Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Professor Dr. Gerd Lehmkuhl verlässt KölnNichts, was man fürchten müsste

Lesezeit 6 Minuten

Lehmkuhl war auch ein gefragter Experte im Team der „Stadt-Anzeiger“-Telefonaktion, hier im Jahr 2002.

Köln – Es war dieses Funkeln und Glitzern. Es waren diese vielen verschiedenen Formen, die er hütete wie einen Schatz, immer wenn er einen geschenkt bekam. Es waren diese Knöpfe der Uniformen in der Schneiderei seiner Tante in Bremerhaven, spezialisiert für Schifffahrtsbedarf, die den Berufswunsch des jungen Gerd Lehmkuhl scheinbar vorzeichneten. „Kapitän wollte ich werden.“ Dass es dann doch anders gekommen ist, kann man getrost als Glücksfall für Köln bezeichnen.

Er, der nun bald in Berlin leben wird, wo seine Frau an der Charité die gleiche Position wie er in Köln hatte, fürchtete nichts. Ebenso wenig wie die Krankheiten, die er behandelte, zu fürchten sind. „Nichts, was man fürchten müsste“ überschreibt er denn auch seine Abschiedsvorlesung, die er an diesem Montag vor seinen geladenen Gäste in der Universität abhalten wird – entliehen dem Titel eines Essays von Julian Barnes.

Sein Onkel war schon Mediziner. Kind bezogene Medizin und Entwicklungsfragen faszinierten den jungen Studenten Lehmkuhl schon früh. Als er mit 40 Jahren auf den soeben neu gegründeten Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Universität zu Köln berufen wurde, war die Stadt kinder- und jugendpsychiatrisch betrachtet Diaspora. Ein unbestelltes Feld. Weit und breit kein Glitzern. Dafür viele traurige Verläufe von Kinder-Krankheitsgeschichten.

Die Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter war so ziemlich unerforscht. Lehmkuhl war der erste Kliniker in seinem Fach. In der Behandlungspraxis war dieser Umstand vor allem für die betroffenen Familien zu spüren. „Sollte ein Kind stationär untersucht und therapiert werden, mussten die Eltern mit ihm bis nach Viersen, Bonn oder Düsseldorf.“ Alle sozialen Bezüge, zu Schule oder Freunden, aber auch zu den Eltern wurden gekappt, wenn das Kind in der Klinik bleiben musste.

Es gab keine niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater. „Heute gibt es fast 30.“ Die heutige Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik war nicht mehr als eine kleine psychiatrische Abteilung der Kinder- und Jugendklinik. Die „Keimzelle“ nennt Lehmkuhl sie rückblickend.

Eine Selbsthilfegruppe von Eltern war es, die das ändern sollte. Sie wandte sich verzweifelt an das Ministerium. Die Mütter und Väter versuchten seit Jahren vergeblich, einen Ort zu finden, an dem ihre Kinder langfristig therapeutisch begleitet werden konnten. Das Gebäude der ehemaligen plastischen Chirurgie stand leer. „Da wohnten die Tauben drin“, erinnert sich Lehmkuhl. Und in der ebenfalls noch jungen „Kölner Stadt-Anzeiger“-Aktion „wir helfen“ fand der Kinder- und Jugendpsychiater einen Mitstreiter. Vorsitzende Hedwig Neven DuMont rief zum Spenden für die „Villa Kunterbunt“ auf. Leser überwiesen eine Million Deutsche Mark für den Zweck. Im Oktober 1995 konnte die Villa eröffnet werden.

Deren Bau und deren Fürsprecher hätten viel bewirkt, sagt Lehmkuhl heute: bezogen auf die öffentliche Darstellung der Krankheitsbilder in den Medien sowie Anerkennung in der Stadt – aber auch den Universitätskollegen der verschiedenen Disziplinen. Als „ein besonders Fach zwischen den Stühlen“ bezeichnet Lehmkuhl die vielen Wurzeln und Facetten seiner Wissenschaft für die er anfangs oft belächelt, teils auch argwöhnisch beobachtet worden sei. Psychologie, Pädagogik, Psychiatrie, Kinderheilkunde – in allen Feldern war er zu Hause. Und das Vakuum dazwischen füllte Lehmkuhl bald aus, in dem er die Nöte der Kinder in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte.

Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl wurde 1948 im Bremerhaven geboren und studierte Medizin an den Universitäten Köln und Hamburg sowie Psychologie an der RWTH Aachen. Dem folgten Anerkennungen zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin sowie als Psychoanalytiker.

