Christine Westermann über Literatur und Klimaproteste„Ich kann die Wut verstehen”

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Christine Westermann

Christine Westermann in Klettenberg, wo sie seit gut zehn Jahren lebt

  • Christine Westermann hat mit „Die Familien der Anderen“ jetzt ein neues Buch veröffentlicht.
  • Im Interview spricht sie über komplizierte Familienkonstellationen, späte Liebe und die berechtigte Wut der „Fridays for Future“-Generation.
  • Sie können das Interview auch als Podcast-Folge „Talk mit K“ hören – und eins von 15 signierten Büchern gewinnen.

Frau Westermann, man liest in Ihrem neuen Buch einige Geständnisse. Unter anderem, dass Sie gerne die Süßigkeiten aus den Backstage-Räumen bei Ihren Lesungen klauen. Haben Sie in Ihrem Leben schon Wertvolleres mitgehen lassen als Hanutas oder Knoppers?

Christine Westermann: Ich bin immer wieder versucht bei schönen Bademänteln in teuren Hotels. Aber die Angst, an der Rezeption durch die Bademantel-Beule im Koffer aufzufallen, ist größer. Bei der Lufthansa habe ich bei einem Business-Flug mal schöne gestärkte Servietten mitgenommen. Zuhause fiel mir auf, dass man die ja leider auch bügeln muss.

Sie werden immer wieder von Selbstzweifeln geplagt, auch damals, als Sie der Ruf ins Literarische Quartett ereilte. In dem Fall, weil Sie gar kein Germanistik-Studium absolviert haben. Von außen denkt man: Die Frau hat doch keinen Grund zu mangelndem Selbstvertrauen.

Alles zum Thema Fridays for Future

Hat sie aber doch. Ich lese 99 gute Kritiken und eine schlechte . Und die schlechte treibt mich um. Lob und Zuspruch sind mir wichtig, das hat mir zum Beispiel bei der Arbeit im Literarischen Quartett gefehlt. Die Krux: ich vergleiche mich mit anderen, will gern Christine Westermann sein, aber gleichzeitig auch so belesen wie ein Volker Weidermann oder beredt wie eine Thea Dorn.

Ein Rundum-Genie.

Genau. Klappt natürlich nicht. Dass es völlig reicht, Christine Westermann zu sein, musste ich erstmal in der Theorie kapieren. Jetzt kommt es allmählich auch in der Praxis an. Na ja, schauen wir mal, wie es mit dem neuen Buch wird, wenn negative Kritiken kommen.

„Ich mag es beim Lesen, im Leben der anderen zu stöbern, Geschichten von Familien zu lesen, die genauso wenig funktioniert haben wie meine“, schreiben Sie im Buch. Warum ist das für Sie wichtig, auf die Leben der anderen zu blicken?

Es gibt ein gutes Beispiel aus dem Buch „Der Papierpalast“: Die Hauptfigur erlebt und erleidet mit ihrer Schwester die verschiedenen Ehen der Mutter. Diese Mutter sagt zu ihr sinngemäß: „Stell dich mal nicht so an. Wenn du in einer heilen Familie aufgewachsen wärst, wärst du heute vielleicht Hausfrau oder Sekretärin. Eine Scheidung ist keine große Sache. Es ist, als würde man die Garderobe wechseln.“ Was diese Buch-Mutter meint: am besten man merkt schon früh, dass das Leben nicht nur Friede Freude Eierkuchen ist und stellt sich darauf ein.

Ihre Mutter war dreimal verheiratet.

