Gezielte BarbareiWarum die Zivilisten jetzt zum Hauptziel für Putin werden

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Putins Taktik 0703

Wladimir Putin hat am 24. Februar mit russischen Truppen die Ukraine angegriffen. 

  • Russland, gegen die ukrainische Armee nur bedingt erfolgreich, geht mit neuer Brutalität gegen Zivilisten vor.
  • Wladimir Putin will Millionen Menschen in ihren Städten belagern und aushungern.
  • Beschuss, Waffenruhe, Beschuss: Putins inhumanes Muster ist längst bekannt – aus Syrien. Eine Analyse

Zeigen die Ukrainerinnen und Ukrainer Mut? Oder ist das schon Übermut? In einem Gastbeitrag für die „New York Times“ drehte am Wochenende die junge ukrainische Journalistin Anastasiia Lapatina dem russischen Präsidenten gleichsam eine Nase: Wladimir Putin habe sich „mit dem falschen Land angelegt“, schreibt sie – und erzählt von den vielen Szenen des Widerstands, die mittlerweile in der Tat großen Eindruck machen auf ein verblüfftes Publikum rund um die Erde. Richtig ist: Mit so viel Gegenwehr in der Ukraine hat niemand gerechnet. Mit Panzerabwehrwaffen stoppen ukrainische Soldaten immer mehr russische Panzer. 285 Kettenfahrzeuge stehen nach Angaben des ukrainischen Generalstabs von Sonntag inzwischen zerstört am Wegesrand. Zudem habe man 44 Flugzeuge und 48 Helikopter abgeschossen.

Putin, voller Zorn, zieht neue Saiten auf

Noch bemerkenswerter sind der Widerstandswille und die Unaufgeregtheit der ukrainischen Zivilbevölkerung. Da gibt es den Mann, der in aller Ruhe eine nicht explodierte Mine von der Straße aufhebt, mit einer Zigarette im Mund. Da gibt es die Bauern, die liegengebliebene russische Panzer mit ihren Traktoren wegschleppen. Und da gibt es die Frau, die in ihrem Dorf auf einen russischen Soldaten zugeht und ihm rät, er solle Sonnenblumenkerne in seine Taschen stecken: So würden Blumen wachsen, wenn er auf ukrainischem Land stirbt.

Doch all diese Aktivitäten sind nur die halbe Wahrheit. Zum zweiten Teil des aktuellen Gesamtbilds gehört ein zornig – und damit noch gefährlicher – gewordener russischer Präsident. Putin, entsetzt über die Schwächen seiner Armee und das Hohngelächter der Ukrainerinnen und Ukrainer, zieht jetzt neue Saiten auf.

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Für die Zivilbevölkerung heißt das: Sie selbst wird zum Hauptziel. Moskau will ihren Widerstandswillen brechen – und zwar schnell.

Einen Vorgeschmack des neuen Stils bekamen am Wochenende die Einwohner Mariupols. Beobachter sprachen von einem grotesken Blutbad. In der Hafenstadt am Schwarzen Meer rissen russische Streubomben unter anderem einem Teenager beim Kicken beide Beine ab, zerfetzten einer Frau das Gesicht und töteten ein 18 Monate altes Kleinkind.

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Von dem völkerrechtswidrigen Einsatz unterschiedslos wirkender Waffen versprechen sich die russischen Militärs einen demoralisierenden Effekt, der durch den parallel bewirkten Stromausfall in der Stadt noch verstärkt werden soll. Lebensmittel und Trinkwasser wurden in Mariupol am Sonntag knapp, Heizungen funktionieren nicht mehr.

Das Team von Ärzte ohne Grenzen berichtet aus Mariupol: „Wir haben gestern Schnee und Regenwasser gesammelt, um etwas Wasser zu haben... Wir wollten auch Brot holen, aber wir wussten nicht, wann und wo es verteilt wird. Leute berichten, dass mehrere Lebensmittelgeschäfte durch Raketen zerstört wurden. Was übrig blieb, haben Menschen in ihrer Not mitgenommen. Es gibt immer noch keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung und keine Handy-Verbindung... Apotheken haben keine Medikamente mehr.“

Mariupol: Attacken auf Kliniken, Kindergärten und Bäckereien

Wie unterwirft man eine widerspenstige Bevölkerung, die sich der Besetzung ihres Landes partout nicht fügen will? Die Methode ist im Prinzip seit Jahrhunderten bekannt: Man treibt die Menschen in ihren Städten zusammen, schneidet sie strikt von der Außenwelt ab – und hungert sie dann aus.

