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Gastbeitrag von Krebsforscher Michael HallekEine Therapie darf nicht vom Alter abhängen

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Hendrik Streeck hat eine Debatte über die Behandlung von sehr alten Patienten ausgelöst.

Für Professor Michael Hallek müssen Selbstbestimmung und Menschenwürde Kompass ärztlichen Handelns sein.

Die Krebsmedizin hat in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Neue therapeutische Ansätze, innovative Medikamente und verbesserte diagnostische Möglichkeiten haben die Prognose und Lebensqualität vieler Patientinnen und Patienten deutlich verbessert.

Krebs ist jedoch nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung. Mehr als 500.000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an Krebs. Aufgrund der demografischen Entwicklung und einer alternden Bevölkerung wächst die Zahl älterer Menschen, die an einer Tumorerkrankung leiden.

Für diese Patientengruppe stellen sich besondere Fragen hinsichtlich der angemessenen Behandlung, der Lebensqualität und der Wahrung von Menschenwürde und Selbstbestimmung. Die Abwägung zwischen kurativer onkologischer Therapie und palliativer Versorgung rückt dabei immer mehr in den Fokus.

Streecks Aussagen erregen Aufsehen

In diesem Zusammenhang haben die Äußerungen des Bonner CDU-Abgeordneten Hendrik Streeck zur intensiven Krebsbehandlung bei hochbetagten Patienten Aufsehen erregt. Seine These, dass man prüfen müsse, ob belastende Therapien bei sehr alten Menschen noch sinnvoll seien, lenkt die Aufmerksamkeit auf die ethischen und medizinischen Herausforderungen im Umgang mit Hochbetagten.

Das kalendarische Alter sollte bei der Bewertung der Therapieindikation nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Viel entscheidender sind der funktionelle Status sowie die physische und kognitive Leistungsfähigkeit des Patienten. Auch bei sehr hochbetagten Menschen – selbst im Alter über 90 Jahren – können diese Fähigkeiten noch erhalten sein und sollten daher maßgeblich in die therapeutische Entscheidungsfindung einbezogen werden.

Die heutige Onkologie bietet ein breites Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten: Neben klassischen Verfahren wie Chirurgie, Strahlentherapie und Chemotherapie stehen zielgerichtete und immunmodulierende Therapien zur Verfügung. Die personalisierte Medizin ermöglicht es, Therapien auf die genetischen und molekularen Eigenschaften des Tumors abzustimmen.

Wirkung im sehr hohen Alter oft nicht ausreichend untersucht

Dennoch gilt: Nicht jede Innovation ist für jede Patientin und jeden Patienten sinnvoll. Besonders im Alter können Nebenwirkungen schwer wiegen, und Komorbiditäten erschweren die Therapie. Die Wirkung neuer Medikamente im sehr hohen Alter ist zudem oft unzureichend untersucht. Hier ist es dringend geboten, mehr Wissen über die Wirkungen und Nebenwirkungen während der Behandlung zu generieren, um künftig besser über den Nutzen bei älteren Menschen entscheiden zu können.

Das kalendarische Alter ist kein entscheidendes Kriterium für oder gegen eine Krebs-Therapie. Wichtiger sind der funktionelle Status, die kognitiven Fähigkeiten und die individuellen Ressourcen. Auch hochbetagte Menschen können von modernen Therapieoptionen profitieren, sofern diese zu ihren Lebenszielen passen und ihre Würde respektieren.

Palliativmedizin hat sich als eigenständiges Fach etabliert und verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz: Im Vordergrund stehen die Linderung von Beschwerden und die Erhaltung der Lebensqualität – körperlich, seelisch, sozial und spirituell.

Zusammenarbeit von Onkologie und Palliativmedizin

Gerade bei fortgeschrittener Erkrankung ist die enge Zusammenarbeit von Onkologie und Palliativmedizin entscheidend, um Therapieziele individuell zu definieren und die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten, im Rahmen einer offenen Kommunikation und gemeinsame Entscheidungsfindung, wie sie an vielen onkologischen Behandlungszentren gepflegt wird.