Und sie hat in jeder Ehe ein Kind bekommen. Ich bin die älteste von drei Schwestern. Wir sind jeweils sieben und 14 Jahre auseinander. Es hat sich noch nie wie Halb-Schwestern angefühlt, wir sind eine Familie. Aber es ist nicht so einfach, gemeinsam über diese Familie zu reden. Ich kann zu meiner Schwester nicht sagen, deinen Vater habe ich nicht gemocht, schließlich hat sie ihn anders erlebt, liebt ihn. Da bleibe ich lieber still und verkneife mir Kommentare. Meine Mutter war eine starke Frau, sie wollte mehr als nur Mutter sein. Sie wollte etwas erreichen in ihrem Beruf und eben nicht nur drei Kinder erziehen. Das unter einen Hut zu bringen war nicht ohne. Damals nicht und heute auch nicht.

Westermann als Kind

Christine Westermann als Dreijährige mit ihrer Lieblingspuppe Gisela.

Unglückliche Menschen sind immer interessanter als glückliche. So steht es auch in Ihrem Buch. Aber ist man wirklich lieber interessant als unglücklich?

Ich will nicht interessant sein. Ich habe eben nur früh gelernt, dass das Leben nicht rund ist. Dass es Ecken und Kanten hat. Man steht nicht ewig oben auf dem Gipfel, sondern muss auch durch tiefe Täler. Glück, habe ich begriffen, ist ein Moment. Wenn ich morgens verschlafen um halb acht zum Joggen losziehe, und genau in diesem Moment die Amsel gegenüber auf dem Dachfirst ordentlich losträllert, das ist für mich ein kleiner Moment von großem Glück.

Aus Ihnen wäre eine Ostdeutsche geworden, wenn Ihr Vater nicht 1953 von Erfurt in den Westen geflohen wäre. Denken Sie manchmal darüber nach?

Ja, immer mal wieder. Ganz intensiv natürlich nach dem Fall der Mauer. 1989 war ich 51, vermutlich schon zu alt, um im. Westen nochmal richtig neu anzufangen. Die Erfahrung haben viele Ost-Menschen machen müssen. Vor der Wiedervereinigung musste man immer noch sagen, wo Erfurt liegt, als es noch nicht Landeshauptstadt war. Als Kind habe ich meinen Geburtsort gerne verschwiegen, kennt ja eh keiner, dachte ich . Meine gefühlte Heimat war ohnehin Mannheim, da bin ich aufgewachsen.

Warum musste Ihr Vater fliehen?

Dafür muss man in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückgehen. Er war damals mit einer anderen Frau verheiratet, sein Sohn ist als einer der ersten jungen Soldaten in Russland gefallen. Mein Vater hat damals sein Tagebuch bekommen, in dem der Sohn, der schwer verletzt auf einem Feld bei Smolensk lag, versucht hat, von den letzten Stunden zu berichten: „Ich sterbe still und einsam.“ Das Tagebuch hat mein Vater gehütet wie einen Schatz. Seine Frau ist aus Kummer über den Tod ihres Jungen gestorben. Er war damals außer sich, weil sein Leben zerstört war, hat sich offen gegen die Nazis gestellt. Dafür ist er zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Ein Freund von ihm, ein strammer Nazi, sorgte dafür, dass er danach nicht, wie für einen politischen Häftling vorgesehen, ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt wurde. Dieser Freund wurde später mein Opa.

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Was geschah nach dem Krieg?

Nach dem Krieg haben die Amerikaner meinen Vater kurzfristig zum Bürgermeister von Erfurt gemacht, er hatte ja eine weiße Weste. Mein Vater hat die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands mitgegründet, er kannte Hans-Dietrich Genscher. Als sich die LDP auflösen und mein Vater der SED beitreten sollte, hat er sich geweigert. Dann rollte die Verhaftungswelle an, er wurde gewarnt und floh über den Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin. Er hatte nur eine Aktentasche mit wichtigen Dokumenten dabei. Und das Tagebuch seines Sohnes. Ich bin mit meiner Mutter zwei Tage später nachgekommen.

Zwei Weltkriege, zweimal politischer Feind. Das klingt rückblickend filmreif.

