Nächste Klage gegen ErzbistumMissbrauchsopfer fordert 830.000 Euro

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Der Vollmond steht hinter der Kreuzblume auf dem Nordturm des Kölner Doms.

Der Vollmond steht hinter der Kreuzblume auf dem Nordturm des Kölner Doms.

Die Klägerin, Pflegetochter des Serientäters und Ex-Priesters Hans Ue., wurde als Kind und Jugendliche über Jahre von ihrem Pflegevater vergewaltigt. Die Klage hat erneut Signalcharakter.

Das Erzbistum Köln sieht sich im Missbrauchsskandal einer weiteren Schmerzensgeldklage gegenüber. Die frühere Pflegetochter des Serientäters und Ex-Priesters Hans Ue., Melanie F., verlangt 830.000 Euro als Entschädigung für das ihr zugefügte körperliche und seelische Leid mit all seinen Folgen bis heute. Weitere 20.000 Euro werden als  „immaterieller Vorbehalt“ für etwaige weitere Therapiekosten geltend gemacht. Die Klageschrift sei am Dienstag beim Landgericht Köln eingereicht worden, sagte F.s Anwalt Eberhard Luetjohann dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Der Sprecher des Landgerichts, Jan Orth, bestätigte auf Anfrage den Eingang der Klage (Az 5O220/23) mit dem Vorbehalt, dass sie der Beklagten noch nicht zugestellt worden sei. 

Das Erzbistum Köln teilte auf Anfrage mit, von einer Klage sei nichts bekannt. „Im Übrigen können wir uns zu laufenden Verfahren nicht äußern“, so eine Sprecherin, 

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Die heute 56 Jahre alte Frau war von ihrem Pflegevater in den späten 70er und frühen 80er Jahren über Jahre hinweg vielfach aufs Schwerste missbraucht worden. In zwei Fällen wurde sie von Ue. ungewollt schwanger. Die erste Schwangerschaft, die der jungen Frau nach eigenen Angaben damals nicht bewusst war, wurde durch einen gynäkologischen Eingriff beendet, dessen Ziel Ue. und der Frauenarzt ihr gegenüber verheimlichten. Bei der zweiten Schwangerschaft entschied sie sich selbst für einen Abbruch.

Zeugenaussage im Strafprozess gegen den Serientäter Hans Ue.

Der Fall wurde bekannt, weil F. im Dezember 2021 als Zeugin im Kölner Strafprozess gegen Ue. aussagte. Das Landgericht Köln verurteilte Ue. im Februar 2022 zu zwölf Jahren Haft wegen Missbrauchs von insgesamt neun Mädchen in mehr als 100 Fällen. Inzwischen ist auch ein anschließendes kirchliches Strafverfahren abgeschlossen. Der Vatikan verhängte gegen Ue. jetzt die Höchststrafe für einen Priester, die Entlassung aus dem Klerikerstand.

Nach langem Leugnen hatte Ue. am Ende die ihm zur Last gelegten Taten eingeräumt. Luetjohann geht davon aus, dass es deshalb im Zivilverfahren zum Fall von Melanie F. keiner eigenen Beweiserhebung bedarf. Die Geschehnisse seien „feststehend und unstreitig“. Wenn das Erzbistum als Beklagte die Geschehnisse bestreiten sollte, „dann holen wir Ue. aus dem Gefängnis als Zeugen“.

Erzbistum müsste auf die Einrede der Verjährung verzichten

F.s Fall ist sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich verjährt. In einem vorangegangenen Verfahren des Missbrauchsopfers Günter Menne machte das Erzbistum dies bei ähnlicher Konstellation nicht geltend und gab von seiner Seite den Weg für den Prozess frei, der einen Präzedenzfall darstellte. „In diesem beson­derem Fall hatte ich den Wunsch, auf die Einrede der Ver­jährung zu verzichten, ließ Woelki erklären. Menne bekam im Juni vom Landgericht Köln 300.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, die höchste Summe, die in einem solchen Fall jemals von einem deutschen Gericht festgesetzt wurde.*

Von dem noch nicht rechtskräftigen Urteil geht eine Signalwirkung mit möglichen Folgen auch für das innerkirchliche Entschädigungsverfahren aus. Auf diesem Weg hatte Menne 25.000 Euro als „Anerkennung des Leids“ erhalten. Der Betrag wurde vom Landgericht Köln auf die Schmerzensgeld-Summe angerechnet.

