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Lebensrettende HändeWie Blinde mit überlegenem Tastsinn Brustkrebs besiegen wollen

Lesezeit 6 Minuten
Andrea Lüling und ihr Kapital: Ihr Tastsinn.

Andrea Lüling und ihr Kapital: Ihr Tastsinn.

  • Eine Firma aus Mülheim an der Ruhr nutzt den überlegenen Tastsinn blinder Menschen bei der Krebsvorsorge.
  • Aus einer Behinderung wird so eine Begabung mit Hilfen für Betroffene.
  • Der junge Beruf der Medizinischtaktile Untersucherin hat bereits große Erfolge erzielt.

Köln/Mülheim an der Ruhr – Sanft streicht Andrea Lüling mit dem Handrücken über die Brust. Die Augen geschlossen. Über ihre Lippen huscht ein Lächeln. Sie sieht aus wie eine Pianistin, die mit den Händen über die Tasten streicht und jeden Ton genießt. Zentimeterweise arbeitet sie sich an den rot-weißen Klebebändern entlang, mit denen sie die Brust der Patientin zur Orientierung abgeklebt hat.

Zysten, Hautveränderungen, warme Herde, winzige Knoten, all das kann Lüling ertasten. Ihr Kapital sind ihre Hände und damit kann sie Leben retten. Freundlich empfängt Andrea Lüling im Behandlungsraum der Frauenarztpraxis Smidt und Sünter am Neumarkt in Köln. Sie nimmt die Jacken ab und legt sie auf einen Stuhl. Lüling ist von Geburt an fast blind.

Besserer Tastsinn als sehende Menschen

Etwa zehn Prozent der Sehkraft sind ihr geblieben, sie kann nur Kontraste erkennen, Farben überhaupt nicht, ihr Bild von der Welt ist schemenhaft und schwarz-weiß. Seit Dezember 2018 arbeitet die 54 Jahre alte Frau als Medizinischtaktile Untersucherin (MTU). Ihre Aufgabe ist es, die Frauenbrust abzutasten, um möglichst früh einen Tumor erkennen zu können. Tasten kann sie besser als viele Ärzte.

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Der Beruf der MTU ist noch jung und ausüben können ihn nur Menschen, die eine besondere Eigenschaft haben: Sie müssen blind oder wie Lüling zumindest fast blind sein, weil der Tastsinn dieser Menschen besonders ausgeprägt ist. „Ich wollte, dass man aus einer Behinderung eine sinnstiftende Begabung macht, die sogar Leben retten kann“, sagt Frank Hoffmann.

Idee für Beruf unter der Dusche

Der Gynäkologe aus Mülheim an der Ruhr ist Gründer der Firma Discovering Hands, die MTU ausbildet und an Arztpraxen verleiht. Die Idee kam ihm morgens unter der Dusche.„Es war eine Eingebung, ein kreativer Moment“, sagt er. „Die Idee war in meinem Kopf und ließ mich nicht mehr los.“

Inzwischen ist Hoffmann Erfinder eines ganz neuen Berufsbilds. Neun Monate dauert die Qualifikation, in der die Frauen vor allem lernen, ihren herausragenden Tastsinn präzise einzusetzen. Sie lernen, wie Brustkrebs entsteht, wie er sich ausbreitet, wie er sich anfühlt und wie man ihm auf die Spur kommt, möglichst lange bevor er seine oft tödliche Wirkung entfalten kann.

Brustkrebs ist noch immer die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Ab dem 50. Lebensjahr werden Frauen in Deutschland zur Vorsorge automatisch ins staatliche Mammografieprogramm aufgenommen. Bei einer normalen Vorsorgeuntersuchung tasten die Ärzte auch die Brust ab, allerdings aufgrund wirtschaftlicher Zwänge meist im Eiltempo. Im Schnitt dauert das zwischen drei und fünf Minuten, sagt Hoffmann. Eine MTU nimmt sich 45 Minuten Zeit.

MTU spüren auch kleinere Tumore auf

Ein normaler Gynäkologe könne zudem nur Knoten von ein bis zwei Zentimetern Größe erkennen. MTUs aber würden schon Tumorgrößen von sechs bis acht Millimeteraufspüren. „Das ist eine unschlagbare Tastexpertise“, sagt Hoffmann. Die MTUs sollen die Arbeit des Arztes ergänzen. Sein Projekt überzeugte auch das NRW-Gesundheitsministerium, das die Schirmherrschaft übernommen hat.

Brustkrebs in Zahlen

Rund 70.000 Frauen erhalten laut Statistik der Deutschen Krebsgesellschaft jährlich die Diagnose „Mammakarzinom“. Bei mehr als 17.000 davon verläuft die Krankheit tödlich. Gut 16.000 Frauen aus NRW erkranken laut Landeskrebsregister jährlich an Brustkrebs.

