Zukünftiger Generalmusikdirektor begeistertVon Orozco-Estrada geht ein phänomenaler Energiestrom aus

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François Leleux gastierte in Begleitung des Gürzenich Orchester Köln unter der Leitung des kolumbianischen Dirigenten Andrés Orozco-Estrada in der Kölner Philharmonie.

François Leleux gastierte in Begleitung des Gürzenich Orchester Köln unter der Leitung des kolumbianischen Dirigenten Andrés Orozco-Estrada in der Kölner Philharmonie.

Andrés Orozco-Estrada dirigiert in der Philharmonie erstmals seit seiner Ernennung zum Nachfolger von François-Xavier Roth das Gürzenich-Orchester. Wer ist besser?

Es war ein in jeder Hinsicht besonderes Konzert: Nicht nur spielte das Gürzenich-Orchester am Donnerstagabend in der Philharmonie außerhalb seiner Abo-Reihe; vielmehr stand auch am Pult der künftige Kölner GMD, der Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada – erstmals seit seiner offiziellen Ernennung zum Nachfolger von François-Xavier Roth in der Spielzeit 2025/26. Und mit dem französischen Oboisten François Leleux hatte man als Solist einen Star seines Metiers eingekauft.

Ungewöhnlich zudem, dass sich Orozco-Estrada nach dem Konzert zum ungezwungenen Meet and Greet unter das abfließende Publikum im Foyer mischte. Wo man ihn – er ist körperlich relativ klein – auf Anhieb schon mal übersehen konnte. Aber die Sache spricht für sich: Der Neue ist, und das kam auch auf dem Podium herüber, ein Genie der Kommunikation – gegenüber seinen so leistungsbereiten und gut aufgelegten Musikern wie dem an diesem Abend nicht minder enthusiastischen Publikum.

Man erlebt bei Orozco-Estrada, neben vielem anderen, auch harte, konzentrierte Arbeit

Zu übersehen ist Orozco-Estrada am Dirigentenpult wahrlich nicht: Von dem Mann geht ein phänomenaler Kraft- und Energiestrom aus, der unweigerlich noch in die hintersten Ecken des Saales fließt und Orchester wie Zuhörer schier auf die Stuhlkanten zwingt. Macht der Neue da etwa in lateinamerikanischer Fiesta? Solche Klischees sollte man im Fall von Orozco-Estrada ruhig fahren lassen. Hier geht Vitalität – immer wieder spürbar im großen Ambitus der Dirigierbewegung – nicht auf Kosten von Gestaltungswillen und -präzision. Der Schlag, die Fixierung der Zählzeit – das ist allemal fordernd exakt. Man erlebt da, neben vielem anderen, auch harte, konzentrierte Arbeit. Vermutlich sprang  Orozco-Estrada nach dem Konzert erst einmal kurz unter die Dusche.

Wer ist besser, Roth oder Orozco-Estrada? Die Frage mag abgeschmackt sein, aber sie stellt sich in der gegenwärtigen Situation unweigerlich – und harrt auch einer Antwort. Freilich: Die wird man so platt und plan wie vielleicht erwartet nicht geben können. Beide Dirigenten sind von ihrer persönlichen, künstlerischen und intellektuellen Disposition her völlig verschieden, erreichen aber in dieser Verschiedenheit gleichermaßen überzeugende Resultate. In den höheren Regionen der Dirigentenwelt gibt es halt nur die Republik der Geister.

Das Programm war offenkundig nach der Maßgabe ausgesucht worden, dem künftigen GMD (und auch der Formation) eine optimale Selbstdarstellung in divergenten Repertoriebereichen zu ermöglichen. Von Unsuk Chins für ein riesiges Orchester geschriebener fast nagelneuer Komposition „Operascope“ – einer instrumentalen Hommage an die Kunstform Oper – ging es über Bohuslav Martinůs von einem Kammerorchester begleiteten Oboenkonzert – einem abgeklärten Alterswerk der klassischen Moderne, das in der Grundhaltung zuweilen an Richard Strauss´ spätes Oboenkonzert erinnert – zu einem Hauptstück der deutschen Romantik: Mendelssohns Schottischer Sinfonie.

