„Viele schätzen ihn noch“Kirchenvertreter sagen in Kölner Missbrauchsprozess aus

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Priester Köln Ue

Der angeklagte katholische Priester Hans Ue. (M.) beim Prozess in Köln

Köln – Im Prozess gegen den katholischen Priester Hans Ue., der vor dem Landgericht Köln wegen vielfachen sexuellen Missbrauchs seiner drei Nichten in den 1990er Jahren und eines weiteren Mädchens im Jahr 2011 angeklagt ist, rücken nun das Agieren der kirchlichen Vorgesetzten und die Frage in den Blick, ob bestimmte Taten durch ein früheres, entschiedeneres Eingreifen hätten verhindert werden können.

Für den 13. Januar ist der frühere Offizial (oberster Kirchenrichter) des Erzbistums Köln, Günter Assenmacher, als Zeuge laden. Er war bereits 2010/11 mit dem Fall Ue. befasst. Das Missbrauchsgutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke vom März 2021 hält Assenmacher falsche Rechtsauskünfte vor, was zu seiner Entpflichtung durch Kardinal Rainer Woelki führte.

In den Zeugenvernehmungen am 11. Januar wurde zudem deutlich, dass Ue. sich nach eigener Aussage nach wie vor als „Bauernopfer“ sieht – sowohl seiner eigenen Familie und deren finanzieller Interessen als auch des Erzbistums und namentlich des Kölner Erzbischofs, Kardinal Rainer Woelki.

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Nachermittlungen der Staatsanwaltschaft

Am Beginn des 14. Verhandlungstags jedoch ließ der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann den Verfahrensbeteiligten zunächst einen umfangreichen, etwa fingerdicken Schriftsatz mit Ergebnissen weiterer Ermittlungen aushändigen, die die Staatsanwaltschaft auf Ersuchen des Gerichts angestellt hatte. Das erhärtet den Eindruck aus dem bisherigen Prozessverlauf, wonach dem Gericht klare Hinweise auf eine ganze Reihe weiterer Opfer Ue.s vorliegen.

Da eine Reihe von Belastungszeuginnen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und mitunter zum Schutz vor Retraumatisierungen sogar in Abwesenheit des Angeklagten aussagt, lässt sich die nunmehr höhere Zahl weiterer mutmaßlicher Opfer nicht genau angeben.

Euskirchener Kreisdechant sagt als Zeuge aus

Der Kreisdechant von Euskirchen, Guido Zimmermann, unter dessen Leitung Ue. seit 2016 bis zu seiner Beurlaubung im April 2019 als Seelsorger im Ruhestand tätig war, gab an, dass Ue. in dieser Zeit immer wieder Kontakt zu Kindern hatte, etwa im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung oder bei den Messen mit Ministrantinnen und Ministranten.

Zwar habe er Ue., der sich im Zülpicher Stadtteil Nemmenich ein leerstehendes Pfarrhaus als Alterswohnsitz gekauft hatte und dort hingezogen war, vor allem in der Altenseelsorge eingesetzt. Doch hätte aus seiner Sicht nichts dagegengesprochen, dass Ue. auch mit Kindern und Jugendlichen zu tun hatte.

Bistumsleitung erwähnte Vorwürfe nicht

Dass gegen den heute 70 Jahre alten Geistlichen bereits 2010 massive Vorwürfe sexuellen Missbrauchs im Raum gestanden hatten, habe die Bistumsleitung ihm nicht mitgeteilt. Davon erfahren habe er selbst erst am 5. April 2019, just an dem Tag, an dem das Erzbistums Ue.s Beurlaubung in einer Pressemitteilung öffentlich machte.

Auf Nachfrage des Richters räumte Zimmermann ein, dass sich Generalvikar Markus Hofmann schon Ende Dezember 2018 bei ihm unter der Auflage „strengster Vertraulichkeit“ nach Ue.s Aufgaben erkundigt, nach Kontakten mit Kindern gefragt und ihm bedeutet habe, dass er solche künftig verhindern und ein Auge auf Ue. haben solle. Er habe Zimmermann „für das Thema sensibilisiert“, heißt es in einer Aktennotiz Hofmanns. Und: Er habe Zimmermann mitgeteilt, dass er bald „Weiteres hören“ werde.

Als Seelsorger beliebt

Obwohl er sich „so seine Gedanken gemacht“ habe, habe ihn die spätere Mitteilung über die Vorwürfe gegen Ue. schockiert, genau wie die Katholikinnen und Katholiken in Nemmenich, bei denen Ue. sich großer Beliebtheit erfreut habe, sagte Zimmermann. „Ich weiß, dass viele ihn immer noch schätzen. Das ist so. Ue. ein vielfacher Missbrauchstäter – dieser Gedanke sei für viele geradezu unvorstellbar gewesen.

Ue. habe insofern offen über die Vorwürfe geredet, als er sie als Falschbeschuldigungen und Teil von Intrigen dargestellt habe. Offenbar hinterließ er damit Eindruck: Der örtliche Schützenverein lud ihn im Juni 2019 zur Teilnahme am Umzug durchs Dorf ein. Das allerdings habe auch zu Beschwerden geführt, die Zimmermann nach eigenen Worten teilte und Ue. vortrug. Dieser wiederum habe die Einwände „erst nicht recht eingesehen“.

