Michael Hallek im Interview„Ich schätze, die Inzidenz ist eigentlich doppelt so hoch“

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Hallek IV Bause

Michael Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin der Universität zu Köln

  • Der Kölner Mediziner Michael Hallek spricht im Interview über die Abschaffung der Maskenpflicht, unsinniges Testen und die Impfpflicht.

Köln – Der Kölner Mediziner Michael Hallek spricht im Interview (den Sie hier auch als Podcast hören können) über die Abschaffung der Maskenpflicht, unsinniges Testen und die Impfpflicht. Herr Hallek, nach Karneval hat es in Köln einen steilen Anstieg der Infektionszahlen gegeben. Die Stadtverwaltung sah Anzeichen für einen Zusammenhang, aber nannte auch andere mögliche Gründe neben den Karneval. Sehen Sie das auch so? Michael Hallek: Ich habe mich nie gegen den Karneval ausgesprochen und auch nicht gegen die Friedensdemonstration, die ich als große Geste und ein Highlight der Kölner Bürgerschaft und der Karnevalsgesellschaften erlebt habe. Ich habe mich auch nicht ausgesprochen gegen 50.000 Fans im FC-Stadion. Warum? Weil wir ein anderes Virus haben. Man hätte in Köln auch keine Ausgangssperre verhängen können, das wäre eine unverhältnismäßig harte Maßnahme gewesen. Der Karneval steckt nun mal „in den Genen“ der Kölner. Aber natürlich war der Anstieg der Fallzahlen durch den Karneval verursacht, das kann man doch überhaupt nicht anders sehen. Es war ja auch ein gegen den Trend laufender steiler Anstieg.

Man hatte schon vor Karneval den Eindruck, dass vermieden wurde, klar auszusprechen, wozu das Feiern führen wird. Wie haben Sie die Debatte erlebt?

Als künstlich und auch ein bisschen bizarr. Wortspiele zur Umdeutung von Bildern, die entstehen könnten, halte ich für überflüssig. Ich fordere von den politisch Verantwortlichen genau wie von allen anderen, stets so nahe wie möglich an der Wahrheit zu sein. Eine klare transparente Kommunikation von Wirkungen und Nebenwirkungen ist wichtig.

Hat sich der Anstieg der Inzidenzen in der Uniklinik bemerkbar gemacht?

Nein. In den letzten Tagen haben wir sogar einen leichten Rückgang der Intensivpatienten erlebt. Die vulnerablen Patienten haben sich nicht infiziert. Für alle anderen ist das derzeitige Virus keine große Bedrohung. Es gibt in Köln eine Impfquote von über 80 Prozent. Das ist gut und trägt auch dazu bei, dass eine hohe Inzidenz nicht so viele Schwerkranke verursacht wie in anderen Regionen.

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In ganz Deutschland sind die Infektionszahlen angestiegen, wenn auch nicht so stark wie in Köln.  Liegt das an wachsender Sorglosigkeit oder an einem deutlich ansteckenderen Virustyp?

An beidem. Die neue Omikron-Untervariante BA 2 ist nochmal schneller als BA.1. Sie übernimmt gerade auch, das messen wir auch hier an der Uniklinik. Das andere ist die zunehmende Sorglosigkeit. Die Menschen spüren, dass die Variante nicht so schwer krank macht. Und es gab die politische Diskussion um den Stichtag 20. März. Diese öffentliche Debatte hat das Verhalten der Bürger schon im Vorfeld beeinflusst. Es war in der Vergangenheit auch bei der Ankündigung von Lockdowns zu beobachten. Politische Diskussionen verändern das Verhalten der Bürger.

Wir liegen jetzt in Köln bei einer Inzidenz von 1600. Was sagen die Inzidenzen noch aus?

Wenig. Wir haben eine erhebliche Dunkelziffer im Moment, so dass die Zahlen bestenfalls eine Schätzung darstellen. Aufgrund der Testungen hier in der Uniklinik würde ich schätzen, dass die Inzidenz wahrscheinlich etwa doppelt so hoch ist.

Sollte man Inzidenzwerte dann überhaupt noch kommunizieren?

In der jetzigen Form scheint das nicht mehr sinnvoll. Ich habe auch schon mit dem RKI-Chef Lothar Wieler darüber diskutiert, ob man nicht lieber genaue Stichproben in bestimmten typischen Regionen macht für die Messung des Inzidenzgeschehens in den kommenden Monaten. Das müsste ausreichen und würde auch eine Menge Geld sparen für Tests. Das flächendeckende Testen bringt derzeit nichts. Im Herbst können wieder umschwenken, wenn sich eine andere Situation ergibt. 

Seit Sonntag ist die Änderung des Infektionsschutzgesetzes in Kraft. Davor kam es im Bundestag zu erstaunlichen Diskussionen. Wie haben Sie die Debatte erlebt?