Eine zentrale Aufgabe besteht darin, sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an medizinischer Behandlung zu verhindern. Übertherapie kann die Lebensqualität massiv beeinträchtigen, aber genauso kann eine Unterversorgung Chancen auf Lebenszeit und -qualität nehmen. Die Therapieentscheidung sollte stets individuell, empathisch und reflektiert getroffen werden.

Hier sind folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  1. Zu erwartender Nutzen (Lebensverlängerung, Symptomkontrolle)
  2. Risiken und Nebenwirkungen
  3. Individuelle Lebensziele und Wertvorstellungen
  4. Vorliegen von Begleiterkrankungen
  5. Unterstützung durch das soziale Umfeld

Entscheidend ist dabei, dass Patientinnen und Patienten ausreichend informiert werden, damit sie gemeinsam mit dem Behandlungsteam tragfähige und selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Die Angehörigen können unterstützend einbezogen werden, ohne dabei die Autonomie des Patienten zu beeinträchtigen.

Im Mittelpunkt der Überlegungen zur Ermittlung einer für den Patienten optimalen Therapie stehen die Wahrung der Menschenwürde und das Recht auf Selbstbestimmung. Dies gewinnt vor allem bei älteren Patientinnen und Patienten an Bedeutung, da sie häufiger vor der Entscheidung stehen, ob eine möglicherweise belastende onkologische Therapie noch sinnvoll ist oder ob die Lebensqualität und ein würdevoller Lebensabend in den Vordergrund rücken sollten.

Grenzen des Sinnvollen erkennen

Die ethische Herausforderung besteht darin, einerseits die Möglichkeiten der modernen Medizin auszuschöpfen und andererseits die Grenzen des Machbaren und Sinnvollen zu erkennen. Es gilt, den Willen des Patienten zu ermitteln und zu respektieren – auch wenn dieser bedeutet, auf bestimmte Behandlungen zu verzichten. Ein ethisch fundierter Entscheidungsprozess erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Einbeziehung von Ethikkomitees, wenn Unsicherheiten bestehen.

Einige wenige Beispiele: Ein 82 Jahre alter Patient mit fortgeschrittenem Darmkrebs leidet nach mehreren Therapielinien zunehmend unter Nebenwirkungen. Nach ausführlicher Beratung entscheidet er sich gemeinsam mit seinem Ärzteteam für eine palliative Versorgung, um die verbleibende Zeit möglichst symptomarm im Kreise der Familie zu verbringen. Eine sehr alte Patientin mit Lungenkrebs wünscht ausdrücklich eine Fortsetzung der Therapie, um ein wichtiges Ereignis im Familienkreis zu erleben. Das medizinische Team unterstützt und achtet auf die Minimierung von Nebenwirkungen.

Wie sich hier bereits zeigt, gibt es kein allgemeingültiges Richtig oder Falsch. Jede Entscheidung muss individuell, wertschätzend und ethisch verantwortet getroffen werden. Die moderne Krebsmedizin eröffnet auch älteren Menschen neue Perspektiven. Entscheidend ist, dass Therapieentscheidungen nicht allein von medizinischen Fakten oder dem Alter abhängen, sondern von einer respektvollen Abwägung zwischen Nutzen, Risiken, Lebensqualität und dem Willen des Patienten.

Selbstbestimmung und Menschenwürde sind dabei unantastbare Grundsätze. Nur durch einen offenen Dialog, interdisziplinäre Zusammenarbeit und die konsequente Einbindung der Patienten lassen sich Über- und Unterversorgung vermeiden. Ziel ist eine Behandlung, die nicht nur das Leben verlängert, sondern es auch lebenswert erhält – individuell, angemessen und im Einklang mit den Werten des Einzelnen.

Professor Michael Hallek ist Direktor der Klinik I für Innere Medizin und des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) der Universität zu Köln.