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GastbeitragSelenskyi sollte seine Strategie ändern

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Wolodymyr Selenskyj

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Köln – Bundeskanzler Olaf Scholz sprach am 27. Februar im deutschen Bundestag von einer „Zeitenwende“. Er meinte, dass Wladimir Putin die Uhren zurückdrehen wolle und im imperialen „Großmachtdenken“ des 19. Jahrhunderts befangen sei. Putin selbst greift auch auf noch ältere Motive zurück.

Er rechtfertigt seinen Krieg mit abstrusen vergangenheitspolitischen Konstruktionen, in denen Moskau als Erbe des alten Kiewer Reichs („Kiever Rus“) und als „Drittes Rom“ erscheint. Damit instrumentalisiert er nicht zuletzt das orthodoxe Christentum und umgibt sich mit sakraler Weihe. Putins geläufigster historischer Vergleich ist allerdings die Faschismuskeule: Russland befreit das Brudervolk der Ukraine von einem neofaschistischen Regime.

Sergej Lawrow spricht vom „totalen Krieg“

Putins Außenminister Sergej Lawrow attestiert dem Westen einen „totalen Krieg“. Es ist aber Russland, das Kriegsverbrechen begeht: Es unterscheidet kaum noch zwischen Militärs und Zivilisten, zerstört zivile Infrastruktur und gefährdet selbst Atomkraftwerke. Putins Krieg entgleist gerade total. Auch der Westen wird immer mehr in diesen „totalen“ Krieg hineingezogen, nicht zuletzt durch die starken Beistandserwartungen der Ukrainer.

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Zur Person

Reinhard Mehring, Jahrgang 1959, ist Politikwissenschaftler und Philosoph. Seit 2007 hat Mehring eine Professur für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg inne. Der Wissenschaftler befasst sich in seiner Forschung unter anderem mit der Ideologie der „Neuen Rechten“.

Schon sprechen einige vom „Dritten Weltkrieg“. Doch noch hofft man auf eine Wende zugunsten der ukrainischen Truppen im Stellungskrieg. Durchhalteparolen verheißen eine baldige Entscheidung. So schwach ist Putin aber nicht. So schnell gibt er nicht auf.

Was soll der Westen tun?

Soll der Westen den tapferen Widerstand der Ukraine weiter militärisch stützen und so den Krieg verlängern? Ignoriert er dann nicht seinerseits die Gefahr, dass Putin unter Zugzwang gerät und seine Bereitschaft wächst, ABC-Waffen einzusetzen?

Die bundesdeutsche Friedensbewegung dachte Krieg und Frieden seit den 1950er Jahren sehr grundsätzlich vom „Atomzeitalter“ her. Der Philosoph Karl Jaspers eröffnete 1958 sein Buch „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ mit dem Satz: „Eine schlechthin neue Situation ist durch die Atombombe geschaffen.“ Er fragte nach der „Vernunft“ in der Zeit des Kalten Kriegs und forderte einen Pazifismus, der die alten Vorstellungen vom „soldatischen Freiheitskampf“ umdenkt. Der heutige Krieg sei kein Duell und Zweikampf mehr. Der militärische Widerstand verliere damit seinen früheren ethischen Sinn. Im Zeitalter atomarer Bedrohung sei der Pazifismus das Gebot der Vernunft.

Einsichten der Friedensbewegung

Solche anspruchsvolle Überlegungen und Einsichten lebten in der deutschen Friedensbewegung der 1980er Jahre fort. Carl-Friedrich von Weizsäcker, der ältere Bruder des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, wies der alten Bundesrepublik diesen Pfad. Nationalismus schien perdu, Postheroismus angesagt. Hat man das heute vergessen? Längst liefert Deutschland der Ukraine nicht mehr nur Helme.

Nach 1989 wich der utopische Pazifismus bald einem neuen „Realismus“ und Pragmatismus. Der Krieg blieb in der Welt und kehrte schon in den 1990er Jahren, in den Sezessionskriegen der 1990er Jahr im zerfallenen Jugoslawien nach Europa zurück. Macht und Recht, Krieg und Frieden ließen sich in den überkommenen Kategorien kaum noch unterscheiden. Neue Waffen schienen neue Kriege mehr oder weniger begrenzt zu ermöglichen.

Putins Krieg ist ein furchtbares Verbrechen

Putins Krieg heute ist zweifellos ein furchtbares Verbrechen, das vor Gericht gehört. Doch haben der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der Westen – mit Jaspers gesprochen – die „schlechthin neue Situation“ verstanden? Selenskyj bedient die neuen Medien virtuos, sein Mut verdient höchsten Respekt. Seine Botschaft aber ist strategisch unklug und höchst gefährlich: Er möchte die Nato gegen Putin mobilisieren.

Das führte mehr oder weniger zwangsläufig in einen „Dritten Weltkrieg“. Niemand sollte sich darüber Illusionen machen. Hier gilt die Analogie zur „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs, der vermeidbar war und – wie die neuere Forschung (etwa von Jörn Leonhard) deutlich zeigt – in der Epoche der sogenannten Zwischenkriegszeit weitere furchtbare Kriege nach sich zog.

In Putins irrationaler Blase

Eine Konfrontation zwischen Putin und der Nato muss unbedingt vermieden werden. In Putins irrationaler Blase ist sie vermutlich bereits da. „Kein Schurke will allein zur Hölle fahren!“, meinte Thomas Mann im Mai 1944 zu den „apokalyptischen Lausbuben“. Vielleicht ist Putin einer davon.

Selenskyj scheint in den Kategorien eines konventionellen nationalistischen Verteidigungskriegs zu denken, für den er militärische Unterstützung energisch einfordert. Wir lernen heute einiges auch über die Geschichte der Ukraine. Stets wurde sie von starken Nachbarn bedroht und beherrscht: von Polen, Osmanen, Deutschen, Russen. Im nationalen Mythos sind die Ukrainer gleichsam geborene Widerstandskämpfer.

Partisanenkrieg als Alternative 

Selenskyj muss den ukrainischen Nationalismus deshalb nicht in den Kategorien eines staatlichen Verteidigungskriegs denken. Der nationale Mythos legt ihm auch die Alternative des Partisanenkrieges nahe. In mancher Hinsicht hat die Ukraine Putins Krieg bereits gewonnen: Sie hat sich definitiv gegen Russland entschieden. Niemals mehr wird sie als „Brudervolk“ zu Russland gehören, und Selenskyj wird als Nationalheld in Erinnerung bleiben.

Eine Fortsetzung des Kampfs im Stil eines konventionellen Verteidigungskriegs aber bringt heute nur weitere Entvölkerung und Verwüstung und gefährdet mit der Infrastruktur auch die Sicherheit der ukrainischen Atomkraftwerke.

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