Für Patientinnen ab 30 Jahren übernehmen die gesetzlichen Kassen die jährliche Früherkennungsuntersuchung. Zwischen 50 und 69 können sie alle zwei Jahre am Mammografie-Screening teilnehmen. Die Kosten in Höhe von knapp 50 Euro für die MTU-Untersuchung übernehmen mittlerweile viele gesetzliche Krankenkassen. (cle)

Der Job als MTU hat das Leben von Andrea Lüling grundlegend geändert. Aus Handicap wurde Talent. „Früher hatte ich einen Job, heute habe ich einen Beruf“, sagt sie. Seit sie in Teilzeit Frauen untersucht, ist sie glücklich. Hinter ihr liegt eine lange Leidenszeit, denn früher war Lülings Erblindung eine Behinderung, die sie an den Rand der Gesellschaft gedrückt hat.

Ihre Ausbildung zur Bürokauffrau machte sie in den Kölner Schwerbehindertenstätten. Sie fing bei der Telekom an, wechselte dann ins Jobcenter nach Essen. Ihre Sehkraft ließ weiter nach, das tägliche Arbeitspensum nahm zu. Sie spürte, wie sie allmählich zur Belastung wurde. „Jetzt müssen wir auch noch für die Blinde mitarbeiten“, hätten die Kollegen getuschelt. 

„Der Druck war zu groß, da macht die Psyche irgendwann nicht mehr mit“, erinnert sich Lüling. Mit 50 Jahren musste sie in Frührente. Sie ging zum Arbeitsamt nach Ratingen, wohin die Liebe sie getragen hatte, und dort erzählte man ihr von der Ausbildung zur MTU. Das veränderte die Perspektive aufs Leben: „Früher musste mir geholfen werden, heute kann ich helfen.“

Kaum Unterschiede zwischen MTU und Arzt

Die Uni Erlangen-Nürnberg hat die Arbeit der MTU wissenschaftlich untersucht. In einer vergleichenden Studie mussten drei MTU und sieben auf Brustkrebs spezialisierte Fachärzte 400 Frauen auf Auffälligkeiten in der Brust abtasten. Statistisch habe man zwischen Arzt und MTU kaum Unterschiede feststellen können, sagt Michael Patrick Lux, der die Studie geleitet hat. „In der Kombination aber konnten wir eine Steigerung der Befunde bemerken.“ Um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, sollten MTU und Ärzte also zusammenarbeiten.

„Ziel sollte eine Unterstützung des Arztes sein, kein Ersatz“, sagt Lux. Für die Krebs-Nachsorge hält er die MTU für weniger geeignet. Narben könnten MTU kaum von neuen Knoten unterscheiden. Aber auch psychologisch habe die Methode einen positiven Effekt: „Wir haben festgestellt, dass sich die untersuchten Frauen mehr Gedanken über ihren Lebensstil und ihre Ernährung machen und sich überhaupt mit dem Brustkrebsrisiko beschäftigen.“

Viele Gynäkologen kritisch bei Tastexpertinnen

Trotzdem fremdeln viele Gynäkologen mit dem Einsatz der Tastexpertinnen. Das sei ein berufspolitisches Thema, sagt Lux. „Klinische Untersuchungen sind originär eine ärztliche Aufgabe. Das abzugeben, ist immer schwierig.“ In NRW sind derzeit zehn MTU im Einsatz. In Köln ist Andrea Lüling die einzige. Gynäkologin Julia Smidt ist überzeugt von dem Angebot. Schon seit Herbst 2017 beschäftigt die Ärztin in ihrer Praxis am Neumarkt eine MTU, einmal die Woche, immer mittwochs.

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Die Nachfrage sei merklich gestiegen, sagt sie, wer einen Termin haben wolle, müsse mehr als einen Monat warten. „Die Frauen schätzen es, dass man sich so viel Zeit für sie nimmt“, sagt Julia Smidt. „Wir Ärztinnen können das in dem Umfang nicht leisten.“ Wenn Lüling etwas Verdächtiges findet, kommt Smidt dazu und überprüft den Befund mit dem Ultraschall. „Entscheidend ist, dass selbstverständlich nur die Ärztin eine Diagnose stellt“, sagt Smidt. Rein wirtschaftlich sei der MTU-Einsatz ein Nullsummenspiel. „Wenn ich Botox spritzen würde, hätte ich sicher mehr davon.“

Frank Hoffmann will das Projekt der Discovering Hands ausbauen. Auch Männer sollen vom Tasttalent blinder Menschen profitieren. Geplant ist das Erspüren von krankhaften Veränderungen bei Schild- und Lymphdrüsen, Prostata und Hoden. Mit mobilen MTU-Teams will er ländliche Regionen erschließen, in Kolumbien, Indien und Mexiko Pilotprojekte starten. „Dort gibt es kaum Vorsorgeprogramme“, sagt er. „Bis die Tumore entdeckt werden, sind sie oft schon fünf Zentimeter groß.“ Dann sei es oft schon zu spät.

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