Kommentar zu SondierungenDie Inszenierung des großen Nichts

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Annalena Baerbock nach Sondierungstreffen

Köln – Was für ein Vakuum! Die sondierenden Parteien reden von den Inhalten, die sie (natürlich „auf Augenhöhe“, „mit viel Demut“ und Selfie-Gedöns) inszenieren. Was dabei entsteht, ist eine seltene Form von Journalismus: einer ohne Inhalte, der laufend dieselben Fragen stellt und weder etwas erfährt noch sonstwie vorankommt.

Hanns-Josef Ortheil ist Roman- und Sachbuchautor. In seiner Kolumne befasst er sich damit, wie Geschehnisse aus aller Welt wahrgenommen und gedeutet werden.

Hanns-Josef Ortheil ist Roman- und Sachbuchautor. In seiner Kolumne befasst er sich damit, wie Geschehnisse aus aller Welt wahrgenommen und gedeutet werden.

Also berichtet man einfach mal über das große Nichts. Es besteht aus dem leichten, direkten oder indirekten Lächeln von Annalena B. oder Robert H., aus der Untersuchung ihrer Hosennähte oder der Schwere der Aktentaschen. Unglaublich vielsagend soll auch sein, auf welchem Gelände sich wer mit wem im Einzelnen wozu verabredet hat. Als Sensation erscheint es bereits, wenn Markus S. einmal einen Schritt schneller geht als sein Generalsekretär.

Farce vor den Journalisten

Wie sieht das Leben all dieser Politiker gerade wohl aus? Das fragen sich meine Freunde und schütteln den Kopf. War es nötig, sich öffentlich so zu bescheiden und vor den Journalisten eine solche Farce zu inszenieren, als bewegten die sich im Kraftfeld des Grals und seines Hüters Amfortas, der bekanntlich erlöst wird, wenn er das Richtige gefragt wird?

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Die Volksvertreter sagen nichts und winden sich stattdessen vor Mikrofonen, obwohl ihnen die erlösenden Sätze längst auf der Zunge brennen.

Spiel mit verteilten Rollen

Um sich zumindest ein bisschen voneinander zu unterscheiden, hat sich das Panoptikum zu einem Spiel mit verteilten Rollen entwickelt. Olaf S. bevorzugt die des Untertauchers, der auch einmal für ein paar Augenblicke von den Bildflächen verschwindet, um nach den Blumen in seinem Garten zu sehen, während Armin L. die Rolle des Mannes übernommen hat, der unter einer tiefen Max Frisch-Krise leidet: Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Homo faber? Stiller? Oder ein ganz anderer?

Christian L. träumt in den Pausen des Schweigens von den Automobilen der Zukunft, mit denen er schon als junger Azubi so gerne gefahren wäre, und Annalena B. hat eine Gymnastik entdeckt, die das Reden im hohen Sopran mit leidenschaftlich wirkender Körpersprache verbindet.

Moderatorinnen geraten in Trance

Vollends komisch wird dieses Theater, wenn es als Talkshow aufgeführt wird. Zu Beginn lächeln die Moderatorinnen noch wohlgemut, dann aber geht ihnen in den endlosen Phasen inhaltlichen Stillstands allmählich jede Puste aus, und man beobachtet Journalistinnen, die wie in Trance vieles durcheinander bringen. Welche Partei vertritt, verflixt nochmal, der Herr in Blau, der sich gerade so vielsagend kratzt? Und was will die mir gegenübersitzende Dame in Rot uns allen damit sagen, dass sie sich über ihr Knie streicht?

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In den Sendern liest man rasch noch einmal die Klassiker zur Körpersprache. Samy Molchos Bücher etwa nahmen es sogar mit pantomimischen Darstellungen auf, und Geheimagenten des FBI haben darüber geschrieben, wie man Menschen liest, die etwas Böses vorhaben. Von links nach rechts? Von oben nach unten? Oder einfach mal quer, gescannt?

Erinnerung an die Commedia dell'arte

Das alles deutet an, wohin sich die Politik zurückgezogen hat: ein Leben in Verstecken und ins Dunkel hinter Vorhängen, die höchstens mal kurz rascheln dürfen. Meine italienischen Freunde lachen darüber. Sie nennen es aus alter Erfahrung eine Frühform der Commedia dell’arte. Gute Idee, sagen meine deutschen Freunde, daraus soll ja einmal Kunst entstanden sein. Hoffen wir wenigstens das!

Hanns-Josef Ortheil schreibt neben seiner Kolumne auch einen regelmäßigen Blog

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