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Kölner Neurochirurg Goldbrunner„Ein günstiger Verlauf ist möglich“

Lesezeit 7 Minuten

„Ich habe in meinem Beruf viele schlimme Sachen gesehen“: Roland Goldbrunner

Köln – Der Blick aus dem Büro von Professor Roland Goldbrunner ist überwältigend. Da die Neurochirurgie der Kölner Universitätsklinik im elften Stock des Hauptgebäudes untergebracht ist, liegt dem gebürtigen Straubinger die ganze Stadt zu Füßen. Mancher habe ihn davor gewarnt, nach Köln zu gehen, sagt der 47-Jährige. Trotzdem nahm er 2009 den Ruf der Universität an, Direktor der Klinik für Allgemeine Neurochirurgie und geschäftsführender Direktor des Zentrums für Neurochirurgie zu werden. Längst fühlt er sich sehr wohl im Rheinland.

Herr Professor Goldbrunner, Sie schauen aus beruflichen Gründen Menschen in den Kopf. Warum sind Sie Neurochirurg geworden?

Goldbrunner: Bei mir war es eine ganz jungenhafte Begeisterung. Die Bauchchirurgie war mir ehrlich gesagt ein bisschen zu roh. Die internistischen Fächer lagen mir da schon viel näher. Ich habe schließlich ein Praktikum in der Neurochirurgie gemacht, da war ein intellektueller Anspruch spürbar, das hat mich fasziniert.

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Was ist Ihnen wichtiger: zu helfen oder Erkenntnisse zu gewinnen?

Goldbrunner: Es muss beides sein. Wenn es nur der Wunsch nach Erkenntnissen gewesen wäre, wäre ich Ingenieur geworden. Es muss um den Menschen gehen.

Gefühle, Gedächtnis, das sind zentrale Fähigkeiten des Menschen. Wo fühlen wir denn im Gehirn?

Goldbrunner: Das Stammhirn steuert die basalen Lebensfunktionen– Atmen, Herzschlag etc. Für das Fühlen und die Motorik beispielsweise sind zwei große Hirnflächen – sicherlich zusammen an die zehn Quadratzentimeter – verantwortlich. Das ist allerdings auch noch eine relativ einfache Funktion. Zwei Synapsen – fertig. Kognitive Fähigkeiten, also Erinnern und Denken – das sind Funktionen, die nicht mehr durch ein bestimmtes Areal auf der Hirnoberfläche repräsentiert werden, sondern nur durch ein funktionelles Zusammenspiel verschiedener Areale zustande kommen.

Fürs Erinnern brauchen wir alles, was wir im Kopf haben?

Goldbrunner: Wir wissen, dass zum Beispiel das Gedächtnis mehrere Hirnareale benötigt. Es funktioniert nur in einem ganzen Erregungskreis, welcher das sogenannte limbische System miteinbezieht, das in seiner Gesamtheit aktiviert werden können muss. Es gibt eine gewisse Redundanz über die beidseitige Anlage in der rechten und linken Hirnhälfte.

Ist Redundanz ein Konstruktionsprinzip unseres Gehirns?

Goldbrunner: Bei den einfachen Funktionen – Motorik, Sensibilität – nicht. Wenn Strukturen zerstört werden, sind die für immer weg. Die höheren Hirnfunktionen sind etwas plastischer, hier kann man durch Training eine ganze Menge wiederherstellen.

Heißt das nicht, dass unser Gehirn ein Potenzial hat, das wir zu großen Teilen gar nicht ausschöpfen?

Goldbrunner: Einstein sprach von zehn Prozent, die wir tatsächlich nutzen. Ich sehe aber keinen Weg, wie wir die anderen 90 Prozent für uns nutzbar machen können.

Kann sich das Gehirn denn selbst heilen?

Goldbrunner: Wir wissen mittlerweile, dass im Hirn Stammzellen sitzen, die in der Lage sind, zerstörte Nervenzellen zu ersetzen. Leider sind es nur extrem wenige – anders als beispielsweise bei der Leber: Da kann man bis zu Dreiviertel wegnehmen, aber sie wächst wieder zur vollen Größe heran. Bei der Heilung von Hirnfunktionen diskutieren wir über andere Möglichkeiten: die Aktivierung oder gar Neustrukturierung von Synapsen sowie die Beeinflussung elektrischer Oszillationen, um beispielsweise verloren gegangene Erinnerungen wieder verfügbar zu machen. Dies sind aber noch zu großen Teilen Hypothesen.

Wie kann man ein verletztes Gehirn wiederherstellen – nach dem schweren Skiunfall des früheren Formel-1-Weltmeisters Michael Schumacher wollen das viele wissen. Sie kennen seinen Fall natürlich nicht im Detail. Aber welche Heilungschancen haben Menschen mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma üblicherweise?

Goldbrunner: Auch bei diesen Patienten ist ein sehr günstiger Verlauf möglich. Das heißt: vollständige Wiederherstellung der Beweglichkeit und der Möglichkeiten zur Interaktion und Kommunikation, weitestgehende Wiederherstellung der Persönlichkeit. Auf etwa die Hälfte bis zwei Drittel derjenigen, die eine solche Verletzung überleben, trifft das zu. Aber ich würde mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass bei solchen Patienten später Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit und der Gedächtnisleistungen – insbesondere des Kurzzeitgedächtnisses – auftreten. Auch die Persönlichkeit mag betroffen sein: Vielleicht werden sie ein bisschen weicher, duldsamer.

Die Patienten, die bei Ihnen mit schweren Schädel-Hirn-Traumata eingeliefert werden, sind meistens Opfer eines Verkehrsunfalls?