Flucht aus Mariupol: Feuerpause offenbar nicht eingehalten

Das hört sich menschenunwürdig an und ist tatsächlich auch ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Doch dass Putin die dazu nötige Grausamkeit besitzt, hat er längst bewiesen.

„Das Muster ist aus Syrien bekannt“, warnt Bente Scheller von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Die Politologin und Buchautorin („The Wisdom of Syria‘s Waiting Game: Foreign Policy Under the Assads“) hat jahrelang in Damaskus gelebt und ist in Syrien sehr gut vernetzt.

Über Jahre hinweg hat Scheller immer wieder die zahllosen russischen Luftangriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten in Syrien beklagt, etwa in Aleppo und später in Idlib. Internationale Organisationen, darunter Amnesty International, haben dazu umfangreiche Dokumentationen vorgelegt.

Gezielt wurden in Syrien Kliniken, Kindergärten und sogar Bäckereien von russischen Kampfflugzeugen zerstört. Wenn Scheller seinerzeit darüber mit Bekannten in Deutschland diskutierte, reagierten viele spontan mit der Bitte, sie solle nicht einseitig Russland beschuldigen, die Wahrheit liege doch stets in der Mitte.

„Sie liegt aber nicht in der Mitte, weder damals noch heute“, unterstreicht Scheller. „Zum Glück sehen das inzwischen die meisten ein.“

„Ziel ist das größtmögliche Leid“

Schon in Syrien, sagt sie, habe Putin nicht etwa einen Kollateralschaden bei der Verfolgung eines anderen, militärisch definierten Vorhabens in Kauf genommen. „Sein Ziel war es, auch wenn viele sich das kaum vorstellen konnten, der Zivilbevölkerung in den belagerten Städten das größtmögliche Leid zuzufügen.“

Für diese frappierende Unmenschlichkeit gibt es aus Sicht Putins einen logischen Grund. Anders hätte er die bis dahin größte Fluchtbewegung dieser Zeit, mit ihren für Moskau erfreulichen destabilisierenden Wirkungen auf die Stimmung in der EU, nicht in Gang setzen können.

Millionen in die Flucht zu schlagen, idealerweise außer Landes, lohnt sich für eine Besatzungsmacht wie im aktuellen Szenario in der Ukraine gleich doppelt. Es trägt Unruhe – auch Verteilungskämpfe, hohe Kosten, Neid, Missgunst und Radikalisierung – woanders hin. Und es macht die nunmehr teilweise entvölkerten Städte für den Aggressor sehr viel leichter beherrschbar.

Als Scheller jetzt die wachsende Ansammlung russischer Fahrzeuge rund um ukrainische Städte sah und auch vom versuchten Vormarsch auf Einrichtungen der Strom- und Wasserversorgung hörte, dachte sie: „Déjà-vu.“

Irgendwann fehlen Narkosemittel

Auch die russischen Luftattacken auf Kliniken, ein aus Syrien vertrautes Bild, haben bereits begonnen. Die Weltgesundheitsorganisation zählte bereits sechs Angriffe als sogenannte verifizierte Attacken auf das Gesundheitswesen in der Ukraine. Weitere Berichte werden derzeit geprüft.

Das eigentliche Drama aber wird erst beginnen mit dem Abschnüren der Städte. „Es trifft immer die Wehrlosesten zuerst“, weiß Scheller.

Es beginnt mit dem leisen Entsetzen derer, die ständig auf Medikamente angewiesen sind – und diese nun plötzlich wegen der Straßenblockade nicht mehr bekommen: Diabetiker etwa, Menschen mit Bluthochdruck oder mit psychischen Krankheiten.

In Phase zwei gehen den Kliniken die Narkose- und Schmerzmittel aus. In Phase drei werden manche unabweisbaren Operationen trotzdem durchgeführt. All diese Eskalationen sind den Belagerern vorab bekannt, sie kalkulieren sie ein. Es sind Instrumente des Horrors, Elemente in ihrem Psychokrieg.

