Kommentar zur EuropawahlWie sich SPD und Union bei Jungwählern ins Abseits schießen

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Fridays for Future IMAGO

Fridays-For-Future-Demonstration in Berlin

  • Die Grünen sind bei der Europawahl zweitstärkste Kraft in Deutschland geworden.
  • Ihr Erfolg kommt nicht von ungefähr – Klima und Gendergerechtigkeit sind urgrüne Themen.
  • Dagegen agierten CDU, FDP und auch SPD beim Thema Schulstreik oder Rezo-Kritik hilflos bis peinlich.

Europa hat gewählt, und in Deutschland sind die beiden großen Regierungsparteien CDU/CSU und SPD erneut bitter abgestraft worden. Während die Union gerade noch so mit einem blauen Auge davonkommt, stellt sich für die SPD und ihre Chefin Andrea Nahles mittlerweile die Überlebensfrage. Zumal die Sozialdemokraten auch bei der Landtagswahl in Bremen abgestürzt sind.

Großer Gewinner, vor allem bei der Europawahl, sind die Grünen. Der Erfolg kommt nicht von ungefähr. Klima, Mobilität, Digitalisierung und Gendergerechtigkeit sind urgrüne Themen, die in der politischen Debatte ein immer stärkeres Gewicht bekommen. Vor allem als offenbar glaubwürdigste Klima-Partei sind sie – speziell für die jungen Wähler – die politische Kraft der Stunde.

Ein Rekordergebnis also für die Grünen, CDU/CSU und SPD dagegen mit historisch schlechten Ergebnissen. Dazu eine weit abgeschlagene FDP. Das zeigt auch das Problem, das die etablierten Parteien des bürgerlichen Spektrums mit den Sozialdemokraten gemeinsam haben: Sie finden nicht mehr die richtigen Antworten auf die Fragen, die die Gesellschaft am meisten bewegen.

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Falsche Reaktionen bei Schulstreiks und Rezo-Video

Dazu nur zwei Beispiele: Die junge schwedische Umwelt-Aktivistin Greta Thunberg und die aus ihren Auftritten erwachsene „Fridays for Future“-Bewegung wurden vom FDP-Vorsitzenden Christian Lindner brüsk abgekanzelt – eine krasse Fehleinschätzung des Zuspruchs und der Stimmungslage nicht nur bei den Schülerin, die sich von Thunbergs Engagement haben anstecken lassen.

Oder das von Millionen junger Menschen im Netz abgerufene Video des Youtubers „Rezo“, in dem er mit der Politik von Union und SPD abrechnet. In der SPD-Spitze löste es nur peinlich berührtes Schweigen aus, in der CDU chaotisches Krisenmanagement. Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer kassierte eine schon produzierte Videoantwort ihres Parteifreunds Philipp Amthor auf die Attacke des Youtubers. Warum eigentlich? Waren die Argumente zu schwach, oder war die Performance zu schlecht?

Nahles muss ums Überleben kämpfen

Solche Vorkommnisse zeigen die Nervosität in der großen Koalition. Das Abschneiden auf europäischer Ebene lässt sich eben nicht trennen von den Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Regierungsparteien im Bundestag. Für SPD-Chefin Nahles sind die Ergebnisse der EU-Wahl und in Bremen ein Desaster. Für sie geht es jetzt ums Ganze. Die Diskussion um ihren Verbleib im Parteivorsitz und den Verbleib der SPD in der Koalition wird rasant Fahrt aufnehmen.

Schon machen in Berlin Putschgerüchte die Runde: Die Ex-Parteichefs Martin Schulz und Sigmar Gabriel sollen gegen die Amtsinhaberin arbeiten. Schon seit Monaten lotet Schulz seine Chancen aus, Nahles an der Spitze der Fraktion abzulösen. Selbst wenn Schulz das empört dementiert – für Nahles verheißt das nichts Gutes. Aber auch in der CDU ist die Lage vertrackt. Für die neue Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer, die ihre Rolle neben der immer noch dominierenden Kanzlerin Angela Merkel verzweifelt zu suchen scheint, ist das Ergebnis vom Sonntag alles andere als ein Schritt zur Kanzlerkandidatur. Die Machtverhältnisse in der Union bleiben ungeklärt.

Hohe Wahlbeteiligung könnte Erstarken der Rechten verhindert haben

Sehr erfreulich ist die hohe Beteiligung an der Europawahl. Sie mag dazu beigetragen haben, dass die AfD längst nicht so stark wurde, wie sie selbst sich das erhofft hatte. Der in mehreren Ländern erlebte Rechtsruck – in Deutschland blieb er aus. Zwar konnte sich die AfD bei der Europawahl leicht verbessern. Die Träume der rechtspopulistischen, zuwanderungsfeindlichen Partei von „15 Prozent plus“ sind aber zerstoben. Die große Mehrheit der Deutschen hat für den Bestand und die Weiterentwicklung der europäischen Idee und für Europa als Friedensprojekt gestimmt. Was jedoch nicht überdecken darf, dass es für die Europäische Union immensen Handlungsbedarf gibt.

Eine Neuordnung und Vereinfachung der Zuständigkeiten innerhalb der Gemeinschaft ist überfällig. Der Politikbetrieb in der EU muss offener, transparenter und nachvollziehbarer werden. Die immer noch zu schwache Rolle des europäischen Parlamentes muss aufgewertet und die Wahl des Kommissionspräsidenten eindeutig geregelt werden.

Europa steht vor enormen Herausforderungen: Der Schutz des Klimas ist Thema der Erwachsenen wie der Jungen. Im Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China kann Europa nur mit einer besser abgestimmten, wenn nicht gar gemeinsamen Außen- und Wirtschaftspolitik bestehen. In der Flüchtlingspolitik geht es ebenfalls nur miteinander. Und auch Fortschritte im Kampf gegen den Terror lassen sich nur erzielen, wenn das Vertrauen in der EU endlich wieder wächst.

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