Sein Tod war es auch. Im ersten Weltkrieg hat er als deutscher Soldat die Schlacht von Verdun erlebt . Er wurde durch einen Kopfschuß lebensgefährlich verletzt. Die Kugel herauszuoperieren, wäre zu gefährlich gewesen, also blieb sie in seinem Kopf. Sie hat sich dort bewegt, und hat Jahrzehntes später einen Schlaganfall ausgelöst. Er ist dann also doch noch durch den Krieg gestorben.

Als er starb, waren Sie 13 Jahre alt. Was hat er Ihnen mitgegeben?

Interesse an der Welt. Am Zeitgeschehen. Mein Vater war schon 60, als ich geboren wurde, meine Mutter erst 22 Jahre alt. Er hatte sehr viel Zeit für mich, ich war sein Ein und Alles. Es gab diese eine Stunde am Tag, wo ich wusste, diese Zeit gehört ihm. Wenn er vor dem Radio saß und die Abendnachrichten hörte. Ich saß neben ihm, er hat erklärt, so gut, wie man es eben einem Kind erklären kann. Ich erinnere mich an die dramatischen Berichte vom Ungarn-Aufstand, an die Suezkrise. Und ich glaube, ich kann bis heute die Namen sämtlicher europäischer und amerikanischer Außenminister jener Zeit aufzählen

Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Sie fünf Jahre alt waren – zu der Zeit sehr ungewöhnlich. Wie war das für Sie?

Ich erinnere mich an eine Szene in der zweiten oder dritten Klasse, als mir Linsensuppe aus dem Schulranzen lief. Bei dem Henkelmann, den mir meine Mutter für meinen Vater und für mich mitgegeben hatte, waren wohl die Gummis locker, die Suppe schwamm jedenfalls zwischen Heften und Mäppchen, tropfte schließlich aus dem Ranzen. Riesenlacher für die Klasse. Aber ich hatte eine tolle Lehrerin, die erklärt hat, wie das ist, wenn die Eltern nicht mehr klarkommen und man sich trennt, aber trotzdem noch füreinander da ist. In dem Moment war ich fast ein bisschen stolz, das Kind geschiedener Eltern zu sein. Wenn ich heute in mich reinhöre, was von der Trennung übriggeblieben sein könnte, merke ich, dass ich schlecht Streit aushalten kann und immer versuche, für niemanden Partei zu ergreifen. So habe ich das bei meinen Eltern auch machen müssen.

Sie haben Ihre große Liebe erst spät gefunden haben. Hat das etwas mit Ihrer Geschichte zu tun?

Mir war immer klar, dass bei einer Ehe für mich gilt: bis der Tod euch scheidet. Ich bin den 70er Jahren groß geworden, da war Heiraten eh das Allerletzte. So habe ich auch gelebt und erst mit 52 geheiratet. Ich erinnere mich noch gut an die Nacht vor der Hochzeit, wo ich dachte: Was würde mein Vater von diesem Mann halten? Ich will nicht ausschließen, dass bei der Heirat auch Torschlusspanik dabei war, vielleicht so zehn Prozent. Man denkt mit 50 ja, das Ding ist gelaufen – und dann kommt so ein guter Typ vorbei.

Derzeit ist häufiger von toxischen Beziehungen die Rede. Kennen Sie toxische Beziehungen aus eigenem Erleben?

Mir hat noch niemand bewusst weh getan, weder seelisch noch körperlich. Aber ich kann manchmal toxisch sein, glaube ich. Ich kann perfekt beleidigt sein , schweigen. Ziemliche Gegensätze bei mir: entweder sehr laut werden, oder schweigen.. Einmal habe ich mich ins Auto gesetzt und bin vor lauter Wut nach Aachen gefahren. Schon auf der Rückfahrt wusste ich nicht mehr, worum es überhaupt ging. Mein Mann ist in solchen Situationen unglaublich gut. Der bleibt ganz ruhig, auch wenn ich ihn am liebsten würgen würde.