Ich habe das nicht verstanden. Sowohl die Debatte zum Auslaufen der Maßnahmen am 20. März als auch die Debatte um die Impfpflicht sind für mich erratisch verlaufen. Es ist nicht ungefährlich, zu sagen, man beendet jetzt fast alle Maßnahmen. Wir haben Menschen zu schützen, die auch unter Omikron noch schwer krank werden. Wir können nicht so tun, als seien die gar nicht da. Mit den einfachsten Maßnahmen kann man sie schützen. Da rede ich von ein bisschen Abstand und Masken. Das ist keine wesentliche Einschränkung der Freiheit, sondern eine Maßnahme der Rücksicht. Dieses Wort habe ich in der Debatte überhaupt nicht gehört. Das macht mich zutiefst besorgt um den Zustand unserer Republik. Es ging nur um juristische Einschätzungen, getrieben von der Partei, die momentan im Justizministerium sitzt. Natürlich hätte es auch eine Rechtsgrundlage gegeben, die Schutzmaßnahmen zu verlängern. Ein paar Millionen vulnerabler Bürger in Deutschland zu schützen und dafür im Supermarkt noch eine Maske aufzubehalten, ist keine Einschränkung der Freiheit. Was Freiheit heißt, sehen wir momentan in der Ukraine. Diese Diskussion ist lächerlich.

Was stört Sie an der Diskussion über die Allgemeinen Impfflicht?

Die Begründungen dafür sind immer dünner. Sie sollen schützen vor einer Situation im Herbst, von der man aber noch gar nicht weiß, wie sie sein wird. Ich war schon immer skeptisch, aber inzwischen bin ich gegen die Einführung einer Impfpflicht gegen SARS-CoV2. Ich finde die Diskussion auch unlogisch. Man kann nicht einerseits sagen, dass alles nicht mehr so schlimm ist und andererseits fordern, die Impfflicht einzuführen, weil es im Herbst wieder schlimmer werden könnte, obwohl man es gar nicht sicher weiß.

Sie kritisieren die FDP also für die von ihr maßgeblich durchgesetzte Änderung des Infektionsschutzgesetzes, plädieren aber mit der FDP dafür, die Impfpflicht-Debatte zu beenden?

Mir geht es immer nur um die Sache. Die Parteien sind mir hier egal. Keine der Parteien hat mich in der Pandemie-Bekämpfung beeindruckt. Das muss man einfach mal so hart sagen. Ich war ziemlich nah dran und habe leider nicht nur von Sachverstand und gesundem Menschenverstand geleitete Maßnahmen gesehen, sondern viel Taktieren und politische Parolen. Wir sollten den „Freedom Day“ zum Unwort des Jahres deklarieren. Denn es geht ja nicht nur um Freiheit, sondern immer um die Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten. Es gehört eben auch die Freiheit der Menschen dazu, die am Leben teilhaben wollen und es nicht können, weil sie sich auch jetzt noch Sorgen machen müssen vor einer Ansteckung. Das sind alle Menschen mit Krankheiten, die eine Immunschwäche verursachen:  Menschen mit aktiver HIV-Erkrankung, mit fortgeschrittenen Nierenerkrankungen, bestimmten Krebserkrankungen vor allem unter Therapie, mit Organtransplantationen, schweren Leberschäden, bestimmten neurologischen Störungen und Rheuma-Erkrankungen. Das betrifft wirklich Millionen Bürger. Diese nicht einzuschließen in unsere Betrachtungen, halte ich für unverzeihlich. Gerade ein Gesundheitsminister sollte in seiner Begründung für das Auslaufen von Schutzmaßnahmen diesen Aspekt intensiv mit bedenken, wenn es schon nicht der Justizminister tut.

Die Maskenpflicht in Geschäften soll fallen, in der Bahn nicht. Ist das für Sie nachvollziehbar?

Nein, das ist völlig unlogisch. Ich halte dies nicht für sinnvoll. Es ist doch ganz einfach: Es gibt öffentliche Innenräume, die eine potenzielle Gefahr darstellen für Menschen mit Begleiterkrankungen. In diesen hätte man den Schutz aufrechterhalten sollen. Das wäre nachvollziehbar für alle. Eine Ausnahme wären für mich Schulen. Die Kinder haben stark gelitten in der Pandemie.

Fast alle Bundesländer haben mit Übergangsfrist bis Anfang April die Maßnahmen verlängert und sich damit gegen die Bundesregierung ausgesprochen. Bis Anfang April es nicht mehr lange. Rechnen Sie damit, dass die Frist noch einmal verlängert wird?

Das kann ich kaum vorhersagen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Situation dann schon vorbei ist. Ich gehe davon aus, dass die Welle noch länger geht. Ich bin übrigens sehr dafür, dass wir zurückkehren zu einem weitgehend normalen Leben. Man muss sich nur Gedanken machen, wie man das tut. An den einfachsten, wirksamsten Dingen sollten wir festhalten, bis die Inzidenzen runtergehen. Es sterben immer noch ein paar hundert Menschen am Tag an Corona in Deutschland. Ich will die nicht ausblenden.

In Österreich hatte man die Maskenpflicht in Innenräumen am 5. März ausgesetzt, aber vor Kurzem wieder eingeführt, weil ein Fünftel der Bevölkerung gleichzeitig infiziert ist. Kann man in Österreich beobachten, was uns gedroht hätte, wenn die Länder keine Übergangsfristen eingeführt hätten?

