünf Euro für einen Kopf Crack.“ Kopf ist Szenejargon für eine Konsumeinheit.

Marco steht etwas abseits, er trägt eine weiße Kappe auf seinen strubbeligen dunkelblonden Haaren. In seinem Rucksack stecken Fußballtrikots in Kindergrößen, Mbappe, Ronaldo, Wirtz. Marco „besorgt“ sie sich, sagt er, und verkauft sie weiter. Und er handelt mit E-Zigaretten, gestohlen im Supermarkt, verkauft sie für fünf Euro pro Stück. „Für 5 Euro kriege unten in der KVB-Haltestelle zwei Stücke Pizza.“

29.08.2025, Köln: Rund um den Neumarkt - ein Ortsbesuch in der Innenstadt. Zahlreichen Drogenabhängigen prägen das Bild des Stadtteils. Die Polizei ist im Dauereinsatz. Foto: Arton Krasniqi

Personen müssen unkentlich gemacht werden!!!!

Eine Personenkontrolle auf dem Josef-Haubrich-Hof.

Der 24-Jährige ist obdachlos. Er habe Koch gelernt in einem Kölner Luxusrestaurant, seit vier Jahren schlafe er auf der Straße. Drogen nehme er aber keine, sagt Marco, als ein hagerer Mann, der sich „Hector“ nennt, die Unterhaltung kapert. Er zeigt auf Marco: „Wir kennen uns aus dem Drogenkonsumraum“, sagt Hector und grinst. Ein weiteres Problem ist, dass sich die Dinge, die hier erzählt werden, nur schwer oder gar nicht überprüfen lassen.

Hector hat eine offene Wunde am Arm, professionell verbunden. Blutvergiftung. Er komme gerade aus dem Krankenhaus. „Crack hat alles schlimmer gemacht“, sagt Hector. „Hier läuft viel Dreckspack rum, die bedrohen Leute und ziehen sie ab.“ Der gelernte Dachdecker zeigt eine Narbe am Ohr und zwei genähte Einstiche auf der Brust. „Messer“, sagt er. „Dreckspack.“ Letzte Woche habe man ihm von hinten die Beine weggetreten, „einfach so“.

29.08.2025, Köln: Rund um den Neumarkt - ein Ortsbesuch in der Innenstadt. Zahlreichen Drogenabhängigen prägen das Bild des Stadtteils. Die Polizei ist im Dauereinsatz. Foto: Arton Krasniqi

Personen müssen unkentlich gemacht werden!!!!

Ein Mann sucht am Straßenrand nach Resten von Drogen, die er konsumieren oder verkaufen kann.

Fragt man Hector nach einer Lösung, hat er eine klare Meinung: „Die sollen die kleinen Junkies hier in Ruhe lassen, die tun keinem was. Die Polizei kann uns eh nicht alle wegsperren, so viele Zellen gibt es gar nicht.“ Auch Hector schlägt eine große Anlaufstelle für die Süchtigen vor, wo man Drogen erhalten oder Rauschgift straffrei untereinander weitergeben könne. „Dann laufen hier nicht mehr alle den ganzen Tag gestresst rum, um zu sehen, dass sie Kohle oder was zum Rauchen kriegen.“ Hector rattert die Schwarzmarktpreise auf dem Neumarkt herunter: „Ein Stein (Crack, d.Red.) 5 Euro, ein Bubble weiß (Kokain) 10 Euro, ein Bubble braun (Heroin) 8 Euro, zweieinhalb Gramm Heroin 50 Euro.“ Was nicht nur er nicht versteht: „Du darfst im Konsumraum ballern, das ist ok, aber wenn die Bullen dich draußen mit dem Zeug erwischen, nehmen sie dich mit. Was ist das für eine Scheiße? Erklär mir das mal.“

Auch Polizeipräsident Johannes Hermanns und Sozialdezernent Harald Rau zum Beispiel können sich eine kontrollierte Rauschgift- oder Substitutionsmittelabgabe an Schwerstabhängige vorstellen. Sogar eine Tolerierung des Kleinhandels nach gewissen Regeln analog zum Zürcher Modell ist im Gespräch.

Die hauen dir eine Flasche auf den Kopf oder stechen zu, wenn du ihnen keine Drogen oder Geld abgibst
Jack

Von hinten nähern sich sechs Bereitschaftspolizisten. „Personenkontrolle“, sagt einer der Beamten. Sie bitten Hector und zwei weitere Männer, sie zu einer Mauer zu begleiten, um sie zu durchsuchen. „Siehst du?“, ruft Hector im Umdrehen, „das meine ich, was soll das? Jeden Tag, das ist doch nicht normal.“ – „Doch“, antwortet der Beamte, „das ist normal. Wenn alles gut ist, kannst du gleich wieder gehen.“ Kann er tatsächlich, nur wiederkommen darf er heute nicht mehr. Die Polizisten haben in seiner Kleidung Spritzen gefunden. „Die Leute wollen das hier nicht, sie beschweren sich“, erklärt ihm einer der Beamten. Platzverweis, Hector wird weggeschickt.

„Nachts ist es besonders schlimm“, erzählt Jack. Seine Habseligkeiten passen in eine Plastiktüte, mit dem prall gefüllten Beutel steht Jack vor dem Gesundheitsamt am Neumarkt. Auch er schläft auf der Straße, und auch er hat eine frische Narbe am Unterarm – ein Messerstich. „Die hauen dir eine Flasche auf den Kopf oder stechen zu, wenn du ihnen keine Drogen oder Geld abgibst. Von mir wollten sie 5 Euro.“ Die, das seien „die Araber“, sagt Jack. „Seit die hier rumlaufen, ist hier nur Randale.“ Hector bestätigt das, er steht plötzlich wieder da, obwohl ihn die Polizei eigentlich weggeschickt hatte. „Platzverweis… totaler Schwachsinn. Der Konsumraum und mein Arzt sind hier am Neumarkt, wo soll ich denn sonst hin?“, fragt Hector.

Er verstehe, wenn die „normalen Leute“ Angst hätten auf dem Neumarkt, sagt Jack. „Vor allem für Kinder ist das total blöd.“ Wenn er Heroin und Crack konsumiere, suche er sich daher einen möglichst abgelegenen Ort. Auch Jack träumt von einer großen Hilfeeinrichtung, „wo du mal in Ruhe sitzen kannst, duschen, essen und neue Klamotten kriegst“. Eine solche Einrichtung dürfe nicht direkt am Neumarkt sein. „Hier ist keine Ruhe.“ Er dürfe aber auch nicht allzu weit weg sein, „höchstens vier Haltestellen“.

Jack verabschiedet sich. Mit seiner verblichenen Plastiktüte über der Schulter schlurft er in Richtung Josef-Haubrich-Hof. Auch heute Nacht wird er wieder irgendwo hier in der Nähe schlafen. Trotz der Gefahr. Trotz der allgegenwärtigen Drohungen und der Gewalt. Warum? Jacks Antwort ist simpel: „Weil hier nun mal die Dealer sind.“