Bonner Philosoph Markus Gabriel„Weihnachten ist konsumanregend – das ist doch gut“

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Der Weihnachtsmann schwebt im Schlitten mit seinen Rentieren über den Roncalli Weihnachtsmarkt auf dem Rathausmarkt in der Hamburger Innenstadt.

Der Weihnachtsmann mit Geschenken im Gepäck auf seinem von Rentieren gezogenen Schlitten

Gabriel feiert gerne Weihnachten, fände einen Nathan-der-Weise-Feiertag charmant und erklärt, wann für ihn in Deutschland der Punkt erreicht wäre, die Koffer zu packen.

Herr Professor Gabriel, Sie haben 2023 ein „ABC des wachen Denkens“ vorgelegt. Was fällt Ihnen zu W wie Weihnachten ein?

Weihnachten ist die perfekte Verschmelzung von Monotheismus mit polytheistischem Heidentum. Viele Elemente von Weihnachten haben mit dem Urchristentum nichts zu tun, sondern stammen aus der paganen römischen Antike. Als Verbindung religiöser Untertöne und weltlicher Elemente adressiert Weihnachten ein gemischtes Publikum und passt mit seiner heutigen Grundidee des stimulierten Konsums somit bestens zu einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft.

Da stimmen Sie munter ein in den Chor der Kulturkritiker: Weihnachten, verkommen zum Fest des Kommerz.

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Ich sehe das gar nicht negativ. Es ist doch prima, wenn die Leute konsumieren. Regt die Wirtschaft an, erhöht die Steuereinnahmen, aus denen dann wieder soziale Leistungen finanziert werden können. Und das ist doch gut. Ich bin gar nicht so sehr Kapitalismuskritiker, wie es den Anschein haben könnte. Wer Weihnachten allerdings ernsthaft feiern will, muss sich darauf festlegen, dass Jesus Christus Sohn Gottes, Heiland und Erlöser der Welt ist.

Wir feiern Weihnachten als Familienfest.
Markus Gabriel

Alles andere wäre „unernsthaft“? Wie ist Weihnachten dann im Hause Gabriel?

Klassisch – mit Weihnachtsbaum und Weihnachtsliedern. Aber mit wenig Weihnachtsgeschichte. Wir feiern Weihnachten als Familienfest. Darin sehe ich übrigens den bleibenden Wert von Weihnachten: Als Fest verbindet es Menschen durch ein verbindliches Repertoire an Formen. Und in einer pluralen Gesellschaft ist es dann sogar von Vorteil, dass Weihnachten als Fest religiös entkernt ist und stattdessen vornehmlich konsumanregend wirkt. Im Feiertagskalender ist es, aufs ganze Jahr bezogen, ein Problem, dass die meisten Feiertage christlich kodiert sind. Was wir als plurale Gesellschaft bräuchten, wären geteilte Rituale möglichst aller Staatsbürger.

Der Philosoph Markus Gabriel bei der phil.cologne 2022.

Der Philosoph Markus Gabriel im Gespräch bei der phil.cologne 2022.

Warum?

Um den zivilreligiösen Glauben zu nähren, dass die Demokratie nicht nur eine Ansammlung von Verfahren ist, sondern eine – auch spirituelle – Verbundenheit untereinander.

Ein Nathan-der-Weise-Feiertag wäre eine charmante Idee.
Markus Gabriel

Sollte die Politik das aktiv betreiben – vielleicht mit einem Leitkulturministerium?

Ich wäre sofort dafür, wenn ein solches Ministerium es als seine Hauptaufgabe sähe, die Pluralität der Gesellschaft abzubilden. Ein funktionierendes Leitkulturministerium in Deutschland müsste heute insbesondere auch muslimische Spiritualität berücksichtigen und als liebenswert vermitteln – ohne diese dauernde Bezugnahme auf den islamischen Fundamentalismus. So wie das traditionell beim Christentum der Fall war, das ja sehr wohl auch fundamentalistische Auswüchse kennt, vor denen die Gesellschaft bewahrt werden muss. Ein Leitkulturministerium müsste die Rolle Nathans des Weisen aus Lessings Drama spielen, dem heute aktuellsten Stück überhaupt: Bei Lessing sorgt die jüdische Stimme dafür, dass die beiden anderen Weltreligionen nicht übereinander herfallen. Wenn ich es so überlege, wäre ein Nathan-der-Weise-Feiertag eine charmante Idee.

