Das Complexions Contemporary Ballet gastiert mit seinem Programm „Star Dust – New Inspired“ in der Kölner Philharmonie.
Kölner SommerfestivalMit Bowie und Bono dem Himmel entgegen

Szene aus der Choreografie "Star Dust". Das Complexions Contemporary Ballet gastiert in der Kölner Philharmonie.
Copyright: Sharen Bradford
Oberflächlich betrachtet unterscheidet sich das Duett von Jillian Davis und Joe Gonzales, zwei der erfahrensten Ensemblemitglieder des Complexions Contemporary Ballet, nicht von anderen Pas de deux: Zwei Menschen treffen aufeinander, tasten sich ab, finden zu einem gemeinsamen Rhythmus, umwirbeln sich desto dramatischer, je intensiver die romantische Anziehung ausfällt. Und verlieren sich schließlich wieder in den Kulissen.
Hier jedoch haben sich die Machtverhältnisse verschoben, Jillian Davis, 1,87 Meter groß, überragt ihren Partner um einen Kopf, en pointe noch ein bisschen mehr. Joe Gonzales steht seinen Mann. Die beiden Solisten schenken sich nichts und geben doch alles. Nach sechs Minuten, bis zum Bersten vollgepackt mit unkontrollierten Emotionen und ihrer streng kontrollierten technischen Übersetzung in Bewegung, ist das hochenergetische Liebesspiel im wabernden Kunsteisnebel schon vorbei. Das Publikum in der Philharmonie ist hingerissen von Dwight Rhodens Choreografie.
Publikum ist hingerissen von Jillian Davis' und Joe Gonzales' Pas de deux
Solche Gefühle vermochte seine erste Arbeit an diesem Abend, ein neoklassisches Ensemblestück zum ersten Satz von Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 noch nicht auszulösen, das diente eher als mustergültige, leider arg generische Einführung in die Formensprache der New Yorker Kompanie, die Spitzentanz mit Modern-Dance-Rasanz verbindet und perfekte Synchronizität mit individuellem Ausdruck.
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Der kommt noch stärker bei „For Crying Out Loud“ zutragen, einer Choreografie zu Songs von U2. Ein längeres U2-Stück gehörte jahrelang zum Repertoire der Tanzgruppe, die vergangenes Jahr ihr 30-jähriges Bestehen feierte. Diesmal aber verwendet Rhoden „Songs of Surrender“, das intime Covid-Album der irischen Band. Statt sich über Gitarrenwände zu erheben, ist Bonos Stimme in den Vordergrund gemischt – man versteht jedes Wort –, begleitet von atmosphärisch knisternden Sounds. So klingt selbst „Where the Streets Have No Name“ ungewöhnlich ungewohnt – und die 16 Tänzerinnen und Tänzer loten im schnellen Wechsel den gesamten Umfang zwischen Intimität, Partnerspielen und Gruppendynamik aus, die Frauen vergraben ihre Köpfe in den Bäuchen der Männer, bilden mit gestreckten Beinen ein Dreieck, gleiten seitwärts über die Bühne. Dann suchen die Tanzenden nach neuen Verbindungen, scheinbar ohne Richtung und Ziel – was auch daran liegen mag, dass in Köln nur ein 15-minütiger Ausschnitt von „For Crying ...“ gezeigt wird.
Andererseits kann man die Hauptattraktion des Abends kaum erwarten: „Star Dust“ ist Dwight Rhodens große David-Bowie-Fantasie, im britischen Rockgott hat er eine verwandte Seele entdeckt, die mit durchgedrücktem Rücken die Freak-Flagge hochhält. Das Programm umfasst beinahe den ganzen Bowie, vom Aufbruch ins große Ungewisse mit der „Space Oddity“ bis zu „Lazarus“ seinem Abgesang zu Lebzeiten. Fast zehn bowielose Jahre sind inzwischen vergangen, da bietet „Star Dust“ auch so etwas wie Trost.
Den ominös-raunenden Anfang mit dem „Low“-Instrumental „Warzawa“ hält Rhoden kaum aus, der Track wird bald ausgeblendet, zugunsten erhebenderer Songs wie „Changes“ oder „Modern Love“. Selbst in „1984“, Teil eines nie realisierten Musicals zum George-Orwell-Roman, hört Rhoden nicht die Dystopie, sondern die freudenspendende Proto-Disco des Philly-Soul-Sounds. Sollen die Möchtegern-Diktatoren und großen Brüder nur brüllen, die Complexions feiern eine Party.
Immer wieder setzt sich ein Tänzer oder eine Tänzerin von der Gruppe ab, bewegt als Bowie-Avatar, auch mal auf 70er-Jahre-Plateausohlen stöckelnd, die Lippen synchron zum Text, lädt das Publikum ein, mit ihm oder ihr in diese bessere Welt einzutauchen, in der die Unterschiede gefeiert und nicht verdammt werden. Jillian Davis und Joe Gonzales tanzen jetzt nicht mehr zusammen, sondern hintereinander, als weibliche und männliche Aspekte des Stars, eine Außerirdische und ein Glam-Rocker.
Und wenn sich die gesamte Kompanie zur stolzen Chorus Line aufstellt und ein Tänzer an ihr vorbei schreitend absichtsvoll strauchelt, wird er prompt aufgefangen, nicht nur von einem, sondern in liebender Wiederholung von allen Tanzenden.
„Star Dust – New Inspired“, bis 27. Juli, Philharmonie, ab 51 Euro