Krisen-BilanzDie Höhen und die tiefen Stürze von Angela Merkel

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Merkel Vereidigung

Angela Merkel legt im Jahr 2005 vor dem Bundestag ihren Amtseid als Kanzlerin ab.

Angela Merkel sagt es ganz am Anfang. Sie steht am Rednerpult des Bundestags, sie wirkt lebendig, in ihrem schwarzen Blazer geradezu feierlich, voller Vorfreude auf das, was jetzt kommen mag. „Wir werden eine Regierung der Taten sein“, verspricht sie in ihrer ersten Regierungserklärung am 30. November 2005. Aber: „Wir wissen, dass wir auch Rückschläge werden hinnehmen müssen.“ Sie ahnt natürlich nicht, welche das sein werden in den folgenden 16 Amtsjahren. Erst recht nicht, dass es 16 lange Jahre werden würden.

Weg ins Offene

Es hört sich damals nach einer Anleihe bei John F. Kennedy an, als Merkel die Chancen des Landes rühmt und appelliert: „Fragen wir deshalb nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war; fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde.“ Ihre Stimme klingt heller als heute. Vieles hat sich seither verändert. Nicht aber ihre Prinzipientreue. Dazu gehört auch diese Überzeugung: „Wir schaffen das.“

Sie hatte es geschafft, als erste Frau in der Geschichte des Landes das Kanzleramt zu erklimmen. Mit 51 Jahren auch als Jüngste. Und erste Ostdeutsche. Das In- und Ausland schaut zu, wie sie ins „Offene“ geht. Sie, die Protestantin mit der DDR-Erfahrung bis zum Fall der Mauer. Ins Offene. Ein Begriff, den sie prägen wird in ihren Regierungsjahren - und der sie prägen wird. Von Krise zu Krise. Ins Offene, ins Weltoffene, ins Risiko. Höhen und Tiefen, Erfolg und Misserfolg liegen stets nah beieinander.

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Ihre Kanzlerinschaft ist von tiefgreifenden und langen Krisen geradezu gepflastert. 2008 die Bankenkrise, ab 2009 die Griechenlandkrise und die Euro- und Schuldenkrise, 2011 der Super-GAU im japanischen Fukushima und die Folgen für Merkels in Deutschland umstrittene Atompolitik, ab 2014 die Ukraine-Krise, 2015 die Flüchtlingskrise, seit 2020 die Coronakrise und 2021 noch die Afghanistan-Krise und fortdauernd die Klimakrise.

Aus der Konfliktbewältigung entwickelt sie ihr Profil: Vortasten, abwarten, verhandeln, noch einmal verhandeln, entscheiden und dann stehen, durchstehen, überstehen. Das macht sie zur mächtigsten Frau der Welt.

Flüchtlingskrise sticht hervor

Die Flüchtlingskrise sticht aus dieser Liste der dramatischen Herausforderungen hervor, weil Merkel durch ihre eisernes, von Humanität geleitetes Festhalten am deutschen Asylrecht und offenen Grenzen eine Hauptakteurin der globalen Auseinandersetzung wird. In Deutschland zerbricht durch ihr Zerwürfnis mit Innenminister Horst Seehofer fast die Unionsfraktion im Bundestag, die AfD erstarkt, in Europa schotten sich Mitgliedstaaten im Osten gegen die Flüchtlingsbewegung ab - und gegen Merkel.

In den USA wird sie dagegen von Medien und Anhängern der Demokraten gefeiert und nach dem Amtsende von Barak Obama zur „Führerin der freien Welt“ ausgerufen. Es war Merkel, und nur sie auf internationaler Bühne, die Obamas Nachfolger Donald Trump nach dessen Wahlsieg Zusammenarbeit anbietet - auf der Grundlage der gemeinsamen Werte. Eine Ungeheuerlichkeit. Das kleine Deutschland maßt sich an, die große Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika an Freiheits- und Menschenrechte zu erinnern.

Wie richtig und nötig das war, stellt Trump in den Folgejahren durch seine Bemühungen um Spaltung, auch des Westens unter Beweis. Dass Merkel seine Lieblingsfeindin sein würde, macht er schon bei ihrem Antrittsbesuch im März 2017 klar. Er verweigert ihr vor der Weltpresse im Weißen Haus den üblichen Handschlag zur Begrüßung. Die transatlantischen Beziehungen, das deutsch-amerikanische Verhältnis sacken auf einen Tiefpunkt. Trump wird das Kanzleramt nicht von innen sehen.

Corona-Pandemie überstrahlt alle Krisen von Merkels Amtszeit

Die alles überwölbende Krise in ihrer Amtszeit ist aber die Corona-Pandemie. Sie hat ein Ausmaß, das die spezifischen Bewältigungsversuche jeder einzelnen Krise in der Summe miteinander vereint: Schnelles Handeln, Milliarden-Kredite, Anfeindungen aushalten, Verzweiflung, ständiges Ringen um Vertrauen. Das Alleinstellungsmerkmal von Corona: Alle Menschen sind betroffen. Nicht allein Sparer, Unternehmen, Flüchtlingshelfer, Ukrainer, Afghanen. Es gefährdet jeden Einzelnen, auch Merkel persönlich. So wie es in einigen Jahren die Klimakrise tun wird, wenn die Versäumnisse der Merkel-Regierungen nicht sehr schnell in Angriff genommen werden. Mit ihrer vielleicht wichtigsten Ansprache rückt Merkel zu Beginn der Pandemie das Land zusammen. In ihrer einzigen Rede an die Nation im Fernsehen mahnt sie im März 2020: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Da folgen ihr die Menschen noch, die anderen Politiker, die Wirtschaft. Aber je mehr der Schock weicht und das unsichtbare Virus vorübergehend in den Hintergrund rückt, desto schwerer hat es die Naturwissenschaftlerin, die daran verzweifeln kann, dass andere nicht verstehen, was ein exponentielles Wachstum von Corona-Infektionen bedeutet.