Auch bei Neuer Musik sucht er den sinnlich fesselnden Klang

Zu Beginn also Chins „Operascope“. Eindrucksvoll wurde hier deutlich, dass Orozco-Estrada auch bei Neuer Musik den sinnlich fesselnden Klang sucht, die Orchesterfarben spektakulär aufleuchten lässt. Dieses Feld sucht anderwärtig auch schon mal der Fluch der Abstraktion heim, aber davon konnte anlässlich dieser Konzerteröffnung keine Rede sein. Das liegt freilich nicht nur am Faible des Dirigenten für Raumpolyphonie und dramatische Konfrontationen, sondern auch an der Partitur selbst.

Chin spielt hier zum Teil amüsant mit vielen guten Bekannten des Opernvokabulars, mit Rezitativen und Seufzermotivik, und nicht entgehen lässt sich Orozco-Estrada den Reiz eines plötzlich auftauchenden Walzerrhythmus – der übrigens auch im ersten Satz des Oboenkonzerts erscheint. Er inspiriert wahrnehmbar das Bewegungsspiel am Pult, wo die Hüften zu kreisen beginnen.

Bei Martinu erwies sich das Orchester vor allem im dichten Streicher-Cantabile als exquisiter Partner des Solisten, der auch diesmal auf seinem Instrument Wunder der Charakter- und Ausdruckswechsel vollbrachte – abgesehen von der völlig selbstverständlichen Virtuosität, die sich vor allem in den Kadenzen ausleben durfte. Die Oboe als Kobold, als aggressive Trompete, als melancholischer Sängerin oder auch leicht laszive Tänzerin – Leleux hat das alles ganz selbstverständlich drauf. Nahezu zu einem expressiv-poetischen und zugleich mit der Magie der Verinnerlichung gesegneten Charakterstück geriet die Zugabe, das Adagio aus Bachs Osteroratorium.

In Sachen Mendelssohn ist Orozco-Estrada firm, seine Sinfonien hat er bereits als Chef des niederösterreichischen Tonkünstler-Orchesters eingespielt – er ist ihm offensichtlich Herzenssache. Das zeigte sich auch jetzt in Köln, und zwar mit durchaus überraschenden Aspekten. Wer in der Einleitung der Schottischen nordische Düsternis und Hebriden-Nebel erwartet hatte, wurde enttäuscht – um es einmal so zu sagen. Die genaue Trennung der Klangregister zeitigte vielmehr eine fast mediterrane Klarheit und Präsenz (und damit eher den Mendelssohn der Italienischen Sinfonie), die sich im Fortgang zu einer brillanten und teils auch – Trompeten! – aggressiven Dramatik ausformte.

Ein klassizistischer Mendelssohn? Das wäre ein zu dürftig-belangloses Etikett, das dem Ausdrucks- und Kontrastreichtum, dem fesselnden Ereignischarakter der Aufführung keineswegs gerecht würde. Wenn etwa die Wiederholung der Exposition im ersten Satz mit einer neuen zögerlich-nachdenklichen Verhaltenheit anhob oder sich im dritten Satz die lyrische Schönheit der Melodik völlig ohne Druck und Dampf Bahn brach, dann zeigte das, dass Orozco-Estrada ein Liebhaber der Gegensätze und der inspiriert ausgeformten Details ist, nicht der pauschalisierenden Abfertigung.

Dass das Orchester dabei stark gefordert wird, vermittelte sich zumal im Scherzo. Das Feuerwerk der solistischen Einwürfe gelang dort mit Lust und Laune, aber Orozco-Estrada verlangte den Musikern, was rhythmischen Drive und agile Punktlandungen anbelangt, auch viel ab. Musik von der Stuhlkante – das könnte zu einer Leitformel der kommenden Ära werden.  

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