Regierung in der Coronakrise„Diktatur der Virologen mit unbeschränkten Vollmachten“

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Gesundheitsminister Jens Spahn muss sich aktuell auf das Urteil der Virologen des RKI verlassen.

  • Die Politik wälzt ihre Legitimationsprobleme auf Wissenschaftler ab, die damit aber erkennbar überfordert sind. Das ist zum Gruseln.
  • Politikprofessor Reinhard Mehring spricht im Interview gar von einer „Diktatur der Virologen“.
  • Ist es richtig, der Wissenschaft ungeprüft einen derart großen Vertrauensvorsprung zu gewähren?

Herr Professor Mehring, würden Sie als politischer Philosoph sagen: Nie war der Staat so wertvoll wie heute, in der Coronakrise?

Reinhard Mehring: Noch wertvoller ist die parlamentarische Demokratie als Staatsform. Und deren Situation ist momentan durchaus beunruhigend. Die Opposition als Korrektiv fällt so weit aus, dass es für mich an ein Versagen grenzt. Die FDP knabbert noch an ihrem Thüringen-Desaster. Vom sonst allgegenwärtigen Grünen-Chef Robert Habeck hört man kaum noch etwas. Und die AfD ist – was man ja noch am ehesten begrüßen kann – komplett mit sich selbst und ihrem Extremismus beschäftigt oder kommt über infame Bemerkungen zur Quarantäne der Kanzlerin nicht hinaus. Dabei müssen wir gerade jetzt aufpassen, was aus unserer liberalen politischen Kultur wird.

Wohin bewegt sie sich Ihrer Meinung nach?

Wir erleben nicht erst jetzt eine Tendenz zur Expertokratie. Die Krisen parlamentarischer Regierungsbildungen im Zuge des erstarkenden Populismus haben seit zehn, 15 Jahren vermehrt Exekutivregimes hervorgebracht. In Österreich führte die dortige Koalitionskrise 2019 zu einer monatelangen Expertenregierung. In Italien gab es so etwas wiederholt. Und jetzt übernimmt bei uns das Robert-Koch-Institut (RKI) das Kommando. Die Politik treibt die Experten in eine Diktatur der Virologen, in der diese als Akteure ohne demokratische Kontrolle praktisch unbeschränkte Vollmachten zugestanden bekommen. Und das, obwohl die Virologen selbst uneins sind, was es mit Corona auf sich hat und wie sich das Virus entwickelt. RKI-Präsident Lothar Wieler, laut Infektionsschutzgesetz der Mächtigste von allen, erklärt, nie hätte er sich die Entwicklung einer solchen Krise vorstellen können. Da graust es mich.

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Reinhard Mehring  ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg.

Warum?

Weil die Politik ihre Legitimationsprobleme auf die Wissenschaft abwälzt, die damit aber erkennbar überfordert ist. Das virologische Quartett der Herren Wieler, Christian Drosten, Alexander Kekulé und Frank Ulrich Montgomery spielt ja mitnichten durchgehend harmonisch. Von Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer und selber kein Virologe, höre ich durchaus skeptische Töne mit Warnungen vor übereilten, überzogenen Maßnahmen.

So, und was bitteschön sollen Politiker, die nur in den seltensten Fällen auch medizinische Expertise haben, dann tun?

Ich bin auch kein Virologe und muss deren Zunft den gleichen Vertrauensvorschuss gewähren wie die Politiker. Aber das enthebt mich doch nicht einer Verpflichtung zur kritischen Rückfrage. Mir scheint es offensichtlich zu sein, dass unser Verfassungsstaat nicht der Logik der Virologen mit ihren sehr langfristigen Betrachtungszyklen folgen kann. Monate oder gar Jahre in diesem Ausnahmezustand sind ausgeschlossen. Sonst werden die ökonomischen und sozialen Auswirkungen schlimmer sein als die Verluste an Menschenleben, die wir derzeit befürchten müssen und die wir nach Kräften verhindern wollen.

Dann stellt sich die Frage doch umso drängender: Was tun?

Erst einmal die Kirche im Dorf lassen und ganz nüchtern die Dimensionen der Bedrohung durch das Virus betrachten. Da geht es primär um die Mortalitätsquoten, um die Risikogruppen und dann um die gebotene Verhältnismäßigkeit, bei der ich mich jetzt schon frage, ob sie in allem noch gegeben ist, was gerade geschieht. Und wir brauchen auf jeden Fall ein Herunterfahren des diktatorischen Pathos. Ein erster Schritt war es, von „Kontaktverboten“ zu sprechen und nicht verbal mit „Ausgangssperren“ aufzutrumpfen. Wir dürfen jedenfalls die nach der Wirtschafts- und Finanzkrise mühsam wieder errungene Normalität nicht bei nächstbester Gelegenheit aufs Spiel setzen.

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Die Corona-Pandemie als „nächstbeste Gelegenheit“?

Na ja, es wären theoretisch noch gefährlichere Pandemien vorstellbar. Für die Demokratie aber ist diese schon gefährlich genug. Wir erleben dramatische Erosionen: beschleunigte Gesetzgebungsverfahren oder gleich das Operieren mit Verordnungen anstelle von Gesetzen. Man muss sich einmal klar machen: Jedes Gesundheitsamt kann massiv in Bürgerrechte eingreifen. Das ist doch alles in allem sehr riskant.

Welche Art Sicherung empfehlen Sie?

Es muss jetzt offen und – wenn nötig – kontrovers über alles gesprochen werden. Nicht nur über die Beschaffung von Beatmungsgeräten, sondern auch über den Geist der Demokratie und wie wir ihn schützen.

Auf die Gefahr hin, dass die Zustimmung in der Bevölkerung zu harten Einschnitten ins eigene Leben leidet?

Das sehe ich anders. Der Konsens leidet, wenn wieder einmal der Eindruck entsteht, politisches Handeln sei „alternativlos“. Das ist es nicht. Um das zu verdeutlichen, braucht es die Opposition, kritische Medien und die Gerichte. Gerade jetzt ist es elementar, dass der Rechtsweg jedem offen steht und dass die Verwaltungsgerichte ihre Arbeit machen. Mir hat die Kanzlerin in ihren Ansprachen zu viel moralisiert. Da war viel von der Selbstverpflichtung aller die Rede, aber wenig von der Verpflichtung der Politiker auf die Wahrung der Verfassung. Wenn dann auf einmal Kanzleramtschef Helge Braun, von dem sonst höchst selten etwas zu vernehmen ist, aus dem Schatten der Kanzlerin heraus- und als oberster Exekutor hervortritt, dann ist das der letzte Mosaikstein in einem höchst bedenklichen Gesamtbild.

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