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Kölner PhilharmonieIn der weltlosen Versenkung gedeiht Grigory Sokolovs musikalische Kraft

3 min
Pianist Grigory Sokolov am Flügel

Der Pianist Grigory Sokolov versprüht eine Anmutung von gespenstischer Starre, nicht, aber wenn er spielt.

Grigory Sokolov weiß mit seinen expressiven, dramaturgischen Möglichkeiten am Klavier zu überzeugen – sein Publikum ist ihm dabei herzlich egal.

Der Prozess der Selbstritualisierung ist zweifellos weit fortgeschritten: In sich gekehrt, mit marionettenhafter Verneigungsgeste, offensiv lieblos gegenüber seinem begeisterten Publikum kommt Grigory Sokolov aufs Podium der Kölner Philharmonie. Nach der auch diesmal skurril-extravaganten Konzertagenda – William Byrd und Brahms zu kombinieren, das hat schon was – folgen die üblichen sechs Zugaben. Es sind auch diesmal genau sechs, nicht fünf und nicht sieben, getrennt jeweils durch einen spielfreien Verbeugungsauftritt.

All dem eignet eine Anmutung von gespenstischer Starre. Indes: Wie der 75-Jährige spielt, das hat nach wie vor nichts Starres, Lebloses, Gespenstisches – Wesen und Erscheinung scheinen hier spektakulär auseinanderzufallen. Um mit dem, einmal von Rameau unterbrochenen, Reigen der Chopin-Encores zu beginnen: Sokolov schafft es zwingend, dem Unheimlichen dieses Komponisten, den irgendwie manisch-depressiven Wiederholungen in unsentimental-direktem Zugriff zu bohrender und zugleich luzider Präsenz zu verhelfen. An salonhaftes Schmachten denkt da niemand.

Die Tragödie eines Menschenlebens wird musikalische Gestalt

Was dem Künstler an expressiven, klanglichen und dramaturgischen Möglichkeiten dabei zur Verfügung steht, zeigte etwa auf gedrängtem Raum der Trauermarsch des Prélude opus 28/20: Entschiedenes, nicht schepperndes, aber den Flügel durchaus forderndes Martellato am Beginn, dann plötzlicher Einbruch hin zu einem substanzreich-beklemmenden Piano und erneutes Aufbäumen am Schluss – die Tragödie eines Menschenlebens wurde hier auf eine freilich kaum in Worte zu fassende Weise musikalische Gestalt.

Zu Beginn also Byrd, der führende englische Komponist der Jahrzehnte um 1600, des Tudor-Zeitalters mithin, mit einer dichten Folge von Variationen, Galliarden, Fantasien und Pavanen, wie man sie im „klassischen“ Klavierabend eigentlich nie zu hören bekommt. Sokolov stellte diese – auswendig gespielte – Musik lebendig und souverän dar in ihren kontrapunktischen Verdichtungen und rhythmischen Widerborstigkeiten, im Laufwerk mit geschmeidigem Non-Legato, dann wieder in choralhafter Klangverdichtung und alles eingebettet in eine gewinnende Freiheit des Tempos. Aber auch wenn der Zuhörer sich zuweilen einer angenehmen Trance überlassen konnte – irgendwann ist es des obsessiven Getrillers dann auch genug. Byrd komponierte seine Stücke ursprünglich für das Virginal, auf dem modernen Flügel stellen sich trotz des Zugewinns an poetischen Mitteln Verfremdungseffekte ein, die ihnen (den Stücken) vielleicht nicht immer gut bekommen.

Nach dem obsessiven Getriller, Brahms Legato-Kantilenen

Nach der Pause dann Brahms mit den frühen Balladen opus 10 und den Rhapsodien opus 79. Klar, die spielerische Konzentration, die Beherrschung des pianistischen Metiers ist tadellos, aber gut spielen können heute viele Pianisten – ein erfüllter Brahms kommt dabei noch lange nicht heraus. Sokolov indes schafft in der Darstellung von Licht und Schatten, von Aufbruch und resignierter Wiederkehr, von Drama und Lyrik immer wieder Intensitäten, die außerordentlich genannt zu werden verdienen. Da verflechten sich die Legato-Kantilenen zu endlosen Melodien, da werden die Stimmen im dichten Satz stets neu justiert, da verdeutlichen markant intonierte motivische Signale das überragende architektonische Vermögen bereits des jungen Brahms. Der Dur-Moll-Gegensatz zeigt nicht nur den planen Wechsel der Tongeschlechter an, vielmehr macht Sokolov ihn vielsagend-beredt. Und immer wieder werden bei ihm elementare Gegebenheiten wie der Quintfall oder der Quartanstieg zu Ereignissen.

Sokolov spielt, es sei wiederholt, offensichtlich nicht für sein Publikum. Wahrscheinlich aber ist diese weltlose Versenkung eine Voraussetzung für die Qualität seiner Interpretationen. Hat man das akzeptiert, wird man auch das Ritual zu schätzen wissen.