In der Corona-Pandemie waren Sie sehr skeptisch gegenüber Rufen nach Zusammenhalt oder gesellschaftlichem Konsens. Was glauben Sie, worauf es in den gegenwärtigen Krisenlagen am meisten ankommt?

Wie schon in der Corona-Zeit: auf den Liberalismus. Nicht als Wirtschaftsdoktrin, sondern als eine parteiübergreifende Vorstellung vom Wert der Demokratie.

Dissens ist die grundlegende Struktur freier Gesellschaften.
Markus Gabriel

Und welche Vorstellung wäre das?

Dass Dissens die grundlegende Struktur freier Gesellschaften ist. Was uns alle verbindet, ist, dass es nichts Substanzielles gibt, das alle verbindet, sondern nur unsere Freiheit und damit Offenheit gegenüber dem sozialen Wandel.

Das klingt wie ein Förderprogramm für weitere Polarisierung.

Das Elend der Polarisierung besteht darin, aus vielen Stimmen nur noch zwei zu machen. In einer pluralen Gesellschaft gibt es zu jedem streitigen Thema immer viele verschiedene Meinungen. In der polarisierten Gesellschaft gibt es nur noch zwei Positionen: dafür oder dagegen. In der Pandemie: „Team Drosten“ gegen „Team Streeck“. Im Nahost-Konflikt: Israel gegen Palästina. Und so weiter. Alles gefährliche Vereinfachungen!

Dumm nur, dass im Meinungsstreit politische Entscheidungen erforderlich sind, die auf Polarität angelegt sind. Beispiel: Kohleausstieg – ja oder nein? Da kann es nicht unendlich viele Meinungen geben.

Solche Entscheidungen muss man dann als Kompromiss verkaufen. Wann haben wir zuletzt einen politischen Kompromiss gefeiert? Kompromisse kommen bei uns immer als Kröten oder Krücken rüber. Und die Polarisierer tun so, als könnte es die „eine, richtige Lösung“ geben. Das stimmt aber nicht. Beim Kohleausstieg zum Beispiel ist schon das Datum 2030 ein Kompromiss - zwischen den Extremen „Ausstieg sofort“ und „Ausstieg nie“.

Der Blick auf die Ampel ist vom Narrativ geprägt, die FDP sei ein neo-liberaler Störer und Miesepeter, eine ewige Schuldenbremse sozusagen.
Markus Gabriel

Ist die Ampel-Koalition der institutionalisierte Kompromiss?

In der Tat, und dafür sollten wir sie schätzen. Deswegen finde ich es verdächtig, dass der Blick auf die Ampel vom Narrativ geprägt ist, die FDP sei ein neo-liberaler Störer und Miesepeter, eine ewige Schuldenbremse sozusagen. Die Beschreibung ist objektiv falsch. Es gibt – je nach Thema – wechselnde Nähe-Beziehungen zwischen den drei Koalitionspartnern SPD, Grünen und FDP. Aber im Ergebnis gilt die Partei, die mit dem Begriff Liberalismus verbunden wird, als der Spaltpilz. Und das wiederum ist nicht gut – für den Liberalismus. Wobei ich gleich dazu sage, dass die wirtschaftsliberale Engführung der FDP-Spitze nicht mit dem politischen Liberalismus zu verwechseln ist, der nicht nur ein Wirtschaftsprogramm ist.

Vom Unmut über die Ampel profitiert am meisten die AfD. Das müsste Ihnen zu denken geben.

Zur Demokratie gehört, dass es keine eindeutigen Lösungen gibt. Die Gefahr für die Demokratie besteht dann in der wachsenden Bereitschaft, denen zu folgen, die das Gegenteil behaupten. Dabei zeigt der Blick auf autoritäre Regimes, dass es mit dort mit der Problemlösungskompetenz auch nicht weit her ist. Wenn Klimaforscher beispielsweise zu wenig Entschlossenheit und ein zu geringes Tempo demokratischer Entscheidungen für den Klimaschutz anprangern, sollten sie bitte mal nach China oder Russland schauen: Dort machen die Führungen keine Anstalten, den Ausstieg aus der fossilen Energie-Erzeugung zu forcieren. Demokratiekritik ist deshalb im Kontext der Klimapolitik weder situationsgerecht noch wissenschaftlich im strengen Sinne. Eine wissenschaftlich adäquate Beschreibung der Klimaanlage…

Wir schauen insgesamt viel zu viel auf die Politik.
Markus Gabriel

Schöner Versprecher!