Kirchenrechtler Thomas Schüller erwartet eine „Klagewelle“

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller geht von „weitreichenden Folgen“ des Prozesses aus. Das Verfahren habe Vorbild-Charakter. Damit stehe den Bistümern und evangelischen Landeskirchen „eine Klagewelle“ bevor, weil sich immer mehr Betroffene ermutigt sähen, für ihre Rechte vor staatliche Gerichte zu ziehen.

Für Melanie F. schätzt Schüller die Erfolgsaussichten ihres Prozesses als hoch ein: „Die Vergehen und die kirchlichen Versäumnisse sind gut dokumentiert. Wenn sich die Rechtsprechung des Landgerichts Köln verstetigt und Betroffenen hohe sechsstellige Summen zugesprochen werden, droht finanzschwachen Bistümern bald die Insolvenz“, sagte Schüller dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hätten die Bischöfe Anfang Juli ein „Notfall-Sicherungssystem“ für Bistümer in finanziellen Turbulenzen beschlossen.

Reiche Diözesen wie Köln, Münster oder Paderborn könnten „vielleicht zehn, 15 solche Fälle mit Rücklagen oder bischöflichen Sondervermögen auffangen“, schätzt Schüller. „Aber danach ist Schluss. Dann muss man an die Kirchensteuer ran. Und das bedeutet: Alle, die die Kirche finanziell unterstützen, werden künftig bei der Entschädigung in Mithaftung für die Missbrauchstaten genommen.“

Klägerin-Anwalt: „Das Opfer wurde gleichsam ins Erzbistum aufgenommen“

Melanie F.s Klage gegen das Erzbistum beruht auf dem Grundsatz der Amtshaftung, nach dem die Kirche als Dienstherrin des Täters für die Folgen von dessen Vergehen im Dienst einstehen muss. Die Klägerin wirft dem damaligen Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner, eine schwerwiegende Verletzung seiner Obhutspflicht vor. Höffner hatte in den späten 70er Jahren dem Ersuchen Ue.s stattgegeben, die Vormundschaft für das damals zwölf Jahre alte Mädchen und einen zwei Jahre älteren Jungen übernehmen und sie aus einem Bonner Pflegeheim zu sich holen zu dürfen. „Das Opfer wurde gleichsam ins Erzbistum aufgenommen“, sagte Luetjohann.

Beide Kinder wohnten mit Ue. an wechselnden Einsatzorten in dessen Dienstwohnungen. Dort wurde F. nach ihrer Zeugenaussage vor Gericht über Jahre hinweg missbraucht. Schon während seiner Ausbildung zum Priester habe Ue. das Kind mit ins Priesterseminar genommen, führte Luetjohann weiter aus. „In seinem Studentenzimmer gab es nur ein Bett. Jeder wusste das.“ Auch später habe es seitens des Bistums keinerlei Kontrolle gegeben. Höffners Auflage, Ue. solle für die Versorgung der Kinder zusätzlich eine Haushälterin beschäftigen, missachtete der Geistliche, ohne dass dies Folgen für ihn gehabt hätte.

Was ist der Verlust eines ungeborenen Kinds wert?

Die geforderte Summe von 850.000 Euro orientiert sich nach Luetjohanns Worten an Beträgen, wie sie „im europäischen Rechtsraum schon üblich“ seien. Es bestehe Einigkeit, dass erlittenes körperliches und seelisches Lied niemals „exakt in Euro und Cent“ bemessen werden könne. Im Verständnis der Gesellschaft von Gerechtigkeit und Genugtuung würden aber bei schweren Persönlichkeitsverletzungen inzwischen Beträge im hohen sechsstelligen Bereich bis hin zu einer Millionensumme als angemessen erachtet.