Und noch etwas ist einmalig an der Corona-Krise. Merkel macht, was sie vorher und nachher nie getan hat: Sie bittet die Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung. In einer nächtlichen Ministerpräsidentenkonferenz im Frühjahr hatte sie ihr Instinkt verlassen, Entscheidungen nicht übers Knie zu brechen.

Herauskommt ein Lockdown über die Ostertage, die Osterruhe. Ein Aufschrei geht durchs Land, die Bundesregierung selbst versinkt im Organisationschaos. Merkel bittet um Verzeihung. Nicht für den geplanten Lockdown, sondern für die Verunsicherung der Menschen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Regierung ist die alles entscheidende Währung für eine Kanzlerin, einen Kanzler.

Vertrauen durch eine abenteuerlich wirkende Garantie

2008 hatte sie Vertrauen durch eine abenteuerlich wirkende Garantie wieder hergestellt. Um zu verhindern, dass die Deutschen durch das von den USA über die Welt hereinbrechende Wanken der Banken ihr riesiges Vermögen abheben und damit den Geldfluss im Land stoppen, versichert Merkel am 5. Oktober 2008 gemeinsam mit ihrem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD): „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“

Der Staat stellt Kredite und Garantien für eine halbe Billion Euro bereit, um Deutschland vor den Folgen eines ruinösen Finanz- und Investmentgebarens international operierender Banken zu bewahren, nachdem in den USA die Immobilienblase durch einen spekulativ aufgeblähten Markt geplatzt war.

In Windeseile, genauer gesagt innerhalb einer Woche, wird das „Finanzmarktstabilisierungsgesetz“ auf den Weg gebracht. Da der Bundeshalt damals ein Volumen von 280 Milliarden Euro hat, halten Experten Merkels Garantie für die Sicherheit der Spareinlagen für völlig unrealistisch. Aber Menschen und Märkte gewinnen das Vertrauen zurück. Das Geld bleibt auf den Konten.

Berlin kann auf Pandemie reagieren - Scheitern der Afghanistan-Strategie zum Schluss

Deutschland geht gestärkt aus der Krise hervor. Es hat sich weniger hoch verschuldet als andere Länder und erweist sich für Anleger als sicher. Derweil geht Griechenland durch Haushaltsbetrug finanziell den Bach runter und auch andere EU-Staaten stürzen durch die Staatsschulden- und Euro-Krise ab. Die Kanzlerin schnürt maßgeblich den Rettungsfonds für die gesamte Euro-Zone. Mit harten Konsequenzen für die finanzschwächeren Staaten. In leidenden Ländern wie Griechenland und Portugal schlägt ihr blanker Hass entgegen. Deutschland geht es hingegen später finanziell so gut, dass keine neuen Schulden mehr gemacht werden und eine Schuldenbremse im Grundgesetz verankert werden kann. Das versetzt die Bundesrepublik 2020 in die Lage, mit einer dreistelligen Milliardensumme auf die Pandemie zu reagieren und die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Ganz zum Schluss ihrer Amtszeit ereilt Merkel noch das Scheitern der Afghanistan-Strategie. Ihre aller letzte Regierungserklärung dieser Legislaturperiode hält sie zu diesem internationalen Einsatz. Eine gewisse Hartherzigkeit schimmert durch. Sie beklagt das Leid der Menschen und der Ortskräfte, die nicht vor dem Truppenabzug nicht mehr herauskamen, keine Frage. Aber es wird auch bei ihr, wie bei US-Präsident Joe Biden deutlich, dass sie ein Ende mit Schrecken vorzieht als ein Schrecken ohne Ende.

Was wird bleiben?

Was wird bleiben? Von ihrer Krisendiplomatie? Von ihren Überzeugungen? Es gibt einen Satz, mit dem ihre Amtszeit beginnt und der über ihre Amtszeit hinaus bleiben wird. Ihre Regierungserklärung 2005 schloss Merkel mit dem Satz: „Deutschland kann mehr und ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen.“ Dieses „Wir schaffen das“ sagt sie auch in der Flüchtlingskrise, für den sie wegen der gravierenden Probleme im Land mit Unterbringung und Integration der Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak massiv unter Druck gerät.

Merkel tritt ab

Angela Merkel

Eine Zeit lang müht sie sich, anders zu formulieren. Bis zu ihrer Rede an der Harvard Universität in Cambridge im Mai 2019. Sie sagt, Mauern könnten einstürzen, Diktaturen verschwinden, Fluchtursachen bekämpft, die Erderwärmung könne gestoppt, der Hunger besiegt, Mädchen der Zugang zu Bildung verschafft werden. „Das alles können wir schaffen.“ Und: „Wenn wir die Mauern, die uns einengen, einreißen, wenn wir ins Offene gehen und Neuanfänge wagen, dann ist alles möglich.“

Es klingt schon damals wie ein Vermächtnis. Sie zitiert ihre eigene Regierungserklärung von 2005: „Überraschen wir uns damit, was möglich ist – überraschen wir uns damit, was wir können.“ Was für sie nach dem Leben als Politikerin folge, sei völlig offen, sagt Merkel. Nur eines sei klar: „Es wird wieder etwas Anderes und Neues sein.“ Merkel wird wieder ins Offene gehen. Sie schafft das.

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