Wieso? Sprechen wir doch ruhig von der „globalen Klimaanlage“! (lacht) Man kann für die Erderhitzung allerlei wissenschaftliche Szenarien berechnen, und die haben ihren Wert. Aber sie sind am Ende nichts wert ohne den Faktor Geopolitik.

Als Philosoph sehen Sie sich als unverbesserlichen Weltverbesserer. Was ist dann Ihr Vorschlag zur Krisenbewältigung? Sie loben Pluralität und Liberalismus – okay! Aber zugleich sehen Sie selbst, dass den Menschen alles zu komplex wird und sie sich zu denen mit den vermeintlich einfachen Lösungen flüchten.

Deshalb muss man ihnen andere Lösungsangebote machen. Mein Plädoyer wäre, das nicht allein der Politik zu überlassen. Wir schauen insgesamt viel zu viel auf die Politik, suchen das Heil in politischer Kommunikation: „Der Kanzler müsste einfach mehr reden und mal was Schönes sagen…“ Als ob damit die Probleme gelöst wären! Ich glaube, man muss stattdessen viel mehr die Wirtschaft in Mithaftung nehmen. Nehmen Sie nochmal die „globale Klimaanlage“: Wir brauchen in der ökologischen Transformation wirtschaftliche Ideen, wie man in einer öko-sozialen Marktwirtschaft Mehrwert produziert – „Asche für alle“. Der Staat kann das nicht alleine, wir leben eben zum Glück nicht in einem totalitären System. Wirtschaft, Forschung, Technik Hand in Hand: Daraus müssen die Impulse kommen.

Solange wir in modernen kapitalistischen Gesellschaften leben, hängt Fortschritt an der Wirtschaft.
Markus Gabriel

Dann müssen Sie aber immer noch das Problem der gesellschaftlichen Polarisierung lösen.

Ich glaube, das eine ergibt sich aus dem anderen. Die Menschen werden dann unzufrieden und sauer, wenn in den Wertschöpfungsketten zu wenig bei ihnen ankommt.

Wie schon Bill Clinton wusste: „It’s the economy, stupid!“ – Am Ende ist alles eine Frage von Wirtschaft?

Solange wir in modernen kapitalistischen Gesellschaften leben, hängt Fortschritt an der Wirtschaft. Deshalb brauchen wir einen ethischen Kapitalismus mit einer moralisch fortschrittlichen Wirtschaft, die sich nicht aus der Verantwortung stiehlt. Wenn ich Wirtschaftsminister Robert Habeck wäre, würde ich in Fragen des ökologischen Umbaus den Ball an die Wirtschaft zurückspielen – nicht mit mehr Regulierung, sondern mit der Ansage: Ihr müsst das lösen!

Wenn es in Deutschland zum Problem wird, den Antisemitismus schrecklich zu finden, dann packe ich meine Koffer.
Markus Gabriel

Sie sind sehr viel international unterwegs. Gäbe es für Sie als erklärter Liberaler den Punkt, an dem Sie sagen: In Deutschland kann ich nicht mehr bleiben?

Wenn es in Deutschland zum Problem wird, den Antisemitismus schrecklich zu finden, dann packe ich meine Koffer.

Warum ist der Antisemitismus für Sie der Gradmesser?

Der Antisemitismus ist ein wesentlicher Schlüssel zur Schattenseite der Moderne. Antisemitismus richtet sich immer auch gegen die Fortschritte und Errungenschaften der Moderne. In der Welt der Antisemiten stehen „die Juden“ für alles, was eigentlich gut ist an der Moderne – etwa unser Finanzsystem. Es ist doch interessant, dass Antisemiten Finanzen für etwas Verdächtiges halten und ihre Ressentiments auf Juden projizieren. Finanzen braucht jeder, daran ist nichts verdächtig. Das antisemitische Raunen macht aus Geld etwas angeblich Gefährliches und konstruiert eine Verschwörungserzählung. Daraus entsteht gefährlicher rassistischer Unsinn. Wenn solche Vorstellungswelten politisch stark werden, geraten wir in den regressiven Absturz.