Goldbrunner: Ja, wobei es sich selten um die Autofahrer handelt, sondern meistens um Fußgänger oder Radfahrer, die wesentlich schlechter geschützt sind. Wer heute Rad fährt und keinen Helm aufsetzt, lebt hochgefährlich. Das ist eigentlich Wahnsinn.

Wie viele Patienten überleben denn ein schweres Schädel-Hirn-Trauma?

Goldbrunner: Das hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Zunächst vom Notarzt, der als Erster Hilfe leistet. Er stellt die erste Diagnose: Kann der Verunglückte die Augen aufmachen, kann er sich bewegen, reagiert er auf Ansprache? Da gibt es ein festgelegtes Punktesystem. Hat ein Patient weniger als acht Punkte, sprechen wir von einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Ein Viertel dieser Menschen überlebt diese Verletzung leider nicht.

Wie wichtig ist Zeit?

Goldbrunner: Zeit ist ein ganz entscheidender Faktor. Deswegen ist die Entscheidung der Notärzte so wichtig: Kommt der Patient in das nah gelegene, aber kleinere Kreiskrankenhaus, oder wird er direkt in die nächste neurochirurgische Fachklinik gebracht – was meist sinnvoller ist.

Wie geht es weiter?

Goldbrunner: Die Patienten müssen intensivmedizinisch behandelt werden. Oft werden sie mehrmals operiert – bis hin zum Abnehmen eines Teils der Schädeldecke, um für das anschwellende Gehirn Platz zu schaffen. Diesen „Knochendeckel“ setzen wir später wieder ein. Nach etwa fünf bis sieben Tagen sind die Patienten in der Regel aus der unmittelbaren Lebensgefahr heraus.

Welche Phasen folgen dann?

Goldbrunner: Wenn der Hirndruck sich normalisiert, holen wir den Patienten langsam aus dem künstlichen Koma und prüfen, was er kann: Hände, Beine bewegen, was spürt er. Gedächtnis und Konzentration kann man erst viel später untersuchen. Die Patienten müssen dazu sehr viel belastbarer sein. Günstig ist, wenn wir beim noch bettlägrigen Patienten eine Früh-Reha durchführen können. Das ist aber ziemlich aufwendig – dafür braucht man fast eine kleine Intensivstation. Aber den Patienten geht es anschließend deutlich besser. Im Verlauf der weiteren Regeneration setzen wir eine Mischung unterschiedlicher therapeutischer Methoden ein: Physiotherapie, Ergotherapie, Neuro-Psychologie – Erkennungsübungen, Erinnerungstraining –, Logopädie – Schluck- und Sprachübungen – und so weiter.

Wie groß ist die Zeitspanne, in der sich der Zustand der Patienten verbessern kann?

Goldbrunner: Ein bis zwei Jahre tut sich etwas. Bis dahin lohnt es sich zu üben, zu trainieren. Das, was bis dahin erreicht ist, lässt sich dann kaum noch verbessern.

Wo kann sich die Medizin noch verbessern, um erfolgreicher zu helfen?

Goldbrunner: Es gibt eine Reihe von medizinischen Techniken, die wir bei Schädel-Hirn-Traumata einsetzen: den Körper des Patienten herunterkühlen, Kohlendioxid senken, um die Gefäße zu verengen, bestimmte Sedierungen. Die Maßnahmen sind seit längerem bekannt, die Erkenntnisse über die sinnvolle Kombination zum richtigen Zeitpunkt sind aber noch relativ jung. Es gibt auch festgeschriebene Standards, wie die Verfahren eingesetzt werden sollen. Leider werden diese aber nur zu 30 Prozent eingehalten, sagt eine US-Studie. Wir könnten auf einen Schlag einen großen Schritt vorankommen, wenn wir den standardisierten Einsatz unserer Therapien sichern. An großen Zentren mit Erfahrung klappt das, an kleineren gibt es leider Lücken.

Geboren 1966 in Straubing. Medizinstudium in Regensburg und Würzburg, wo er 1993 promovierte und im Jahr 2001 habilitierte. Berufliche Stationen: Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie der Universität Würzburg, das renommierte Laboratory for Neurooncology in Washington, D.C., und die Neurochirurgische Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2009 folgte er dem Ruf der Universität zu Köln und ist heute Direktor der Klinik für Allgemeine Neurochirurgie und geschäftsführender Direktor des Zentrums für Neurochirurgie. Goldbrunner ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Wenn man Sie so hört, kann man nur feststellen, dass wir schon sehr viel über das Gehirn wissen.

Goldbrunner: Im Gegenteil: Wir wissen viel zu wenig. Das spüren wir wirklich jeden Tag. Wir können zwar schon sehr viel, wir machen Hirntumor-Operationen in Wachnarkose und können während der OP am Gehirn ständig zusammen mit dem Patienten überprüfen, welche Funktion bei ihm betroffen ist. Das ist Routine. Andere Aspekte der Tumoroperationen sind aber noch problematisch: Der Übergang zwischen erkranktem und gesundem Gewebe ist fließend. Und wir müssten eigentlich genau wissen, wie weit dürfen wir gehen und wo müssen wir unbedingt aufhören. Aber die Instrumente, die uns dafür zur Verfügung stehen, sind immer noch relativ grob.

Wird man eigentlich religiös, wenn man diese einzigartige Komplexität des Gehirns immer intensiver kennenlernt?

Goldbrunner: Das sollte man meinen. Ich habe aber in meinem Beruf so viele schlimme Sachen gesehen – beispielsweise Opfer von Gewalttaten in der Notaufnahme –, da wird einem die Religiösität regelrecht ausgetrieben. (Horrorfilme sind nichts dagegen). Aber ich bewundere dieses wunderbare Organ, das ganz bestimmt.

Das Gespräch führten Lutz Feierabend und Peter Pauls