Ja, daran kann man gut sehen, dass Lockerungen  auch zu schnell gehen können. Die Dänen und Briten haben das auch erlebt. Die Österreicher korrigieren jetzt, weil die Systeme überlastet sind. Dieses Hin und her kann man sich komplett sparen.

Wie bewerten Sie das Handeln von Gesundheitsminister Karl Lauterbach? Es kursiert der Scherz, dass er auf seinem Twitter-Account das schreibt, was er denkt, während er im Bundestag das aussprechen muss, was er nicht aussprechen will.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Ist es eigentlich normal für ein Virus, dass sich Varianten in dieser so großen Geschwindigkeit ablösen?

Die Mutation passieren bei diesem Virus tatsächlich sehr schnell, was an auch der sehr hohen Zahl der Infizierten liegt. Es gibt langsamere Evolutionen wie zum Beispiel bei Influenza.  Bei einer globalen Pandemie kann sich das Virus schneller optimieren. Diese sehr schnelle Optimierung macht mich aber auch zuversichtlich. Auch ich weiß nicht, wie es im Herbst wird. Aber ich halte es für gar nicht so unwahrscheinlich, dass sich das Virus seinem optimalen Zustand genähert hat: es infiziert schnell, macht aber wenig krank. Das erleichtert seine Ausbreitung. Es gibt Experten, die noch Varianten oder Mutationen fürchten, die schwerer krank machen. Im „Interesse“ des Virus ist das nicht.

Die Uniklinik musste zuletzt geplante Operationen verschieben, weil so viele Mitarbeitende in Quarantäne waren. Wie ist die Situation heute?

Es fehlen immer noch zu viele Mitarbeiter, aber die Situation hat sich in den letzten Tagen etwas gebessert.

Wie ist die Lage bei den Patienten?

Wir haben am heutigen Tag etwa 60 bis 70 Patienten mit COVID-19, wobei die meisten wegen einer anderen eine Erkrankung stationär behandelt werden und zusätzlich COVID-19 positiv sind. Ein kleinerer Anteil hat tatsächlich einen schweren Verlauf.

Die Corona-Krise wird derzeit also dramatisch überdeckt durch eine andere Krise. Die Bundesregierung rechnet aktuell mit einer Million Menschen aus der Ukraine, die zu uns kommen werden. Die meisten davon sind nicht geimpft. Macht Ihnen das Sorgen?

Nicht sehr viel. Wir sollten zusehen, dass wir denen, die zu uns kommen, so schnell wie möglich ein Impfangebot machen. 

Können Sie nachvollziehen, dass Menschen angesichts des Schreckens des Krieges und der Erfahrung einer nur leichten Corona-Infektion sagen: Für mich ist die Pandemie beendet?

Ja. Man will das Thema nicht mehr hören. Ich mache mir jetzt vor allem Sorgen, wie es den Kindern und jungen Menschen geht, die erst Angst wegen der Pandemie haben mussten und jetzt wegen des Kriegs. Die Bilder hemmungsloser Gewalt sind gerade kaum zu ertragen. Wir müssen uns kümmern um eine ganze Generation junger Menschen, die in einem Klima der Angst aufwächst. Die Auswirkungen sind noch nicht abzuschätzen. Die Gemeinsamkeit beider Krisen sehe ich übrigens darin, dass sie gespeist und zum Teil unterhalten worden sind von massiver Desinformation. Endlich hat man begonnen, Russia Today zu zensieren. Einer der Gründe für die niedrige Impfquote im deutschen Osten ist Russia Today. Es ist unglaublich, welcher Schaden unserem Land damit angetan worden ist, auch hinsichtlich der Radikalisierung. Unsere Demokratie muss lernen, gegen solche Strömungen entschlossen vorzugehen. Hilflosigkeit hilft immer dem Aggressor. Unsere Angst vor einer Eskalation ist bei Putin schon einkalkuliert.

Es gibt etwa auch türkische Medien, die in Deutschland senden dürfen. Müsste man auch dort strenger schauen, was gesendet wird?

Ich glaube an die freiheitliche, aufgeklärte Gesellschaft, ich bin ein glühender Anhänger dieses Lebens in unseren europäischen Demokratien. Alle Medien, die das grundsätzlich infrage stellen, sollten von uns kritischer gesehen werden als bisher. Das Paradoxon, in dem wir stecken, ist natürlich, dass eine tolerante Gesellschaft keine Meinung unterdrücken möchte. Aber sie muss zur Not intolerant gegenüber Intoleranz werden. Wenn wir das nicht lernen, werden wir untergehen.

Was macht Ihnen derzeit Hoffnung?

Es gibt seit Kurzem einen präventiven Schutz für die vulnerablen Gruppen, bei denen die Impfungen nicht anschlagen. Wir können ihnen Antikörper verabreichen, die eine passive Immunisierung bewirken. Dadurch kann diesen Menschen die Teilhabe am normalen Leben im Sommer ermöglicht werden.

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