Kölner PhilharmonieSimon Rattle bringt Mozarts schockierende Modernität hervor

Lesezeit 4 Minuten
Sir Simon Rattle, Dirigent aus Großbritannien, dirigiert das London Symphony Orchestra auf dem Trafalgar Square.

Sir Simon Rattle war an Pfingsten mit Mozarts späten Sinfonien in Köln zu Gast.

Simon Rattle dirigierte in der Kölner Philharmonie die drei letzten Mozart-Sinfonien - ein Höhepunkt der Klassik-Saison.

Mozarts drei letzte Sinfonien im Zusammenhang aufzuführen, liegt auf der Hand, weil es von der Sache her sinnvoll scheint: Die Trias vom Sommer 1788 ist nachweisbar als Zyklus angelegt, wobei der Aspekt des Kontrastiv-Komplementären genauso wichtig ist wie dasjenige, was die Werke unüberhörbar verbindet. Diesbezüglich wäre zumal das berühmte Viernoten-Motiv aus dem letzten Satz der Jupiter-Sinfonie zu nennen, das in den übrigen Sinfonien vorbereitet wird, latent da ist, bevor es schließlich, eben im Jupiter-Finale, triumphal aus der Latenz in die Erscheinung tritt.

Interpreten und Hörern wird dabei allerdings einiges abverlangt: Sie müssen sich von der ersten bis zur letzten Minute einer extrem hohen musikalischen Informationsdichte stellen, die sie an den Rand der Erschöpfung zu bringen vermag. Wenn ein Dirigent wie Simon Rattle, der die Trias jetzt mit dem Mahler Chamber Orchestra in der Kölner Philharmonie aufführte, bis auf ganz wenige Ausnahmen alle Wiederholungsaufforderungen befolgt, so sorgt das sicher für eine gewisse Entspannung, die sich freilich mit einer Konzertlänge von deutlich über zwei Stunden erkauft. Es ist und bleibt eine anstrengend-fordernde Sache für alle Beteiligten.

Mozarts Pausen dehnt Simon Rattle mitunter bis zum Zerbersten

Ein Kölner Rattle also zum Zweiten nach dem April-Auftritt mit Mahlers Sechster und seinem Bayerischen Rundfunk-Sinfonieorchester. Bei Mozart läuft das alles nicht nur wegen der reduzierten Stärke der Formation etwas anders ab: Kein Pult, keine Noten, der Dirigent geht mit Gestik und Schrittbewegung immer wieder gleichsam in die Tiefe des Ensembles, verschmilzt mit ihm als Primus inter pares. Und weil er nicht nur die Partitur durch und durch intus hat, sondern von der Musik auch erkennbar immer wieder aufs Neue begeistert ist (klar, was soll man von dieser sinfonischen Gipfelkunst auch sonst sein), können sich die Musiker von seinem Dirigat (das nicht mit einem sturen Durchschlagen von Zählzeiten verwechselt werden darf) gleichsam auf Händen getragen fühlen.

Das gibt der Spielqualität und -laune des MCO zweifellos noch einmal einen Schub – wobei der Sound bereits von Haus aus superb ist, von der unaufdringlichen Eleganz und Phrasierungskunst der Geigen bis zum kernig-substanzreichen Klang von Holz- und Blechbläsern. Solchermaßen geriet der Abend zu einem Exempel inspirierter Mozart-Interpretation, wie sie in dieser Klasse selten zu hören ist – dass hier ein Gipfel der zu Ende gehenden Kölner Konzertsaison zu erleben war, sollte nicht ernsthaft bestritten werden.

Was macht Rattles Mozart so agil und vital, dramatisch, herb und unbequem, dass man nicht anders kann, als gebannt zuzuhören? Gleich der erste Satz der Es-Dur-Sinfonie KV 543 zeigte, dass der Dirigent bestrebt ist, die Oberstimmendominanz – sprich: die Dominanz der melodieführenden ersten Violinen – immer wieder zurückzufahren und aufzubrechen, auf dass die verdeckte oder offene Polyphonie der übrigen Stimmen faszinierend zu vernehmen ist. Da werden die Gewichte immer wieder geschmeidig justiert, aber allemal kommen aus der Tiefe des kompositorischen Gewebes neue Impulse, Figuren, Gesten (ein Beispiel: die Fagottstelle in der Reprise des ersten Satzes von KV 550, der legendären „Nr. 40“), von denen man nicht immer erwartet hätte, dass es sie überhaupt gibt. Klar, dass ein überwältigender Satz wie das Jupiter-Finale unter diesen Bedingungen zu einer beglückenden Prägnanz und Präsenz findet.

Pausen dehnt Rattle mitunter bis zum Zerbersten, dann wieder setzt er sich auf eine Harmonie, bevor sie endgültig verlassen wird, und großartig in der Tempo- und Dynamikanpassung geraten die Überleitungen von der jeweiligen Durchführung zur Reprise. Überhaupt die Durchführungen: Da prallten die Satzbestandteile immer wieder mit schmerzhafter Brutalität aufeinander, und wenn Rattle die Unisono-Passage am Beginn der zweiten Hälfte des 550er Finales – übrigens eine tonal fast nicht mehr gebundene Zwölfton-Stelle – als Überbleibsel einer von Grund auf zerstörten Textur und Struktur in die Landschaft schleudert, dann wird etwas von der schockierenden Modernität erfahrbar, die sich, in solchen Augenblicken, im Herzen der Wiener Klassik ausbreitet. Ein Vorhang wird, könnte man sagen, zur Seite gezogen, und hinter Mozart dem Schönen erscheint Mozart der Schreckliche.

KStA abonnieren