Ihr Vater hat zwei Weltkriege erlebt. Haben Sie Sorge vor einem Dritten Weltkrieg?

Zunächst einmal habe ich große Sorge um die Menschen in der Ukraine. Als der Krieg im Februar anfing, war es bitterkalt. Jetzt bombardieren die Russen die Elektrizitätswerke kurz vor dem Winter. ich fürchte mich aber auch vor einem atomaren Schlag. Ich habe 1963 die Stationierung russischer Atomraketen auf Kuba erlebt, die Kuba-Krise. Meine Mutter hatte damals Angst vor einem dritten Weltkrieg. Diese Angst habe ich damals als Kind deutlich gespürt und ich hatte sie selbst.

Man hatte lange das Gefühl, die Welt könnte sich zum Besseren ändern. Jetzt erleben wir multiple Krisen, über allem die Klimakrise.

Ich hoffe, dass der Mensch noch Dinge erfinden wird, die diese Klimakrise abmildern und stoppen werden. Keine Ahnung, was das sein könnte. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass diese Welt am Ende ist.

Klima-Aktivisten bewerfen derzeit Gemälde und sorgen damit für Zustimmung wie Empörung. Wie denken Sie über den Protest?

Ich kann die Wut verstehen. Das ist deren Zukunft und keiner macht was. Nach mir die Sintflut: Dieser Spruch ist gar nicht mehr so weit weg. Ich würde nicht ausschließen, Kartoffelbrei zu werfen, wenn ich 20 wäre. Aber in meinem Alter sage ich: Solche Aktionen vertiefen eher die Lagerbildung. Ich finde es toll, wenn bei „Fridays for Future“ Omas mitlaufen wie ich. Ich glaube, dass man Omas wie mich mit Kartoffelbrei eher verschreckt.

Zum Schluss ein Blick auf Köln: Der Elfte Elfte steht vor der Tür. Setzen Sie sich in dieser Session wieder die Pappnase auf?

Der 11.11 war noch nie mein Ding. Weiberfastnacht geht es bei mir erst los. Allerdings bin ich Karneval ein großer Flirter und da meine Attraktivität im Laufe meiner 74 jahre allmählich nachgelassen hat,geht es mit dem Flirten nicht mehr ganz leicht wie früher.

Der Zustand des 1. FC Köln aus der Perspektive eines streng-liebenden Fans mit Dauerkarte?

Die Mannschaft spielt toll. Steffen Baumgart fasziniert mich als Trainer. Und als Mensch. Empfand ich schon so, als er noch Trainer in Paderborn war. Ich habe nur manchmal heimlich Sorge, dass der Kölner an sich in seiner Liebe nicht beständig ist. Zu seinem Verein ja, aber zum Trainer? Ist der Trainer noch immer wohlgelitten, wenn es mal nicht mehr so läuft?

Kommen wir zur Großbaustelle Kölner Oper.

Moment! Ganz Köln ist doch eine Baustelle. Wenn ich die die Luxemburger Straße runterfahre, sehe ich da sieben bis acht Baustellen und frage mich: Warum? Sind die rot-weißen Absperrungen eine andere Form der Stadtfarben? Das macht mich wahnsinnig, zumal auch nichts passiert bei diesen Baustellen. Zumindest nicht, wenn ich vorbeifahre. Auch zum Sessionsauftakt wird jetzt wieder die ganze Stadt zugemüllt werden mit Barrikaden, die dann gefühlt bis Weiberfastnacht 2028 stehenbleiben.

Oper und Schauspielhaus am Offenbachplatz sollen 2024 wiedereröffnen. Glauben Sie dran – oder wird eher noch der FC Deutscher Meister?

Ich würde die Eröffnung gerne noch ohne Rollator erleben. Das wäre mir sehr recht. Wobei ich das Provisorium im Staatenhaus und auch das Schauspielhaus in Mülheim wirklich großartig finde.

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