Besonders schwierig sei es in Melanie F.s Fall, den ihr zugefügten immateriellen Schaden materiell zu bemessen, der ihr durch den – verheimlichten – Schwangerschaftsabbruch entstanden sei. „Was ist der Verlust eines ungeborenen Kinds wert?“, fragte Luetjohann provokativ. „Was ist es wert, dass Frau F. das Kind, das ihr ohne ihr Wissen genommen wurde, vielleicht hätte zur Welt bringen wollen? Was ist es wert, dass dieser ‚Nasciturus‘, dieses ungeborene Kind, nach bürgerlichem Recht auch schon eigene Rechtsansprüche seinem Erzeuger gegenüber gehabt hätte?“ Wir sind hier selbst ratlos, setzen aber auf eine umsichtige, kluge Entscheidung des Gerichts.“ Einen vergleichbaren Fall habe es seines Wissens noch nicht gegeben.

„Der Marianengraben der Unmoral“

Im Zuge des kirchlichen Entschädigungsverfahrens hat F. nach Angaben ihres Anwalts von der zuständigen „Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen“ (UKA) „spontan und für uns alle überraschend“ den Betrag von 70.000 Euro erhalten. Diese Summe liegt deutlich über der von den deutschen Bischöfen – unter Bezug auf einschlägige Schmerzensgeldtabellen – festgelegten Regel-Obergrenze von 50.000 Euro. Die durchschnittlich ausgeschütteten Leistungen liegen nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz nur bei gut 20.000 Euro.

Luetjohann geht davon aus, dass die Kirche auch im Fall F. nicht die Verjährung geltend machen werde. Sonst wäre „der Marianengraben der Unmoral erreicht“, sagte der Bonner Jurist. „Die gesamte römisch-katholische Kirche wäre mithineingezogen.“ Im Übrigen hielte er die Einrede der Verjährung selbst für „rechtsmissbräuchlich“, so Luetjohann. Man könne nicht Missbrauch über Jahrzehnte systematisch vertuschen und sich dann auf den Eintritt der Verjährung berufen. Auf Versuche einer Kontaktaufnahme bereits im vorigen Jahr mit dem Ziel, sich außergerichtlich zu einigen, habe das Erzbistum nicht reagiert, sagte Luetjohann. „Unser Eindruck ist, man lebt dort in einer anderen Welt hat noch immer nicht begriffen, was los ist. Vielleicht wacht man ja jetzt auf.“

Das im Auftrag Kardinal Rainer Woelkis von der Kölner Kanzlei Gercke und Wollschläger erstellte Rechtsgutachten zum Missbrauchsskandal enthält zwar den Fall Ue. mit der Feststellung mehrerer Pflichtverletzungen der Bistumsleitung unter dem früheren Kardinal Joachim Meisner. Ue.s Missbrauch der eigenen Pflegetochter ist allerdings im Gutachten nicht enthalten, weil die Verbrechen an ihr zum Zeitpunkt der Erstellung weder dem Erzbistum noch staatlichen Behörden bekannt waren. F. selbst will sich nach Aussage ihres Anwalts nicht persönlich zu der Klage äußern. Luetjohann sagte, sie sei von den damaligen Geschehnissen bis heute aufs Schwerste gezeichnet. Entsprechende fachärztliche Gutachten könnten dem Gericht vorgelegt werden.

Schüller betonte, im Fall Menne habe das Landgericht Köln entgegen den Aussagen im Gercke-Gutachten die Amtshaftung der Kirche selbstverständlich angenommen, das Erzbistum selbst sei dieser Rechtsauffassung gefolgt. „Auch das hat Signalwirkung“, so Schüller. Der Theologe machte darauf aufmerksam, dass das Bistum Münster allen Betroffenen, die sich mit einer Klageabsicht tragen, einen Rechtsbeistand der Kirche zugesichert haben – „gegen sich selbst und für die Gerechtigkeit“.

* In dieser aktualisierten Version des Beitrags wird klargestellt, dass die Einrede der Verjährung einen Prozess nicht in jedem Fall verhindert. Wie der Kölner Jura-Professor Markus Ogorek erklärt, kann das Gericht eine Schmerzensgeldklage auch bei eingetretener Verjährung zulassen, wenn das Pochen der beklagten Partei - in diesem Fall des Erzbistums - als Rechtsmissbrauch anzusehen wäre.

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