„Alte Fälle herausgeholt“

Schon in einem vorangegangenen Gespräch über die Vorwürfe sei Ue. außer sich gewesen, wie die Bistumsleitung mit ihm umgehe. Sie habe alte Fälle herausgeholt, hochgepusht und seine Nichten mit finanziellen Anreizen dazu gebracht, ihre Beschuldigungen von 2010 zu erneuern. Für seine Verwandtschaft sei das die Gelegenheit, in einer finanziellen Notlage an Geld zu kommen.

Zimmermann ging nach eigenen Angaben in der Folge auf Distanz zu Ue. Er berichtete aber über Solidarisierungen von Gemeindemitgliedern, unter denen die Information kursierte, Ue. sei vollkommen mittellos und müsse sich Lebensmittel bei der Tafel holen, weil er vom Erzbistum kein Geld mehr bekomme. Zimmermann konnte sich dann aber auch an den 3er-BMW mit E-Antrieb in Ue.s Besitz erinnern.

Mit Plätzchen versorgt

Die These vom Bauernopfer habe Ue. zuletzt vor Weihnachten wiederholt, als Mitglieder der Gemeinde ihm Plätzchen gebracht hätten. „Bauernopfer? Nach allem, was hier in der Hauptversammlung war?“, gab Richter Christoph Kaufmann mit kaum merklich erhobener Stimme zurück.

Im Nachhinein, so Zimmermann, sei er „verwundert oder auch erschrocken“, dass man ihn nicht über Ue.s Vorgeschichte informiert habe. Wie vor den Kopf geschlagen wirkte der 50 Jahre alte Geistliche, als der Richter ihm sagte, es sei auch während Ue.s Zeit in Nemmenich zu Übernachtungen minderjähriger Mädchen im Haus des Pfarrers gekommen. Diese Praxis, von der aus Ue.s Zeit als Seelsorger in Gummersbach im Prozess vielfach berichtet worden war, nannte Zimmermann ein „No Go“ für einen Priester. Hätte er in Nemmenich je von so etwas erfahren, hätte er Ue. nicht nur zur Rede gestellt, sondern auch Meldung in Köln gemacht.

Erster Vorgesetzter mit Gedächtnislücken

Ue.s erster Vorgesetzter, der heute 77 Jahre alte Bernhard A., machte für die Zeit ab dem Sommer 1979, in der Ue. als Diakon in Alfter mit ihm unter einem Dach im Pfarrhaus gelebt hatte, große Gedächtnislücken geltend. „Daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern“ – das war die am häufigsten gebrauchte Wendung für die Zeit vor Ue.s Priesterweihe 1980. Auch habe er keine Aufzeichnungen über die Zeit vor vier Jahrzehnten mehr.

Das Gericht interessierte sich speziell für die wohl nicht nur im Erzbistum Köln singuläre Situation, dass Ue. schon als angehender Priester zwei Pflegekinder in seiner Obhut hatte und die beiden auch mit ins Pfarrhaus nach Alfter brachte. Wie die heute 55 Jahre alte Pflegetochter vor Gericht aussagte, sollen bereits hier sexuelle Übergriffe des Pflegevaters ihren Ausgang genommen haben, die später in verschiedenen Formen des Geschlechtsverkehrs und zwei ungewollten Schwangerschaften gipfelten.

„Keine problematische optische Wahrnehmung“

A. versicherte, er habe seinerzeit keinerlei Auffälligkeiten bemerkt oder „problematische optische Wahrnehmungen“ gehabt, machte aber auch eine gewisse persönliche Distanz zu Ue. und den Kindern deutlich. Wie diese oben unter dem Dach mit dem Diakon gewohnt hätten, wisse er nicht mehr, habe das aber auch nie kontrolliert. Als die Kinder sich eine Katze wünschten, sei klar gewesen, dass das Tier bei ihm in den unteren Stockwerken der Wohnung nichts zu suchen hätte.

Die Aufnahme der Kinder ins Pfarrhaus habe er überhaupt nur genehmigt, weil auch die Bistumsleitung einverstanden gewesen sei. A.s Bedenken in einer Art Abschlusszeugnis für Ue.s Ausbilder galten denn auch nicht der Kinderbetreuung mit all ihren Erfordernissen, sondern der Frage, ob Ue. seinen Aufgaben als Geistlicher in gebührender Form werde erfüllen können, wenn er zu allem Überfluss auch noch Vaterpflichten hätte. Andererseits, so A.s damalige Erwägung, wäre „eine andere Lösung für die Kinder nur mit großem Schaden möglich“.

Druck auf Kardinal Höffner

Aus Unterlagen des Bistums geht hervor, dass Ue. vor seiner Weihe massiven Druck auch auf den damaligen Kardinal Joseph Höffner machte, ihm das Sorgerecht zu übertragen und die Kinder in seiner Obhut zu belassen. Was dann auch geschah.

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Aus Zimmermanns Befragung ergab sich überdies eine interessante Querverbindung zwischen Ue. und dem früher in Zülpich angesiedelten Geistlichen Michael E., dem ebenfalls sexueller Missbrauch zur Last gelegt wird. Wie Ue. war E. zeitweilig Krankenhausseelsorger in Wuppertal. Weil Zimmermann vom freundschaftlichen Kontakt der beiden Mitbrüder wusste, habe er sich nach dem Bekanntwerden von Missbrauchsvorwürfen gegen E. bei Ue. nach dessen Ergehen erkundigt. Ue. habe von Geschehnissen gesprochen, die in der Erinnerung „verschüttet“ seien und durch die Vorwürfe von außen wieder hochkämen. Dass er sich zu dieser Zeit längst selbst ähnlichen Beschuldigungen gegenüber sah, ließ Ue. nach Zimmermanns Worten in keiner Weise erkennen.

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