1988 bekam er den Ruf auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Universität zu Köln. Seit 1988 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik. Von 1989 bis 1999 war er zudem Vorstandsvorsitzender des Alfred-Adler-Instituts Aachen-Köln. 2000 bis 2004 war er Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. Als Vorsitzender des Fördervereins der Klinik konnte Lehmkuhl dank Spenden an „wir helfen“ 1994 mit Klinikschulleiter Wolfgang Oelsner den Grundstein für das Therapie- und Lernzentrum „Villa Kunterbunt“ auf dem Klinikgelände legen.

Mit der „Elternwerkstatt“ begründeten die beiden Männer im studio dumont eine Informationsreihe zu aktuellen Fragen von seelischer Gesundheit und Erziehung. Der letzte Abend mit Gerd Lehmkuhl als ständigem Experten findet am Mittwoch, 3. Dezember, statt. Thema ist die musikalische Früherziehung. Beginn ist um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei. Lehmkuhls Nachfolger an der Stelle wird Professor Christoph Wewetzer aus Holweide. (kaz)

Mit seinen Erkenntnissen über die neuropsychologischen Folgen von Schädel-Hirn-Traumata etwa, über die er sich 1986 habilitiert hatte, half er betroffenen Familien ebenso wie mit der Diagnostik und Therapie von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und Schlafstörungen. Deren Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten hatte er mittels einer Befragung von Eltern von 9000 Erstklässlern belegt. Viele Symptome, deren frühzeitige Erkennung zur Vermeidung von Folgeschäden wichtig ist, brachte er mit der im studio dumont etablierten „Elternwerkstatt“ der breiten Öffentlichkeit nahe und nahm damit vielen Eltern Angst, Unsicherheit und Schuldgefühle. Er hat psychische Krankheitsbilder wie das Asperger Syndrom enttabuisiert. Lehmkuhl geht zurecht „mit einem guten Gefühl“.

Mit der Stadt, vielen freien Trägern und Stiftungen hat er sich vernetzt und damit eine nicht dagewesene Struktur in der Versorgung jüngster Psychiatrie-Patienten aufgebaut. Das Thema ADHS etablierte er als ein Feld für Früherkennung schon im Kindergartenalter. Dazu kooperierte Lehmkuhl mit vielen Kindertagesstätten. Aber auch Museen wie das Wallraf-Richartz-Museum öffneten sich für seine Themen. „Und meine Fakultät hat mich in allen meinen Vorhaben immer unterstützt.“ Mit Lehmkuhl begann eine Ära und eine „Klinik ohne weiße Kittel“, so Wegbegleiter Wolfgang Oelsner

Aus einem Spagat zwischen wissenschaftlicher Begleitung und klinischer Versorgung wurde eine andauernde Annäherung. Gerne erinnert such der Mediziner an viele Tagungen und Kongresse wie den der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1993 in Köln. Er habe das Glück gehabt, dass ihm „mit viel Rückenwind“ in einem offenen Köln einiges gelungen sei. Im Zukunftskonzept der Klinik 2025, an dem er mitarbeitete, ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) als ein Baustein eines künftigen Eltern-Kind-Zentrums, das entstehen soll, fest eingeplant. Auch eine gemeinsame Station für Psychosomatik „als Schnittstelle zwischen Kinderklinik und KJP“ ist dort als Kooperation vorgesehen.

Noch wichtiger wird seiner Meinung nach in Zukunft die Prävention. „Können wir Vorboten wie Störungen im Kleinkindalter früh und rechtzeitig erkennen, sind spätere psychische Erkrankungen vermeidbar.“ Auch ambulante Angebote für ältere Jugendliche beim Übergang ins Erwachsenenalter seien nötig – wenn sich diese nicht mehr zu den Kindern auf einer Kinderstation, aber eben auch noch nicht zu den älteren Erwachsenen zugehörig fühlen. „Vor allem für chronisch Kranke bedeutet das oft einen schmerzhaften Bruch.“ Die Finanzierung der Behandlung durch die Krankenkassen bei dem Übergang von einem System ins andere erweise sich oft als problematisch. Um in diesem Punkt Lösungen zu finden, stehe er gerne beratend zur Verfügung, wenn dies gewünscht sei, sagt der bei Studierenden wie Mitarbeitern ungewöhnlich beliebte Chef.

Vermissen werde er den Austausch mit den jungen Kollegen und seinen kleinen Patienten, die ihm sagen: „Schade, dass Du gehst“. Doch Lehmkuhl weiß, dass er ein gut bestelltes Feld hinterlässt. „Ich bin sicher, dass es so weiter gehen wird.“ Seine Berufswahl hat er nie bereut. Als Arzt sei man einfach mehr zu Hause als ein Kapitän. „Diese Abschiedsszenen am Hafen waren einfach zu traurig.“ Der verhinderte Kapitän liebt inzwischen ohnehin mehr die Berge als die See. Und auch, wenn ihm rückblickend die vielen Jahre gar nicht viel vorkamen, sei schließlich auch der Ruhestand „nichts, was man fürchten müsste“.