AachenMann sticht auf Zugreisende ein – Zeugin berichtet

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Einsatz bei Aachen: Polizistinnen und Polizisten stehen nach einem Messerangriff an dem RE4.

Aachen/Herzogenrath – Horrorszenen in der Regionalbahn: Ein Angreifer sticht bei Herzogenrath wahllos auf Mitreisende ein und verletzt fünf Menschen. Das mutige Einschreiten eines Bundespolizisten und weiterer Mitreisender verhindert einen schlimmeren Verlauf der Tat.​

Es ist 7.45 Uhr am Freitagmorgen, als in Erkelenz ein Handy klingelt. Im folgenden kurzen Gespräch berichtet eine junge Frau ihren Eltern aus dem Zug, in dem sie gerade sitzt, dem Regionalexpress 4 (RE4) aus Richtung Düsseldorf nach Aachen, dass sie eben Hilfeschreie gehört hat und nun Fahrgäste im Zug nach vorne laufen. „Jemand sticht hier mit einem Messer auf Leute ein“, sagt sie. Die Eltern der 18-Jährigen machen sich sofort auf den Weg nach Herzogenrath, wo der Zug auf einer Eisenbahnbrücke in der Innenstadt angehalten hat und wo in diesen Augenblicken ein massiver Rettungs- und Polizeieinsatz anläuft.​

Erste Informationen machen die Runde: Ein Mann soll im RE4, in dem zu diesem Zeitpunkt 270 Fahrgäste sitzen, gegen 7.40 Uhr kurz hinter dem Herzogenrather Bahnhof wahllos mit dem Messer auf Fahrgäste losgegangen sein. Zunächst ist von drei Menschen die Rede, die bei den Attacken verletzt wurden und wenig später in umliegende Krankenhäuser gebracht werden. Diese Zahl wird NRW-Innenminister Herbert Reul in einer kurzen Ansprache per Kurznachrichtendienst Twitter auf sechs Verletzte inklusive des Angreifers nach oben korrigieren. Ein Mensch wurde offenbar schwerer verletzt, Schnittverletzungen an Hand und Gesicht habe es gegeben, eine Person sei am Schulterblatt verletzt worden. Keine der Verletzungen sei jedoch lebensgefährlich.​

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Der Hintergrund des Angriffs und ob es sich um die Tat eines geistig verwirrten Menschen oder um einen Amoklauf handelt, ist zunächst vor Ort völlig unklar, bis Reul um 14.30 Uhr erste Ermittlungsergebnisse mitteilt. Danach kommt eine neue Dimension ins Spiel: Bei dem Tatverdächtigen handele es sich um einen 31-jährigen Mann, geboren im Irak, wohnhaft in NRW, der 2017 bereits zu einem Prüffall in Sachen Islamismus geworden sei. „Wir müssen von einer Amoktat ausgehen“, sagt Reul.​

Das Wohnheim, in dem der Angreifer zu jener Zeit wohnte, habe der Polizei Hinweise gegeben, dass der Mann sich verändere, sich von Mitbewohnern isoliere, sich einen Bart habe wachsen lassen. Seit seiner Einstufung als Prüffall sei der Angreifer nicht mehr auffällig geworden, betont der Minister. Allerdings werde das nun noch einmal überprüft, denn er habe verschiedene Namen verwendet. So müsse nun ermittelt werden, ob bei der Tat im RE4 ein islamistischer Hintergrund bestehe.​

Eine Tat, die noch wesentlich dramatischer hätte verlaufen können, wenn mehrere Personen nicht schnell reagiert und den Tatverdächtigen gestoppt hätten. Ein 60-jähriger Bundespolizist, der in Zivil zufällig mit in dem Zug unterwegs war, habe mit Unterstützung zweier Mitreisender den Mann überwältigt und bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten.  „Möglicherweise haben diese drei Menschen eine größere Gefahr verhindert“, sagt Reul. Dabei sei der Bundespolizist selbst ebenfalls verletzt worden. Wie auch der Tatverdächtige, der nach seiner Festnahme zunächst ins Gewahrsam ins Polizeipräsidium Aachen und dann zur Behandlung in eine Aachener Klinik gebracht worden sei. Der Grund ist ein anderer als seine leichte Verletzung: Er hat Fieber.​

Von all diesen Hintergründen wissen die Eltern aus Erkelenz nichts, als sie gegen 10.30 Uhr in der Herzogenrather Innenstadt stehen, umgeben von Einsatzfahrzeugen der Bundes- und Landespolizei, Zivilfahrzeugen, Rettungswagen, „DB Notfallmanagement“, Seelsorgern sowie Feuerwehrfahrzeugen, und darauf warten, zu ihrem Kind zu dürfen. „Unsere Tochter hat gesagt, dass es ihr nicht gut geht“, erzählen sie. Die Aufregung in der Stimme der Mutter ist deutlich zu hören. Natürlich. Mit einem Sanitäter haben sie sprechen können, sagen die beiden. Er habe berichtet, die junge Frau habe wahrscheinlich einen Schock erlitten, ihr gehe es ansonsten aber gut.​

Wann sie ihr Kind sehen können? „Das wissen wir nicht“, sagt der Vater. Eine Polizistin, die sie angesprochen hätten, habe gesagt, dass es noch dauern könne. Die Feuerwehr versorgt Rettungskräfte und Fahrgäste des Zuges zu diesem Zeitpunkt mit Snacks und Getränken. Ein ehemaliges Impfzentrum im nahen Bockreiter-Zentrum ist mit Polizeiband abgesperrt, Beamte und Notfallseelsorger kümmern sich dort um Fahrgäste, die bereits aus dem Zug und von der Eisenbahnbrücke herunter begleitet wurden.​

Immer wieder halten Passanten an und fragen, was passiert sei. Auf die Erläuterung des Vaters aus Erkelenz erwidert eine ältere Dame, das sei ja wie im „Tatort“, und lacht. „Ja“, sagt der Vater, „allerdings ist es nicht so schön, wenn die eigene Tochter betroffen ist.“​

„Sind die Menschen denn verrückt geworden?“, fragt ein Passant, als er von den Geschehnissen auf der Brücke hört. „Man liest davon bald jeden Tag und jetzt geschieht es hier vor der eigenen Haustür.“ Vielleicht spielt der Herr auf die Nachrichten aus Essen einen Tag zuvor an, wo die Polizei offenbar einen Amoklauf an zwei Schulen verhindern konnte. Reul jedenfalls nimmt darauf bei seiner Ansprache auf Twitter Bezug: „Essen und Herzogenrath zeigen: Wir müssen weiter wachsam sein.“​

Um 12.12 Uhr setzt der Zug schließlich zurück in den Bahnhof. Noch sitzen Menschen darin, sind nicht alle Aussagen aufgenommen. Langsam nimmt die Dichte an Einsatzfahrzeugen in Herzogenraths Innenstadt ab, aber der Einsatz ist noch lange nicht beendet, auch wenn ab 14.15 Uhr der Zugverkehr wieder freigegeben ist.​

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