Unser Kolumnist Markus Ogorek beleuchtet den Konflikt um die Wahl von Richtern am Bundesverfassungsgericht.
Fall Brosius-GersdorfDie richtigen Schlüsse aus einer raffinierten Kampagne ziehen

Die Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf stellt im April 2024 den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vor.
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Viel ist in den vergangenen Tagen über die gescheiterte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht diskutiert worden. Während in erster Linie aus dem Unionslager zu hören war, die Ablehnung eines Richtervorschlags sei nicht unüblich und füge sich in eine Reihe früherer Fälle ein, sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier davon, die schwarz-rote Koalition habe sich „selbst beschädigt“. In der Debatte gerät dabei zuweilen einiges durcheinander.

Professor Markus Ogorek bei der 35-Jahr-Feier des deutsch-französischen Studiengangs Rechtswissenschaften (DFM) der Universität zu Köln am 14. Juni 2025 in Paris
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Richter des Bundesverfassungsgerichts werden vom Bundestag oder Bundesrat gewählt – ein Verfahren, das seit Jahrzehnten Kritik auf sich zieht. Weil die parteigebundenen Abgeordneten über die Personalien entscheiden, würden nur politisch genehme Kandidaten berücksichtigt, heißt es. Doch diese Kritik greift zu kurz. Zum einen lässt sich diese Behauptung nicht anhand der Spruchpraxis des Gerichts belegen. Zum anderen bleibt absolute Neutralität im Auswahlprozess illusorisch: Jeden Menschen prägen politische Grundüberzeugungen, ob er sie offenlegt oder nicht. Auch vermeintlich „neutrale“ Gremien würden Kandidaten nicht frei von eigenen Vorprägungen bewerten. Zudem sorgt das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag in der Praxis für Ausgleich. Fachlich weniger geeignete oder eher einseitig politisierte Bewerber scheitern meist frühzeitig.
Immer wieder scheiterten Kandidaten an politischen Vorbehalten
Die Kehrseite: Schon eine größere Fraktion kann mit ihrem Veto eine Wahl verhindern, insbesondere dann, wenn sie den Kandidaten nicht selbst vorgeschlagen hat. Solche Fälle gab es immer wieder: In den 1990er Jahren scheiterten etwa Herta Däubler-Gmelin (angeblich wegen schwacher Examina) und Ulrich Preuß (wegen seines linken Politikverständnisses). 2008 traf es Horst Dreier, ausgerechnet den Doktorvater von Frauke Brosius-Gersdorf. Seine Thesen zur Menschenwürde galten manchem als „relativierend“. Damals blockierte die Union. In jüngerer Zeit war es eher das linke Lager, das Kandidaten aus dem Rennen nahm: Der an der Universität zu Köln als Honorarprofessor lehrende CDU-Politiker Günter Krings – laut dem „Welt“Journalisten Robin Alexander einer der „fähigsten Juristen seiner Generation“– und der Bundesverwaltungsrichter Robert Seegmüller kamen so nicht zum Zug.
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Um Personalien ist zwar immer gerungen worden, bislang aber meist hinter verschlossenen Türen des Parlaments und somit fernab der Öffentlichkeit. Sobald die Sondierer bemerken, dass sie in ihrer Fraktion keine Mehrheit für einen bestimmten Vorschlag gewinnen können, ziehen sie üblicherweise schnell den Stecker. Dass es mit Blick auf den Wahlvorschlag Brosius-Gersdorf hier gravierende Fehleinschätzungen im Parlament gegeben hat, liegt auf der Hand. Niemals wäre die Debatte um die in Fachkreisen anerkannte Rechtsprofessorin jedoch derart schnell und stark eskaliert, wenn sie nicht massiv angefacht worden wäre.
Grotesk überzeichnete Positionen
Kaum wurden erste Diskussionen in der Unionsfraktion über den Wahlvorschlag laut, setzte eine unerbittliche Kampagne neurechter Medien ein. Allein auf dem Online-Portal „Nius“, das vom geschassten „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt geleitet wird, erschienen mehr als 20 Artikel mit zum Teil grotesk überzeichneter Darstellung von verfassungsrechtlichen Positionen Brosius-Gersdorfs. Eine Auswertung von „politsphere“ ergibt, dass besonders das Thema „Abtreibung“ stark bespielt wurde. Teilweise kursierten in den sozialen Netzwerken zusammengeschnittene „Belege“, die wirkten, als wollte die Verfassungsrechtlerin ungeborenem Leben überhaupt keinen Grundrechtsschutz zubilligen – was nicht zutrifft.
Raffiniert war das Thema deshalb gewählt, weil es einen klaren kampagnenorientierten Zuschnitt zuließ: Nicht nur erreichte man besonders konservative Unionsabgeordnete, die ohnehin mit der Personalie haderten. Vielmehr sprach man auch den christlichen Flügel in der CDU/CSU an, aus dem sich in Teilen auch das „Merkel-Lager“ rekrutierte. Durch diese zielgerichtete Aufwiegelung kippte am Ende die Zweidrittelmehrheit.
Offensichtlicher Nutznießer des gesamten Geschehens war ohne Zweifel die AfD, entsprach es doch dem Szenario aus einem jüngst bekanntgewordenen internen Konzeptpapier . Darin hatte sich die AfD-Fraktion unter dem Motto „Schwarz-Rot spalten“ diverse Strategien ins Pflichtenheft geschrieben.
Es greift daher zu kurz, den Grund für die Heftigkeit der Debatte allein in der späten Absage der Wahl oder darin zu suchen, dass die Union sich auf – offenbar haltlose – Plagiatsvorwürfe stützte. Der Unterschied zu früheren Fällen gescheiterter Richterbesetzungen besteht vor allem darin, dass inzwischen starke Kräfte am Rand der Gesellschaft darauf hinarbeiten, demokratischen Prozessen Sand ins Getriebe zu streuen.
Es liegt an den politisch Verantwortlichen, hieraus endlich die richtigen Schlüsse zu ziehen – und sich darauf einzustellen, dass der Wind in der Berliner Republik deutlich rauer geworden ist.