In Syrien trieb der von Putin unterstützte Diktator Baschar al-Assad Belagerte oft zu Verzweiflungstaten. Scheller erzählt von Wippen auf Kinderspielplätzen, die zu Pumpen umgebaut wurden: So wurde Wasser gefördert aus mühsam improvisierten neuen Brunnen. Waren die Essensvorräte aufgebraucht, gab es außer Wasser nichts mehr, was man hätte zu sich nehmen können. Im Jahr 2016 kochten Menschen in der belagerten westsyrischen Stadt Madaja Grassuppe. „Die Leute“, sagt Scheller, „wollten einfach irgendetwas in ihren Topf werfen.“

Wenn in Kiew positive Botschaften fehlen

In Kiew muss es so weit gar nicht kommen. Schon ein dauernder Stromausfall könnte die Stimmung vieler Großstadtbewohner schneller als gedacht kippen lassen. Derzeit halten die immer neuen Videobotschaften von Präsident Wolodymyr Selenskyj die Moral aufrecht, viele Menschen blicken zudem auf aufmunternde Botschaften aus ihren privaten digitalen Netzwerken.

Was aber, wenn das plötzlich alles fehlt? Sollten die Computerbildschirme dunkel bleiben und sich die Akkus der Mobiltelefone nicht mehr laden lassen, werden viele, besonders die Jüngeren, sich zurückgeworfen sehen auf ein völlig ungewohntes, jämmerliches Dasein: als vereinzelte Wesen, denen plötzlich ihre physische und psychische Verletzbarkeit vor Augen steht.

„Wohin aber gehen wir, wenn es dunkel und wenn es kalt wird?“, fragte die Lyrikerin Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht „Reklame“, das durchsetzt ist von lauter kursiv geschriebenen positiven Botschaften: „Ohne Sorge, sei ohne Sorge.“

Wie sich das Leben anfühlt ohne jede positive Botschaft, hat in Kiew, einer Stadt mit jahrzehntelanger Modernitäts- und Freiheitserfahrung noch niemand ausprobiert. Wie ist das, wenn man plötzlich nicht mehr weiß, was um einen herum geschieht? Wenn der Strom ausfällt, die Heizung, das Wasser? Und wenn dann auch noch Bomben einschlagen und die Wände wackeln?

Will man dann wirklich warten, bis draußen vor der Tür auch noch Putins thermobarische Waffen vom Typ Tos-1 aufgefahren werden, die den Menschen bis in Kellerräume hinein die letzte Luft aus ihren Lungen saugen?

Am Ende steht die ausgequetschte Stadt

Viele werden sich Putins Regie unterwerfen und auf das Angebot eingehen, ihre Städte zu verlassen, durch sogenannte humanitäre Korridore – die am Ende das zynische I-Tüpfelchen sind auf einer zutiefst inhumanen, komplett völkerrechtswidrigen Gesamtstrategie.

Zivilistinnen und Zivilisten als Geiseln zu nehmen, sie gar auszuhungern, ist schon seit der Haager Landkriegsordnung von 1907 verboten. Moskau allerdings verkehrt alles orwellianisch ins Gegenteil. Stets spricht die russische Regierung, wenn sie Bombenangriffe befiehlt, von einer nunmehr bevorstehenden Waffenruhe. Folgt auf die Waffenruhe bedauerlicherweise eine neue Eskalation, ist dies die Schuld der anderen; in Syrien waren es „Terroristen“, in der Ukraine sind es „Neonazis“.

So oder so aber blickt man gleich wieder auf die nächsten Friedensgespräche, Moskaus Außenminister Sergej Lawrow zupft sich schon die Manschettenknöpfe zurecht. Es ist ein einziges großes Hütchenspiel zur Verwirrung des Rests der Welt.

In Syrien wurden auf diese Art große Städte nach und nach ausgequetscht wie Opfer einer Würgeschlange, die einfach nicht locker lässt.

Zu keinem Zeitpunkt, das ist eine wichtige Erfahrung der Politologin Scheller, hörte Russland während dieses grausamen Prozesses auf, von Friedenslösungen zu sprechen. Mal wurde in Genf verhandelt, mal in Wien, zuletzt in Astana. In Wirklichkeit aber ging es Putin stets um etwas anderes: das eiskalte Festhalten an einer von ihm als effektiv erkannten Unmenschlichkeit. (rnd)

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