Noch ist der Antisemitismus bei uns keine treibende politische Kraft.
Markus Gabriel

Wo sind wir da gerade?

Nach meiner Wahrnehmung stehen wir zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte an einem kritischen Punkt. Der Antisemitismus war immer da. Aber wenn man als Jude oder Jüdin in Deutschland beständig Angst haben muss, dann wird es ernst. Und das erlebe ich bei meinen jüdischen Freundinnen und Freunden in zunehmendem Maße. Sie müssen sich – anders als früher – in all ihrem Tun und Lassen zu ihrem „Jüdisch sein“ verhalten.

Haben Sie Ihre Koffer etwa schon vom Speicher geholt?

Noch nicht. Noch ist der Antisemitismus bei uns keine treibende politische Kraft. Das wäre die erwähnte Schmerzgrenze.

In einer Gesellschaft mit Migrationsproblemen kann man leben, weil jede Gesellschaft diese Probleme hat.

Was meinen Sie mit „treibender politischer Kraft“?

Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten erlebt, wie rapide Fragen der Migration ins Zentrum der politischen Agenda gerückt sind. Dafür gab es berechtigte Gründe, zweifellos. Aber es ist schon unbequem, wenn eine Gesellschaft sich über das Thema Migration steuert und Menschengruppen, etwa Migranten muslimischen Glaubens, unter den Generalverdacht geraten, die Sozialsysteme auszubeuten oder anfällig für Kriminalität zu sein. Und doch kann man in einer Gesellschaft mit Migrationsproblemen leben, weil jede Gesellschaft diese Probleme hat. Wenn aber in den Vorurteils- und Sündenbock-Denkstrukturen an die Stelle der Migranten die Juden treten, dann muss man weg. Davon sind wir heute, ich wiederhole es nochmal, sehr weit entfernt, aber zumindest ist es denkbar. Und das war es in meiner Lebenszeit noch nie.

Dann ein letztes Mal die Frage: Was tun? Was tun, damit aus dem Denkbaren nicht Realität wird?

Wir müssen stolze Moderne werden. Ich habe in den letzten Jahren eine neue Sympathie für Jürgen Habermas’ hymnisch-staatstragende Vokabeln wie Moderne, Aufklärung, demokratischer Rechtsstaat entwickelt. Ich verstehe auf einmal, dass es auch bei uns immer um die Verteidigung der modernen Demokratie geht. Es ist unsexy geworden, die Moderne und die Aufklärung zu verteidigen. Die Moderne mit all ihren angeblich „bösen“ Elementen wie Marktwirtschaft oder gar Kapitalismus geht Postmodernen und Postkolonialen gewaltig gegen den Strich. Es ist ja richtig, dass Kolonialismus, Misogynie, Umweltzerstörung und vieles mehr auch auf das Konto der Moderne gehen. Aber nur in einer modernen Gesellschaft kann das zum Thema werden. Beginnen Sie mal einen postkolonialen Diskurs in Putins Russland! Da säßen Sie ganz schnell in der Zelle neben Alexej Nawalny. Hier nicht! Ich glaube, wenn wir unsere Freiheit retten wollen, müssen wir die Moderne neu lieben lernen.

Zur Person

Markus Gabriel, geboren 1980, ist seit 2008 Professor für Philosophie. 2009 übernahm er an der Universität Bonn den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie sowie Philosophie der Neuzeit und Gegenwart. An der Universität Bonn leitet er auch das „Internationale Zentrum für Philosophie NRW“ sowie das multidisziplinäre „Center for Science and Thought“, das sich mit philosophischen Grenzfragen der gegenwärtigen Naturwissenschaften beschäftigt. Seit 2021 ist Gabriel Direktor des Programms „The Foundations of Value and Values“ der Hamburger Denkfabrik „The New Institute“, seit 2022 Academic Director. Gabriel wurde durch populärwissenschaftliche Bücher bekannt, über die in Fachkreisen heftig gestritten wurde. (jf)

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