Interview mit Wolfgang Schäuble„Millionen drohen zu verhungern“

Lesezeit 9 Minuten
Neuer Inhalt

Wolfgang Schäuble muss immer wieder AfD-Zwischenrufer im Parlament abwehren.

  • Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) ist in der Weihnachtswoche telefonisch zu erreichen. Er ist schon zu Hause in Offenburg, wo er mit der Familie Weihnachten feiern wird.
  • Im Interview spricht er über die Gefahren für die Demokratie in Pandemie-Zeiten auf der ganzen Welt.
  • Und er verrät sein Rezept, um sich bei turbulenten Bundestagssitzungen nicht zu sehr aufzuregen.

Herr Schäuble, freuen Sie sich auf ein paar Tage, in denen Sie keine Ermahnungen, Ordnungsrufe und Belehrungen über das Grundgesetz nach rechts verteilen müssen? Ich freue mich auf die Weihnachtstage. Ich werde zwei meiner Enkelkinder sehen. Das freut mich ganz besonders. Wir werden Weihnachten wegen Corona in sehr kleinem Kreis halten. Ein ruhiges Weihnachten kann dafür umso intensiver sein. Den Betrieb im Plenum vermisse ich für ein paar Tage jedenfalls nicht.

Wenn man den Bundestagspräsidenten unterbricht, kann das mit einem Ordnungsgeld geahndet werden. Darf man den Privatmensch Schäuble unterbrechen – am Familientisch?

(Lacht) Ein Ordnungsgeld ist bis heute im Plenum ein einziges Mal verhängt worden. Von mir. Am Familientisch ist das etwas völlig anderes. Da bin ich nicht der Präsident. Da bin ich der Großvater, auf den man ein bisschen Rücksicht nehmen muss, weil er nicht mehr der Jüngste ist.

Wenn die AfD im Bundestag die Spielregeln sprengt, was geht dann in Ihnen vor: Sind Sie unter Druck, genervt, verärgert oder konzentriert auf Ihre Gegenrede?

Wenn ich eine Bundestagssitzung leite, bin ich vor allem konzentriert. Vorher versuche ich, in einen Zustand großer Ruhe und Entspannung zu kommen, damit ich mich nicht zu sehr aufrege. Man kann viele Situationen dadurch entschärfen, indem man ruhig reagiert. Je nach dem, was vorfällt, muss man mit einer gewissen Strenge und klarer Konsequenz reagieren. Klar muss auch sein, dass die Regeln für alle gelten, ob links oder rechts, Mitte, oben oder unten. Da bin ich mir mit den Vizepräsidenten einig. Das ist uns bisher gut gelungen, so dass niemand behaupten kann, wir würden die Regeln einseitig anwenden.

Im Corona-Jahr ist der Bundestag auch von außen unter Druck geraten. Bei einer Kundgebung Ende August vor dem Reichstagsgebäude sind Demonstranten bis zur Eingangstür gekommen. Am 18. November haben sich Protestler über Besucherausweise Zutritt verschafft. Sind diese Vorfälle ein Symbol dafür, dass in der Corona-Pandemie die Demokratie unter Druck geraten ist?

Die Demokratie ist vielfältig unter Druck. Der größte Druck entsteht durch die Globalisierung. Viele Dinge können wir national nicht mehr entscheiden oder beeinflussen. Darunter leiden alle westlichen Demokratien. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Demokratie.

In diesem Jahr standen die Angriffe von Querdenkern und Demonstranten gegen Corona-Maßnahmen als Herausforderung für die Demokratie im Fokus.

Da darf man nicht zu einseitig draufschauen. Es gab in diesem Jahr auch die Situation, dass sich Greenpeace-Aktivsten vom Dach des Reichstags abgeseilt haben. Schon lange vor den Corona-Protesten gab es Vorfälle, bei denen Flugblätter von der Tribüne des Plenarsaals geworfen oder dass Transparente ausgerollt wurden. Solche Aktionen kommen nicht nur von der politischen Rechten. Sie gehen auch von links und von Umweltaktivisten aus. Das eine ist so wenig zu akzeptieren wie das andere.

Wenn ich Sie kurz unterbrechen darf . . .

Sie kriegen auch kein Ordnungsgeld (lacht).

Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Am 18. November gab es den besonderen Fall, dass sich Abgeordnete mit Protestlern verbündet und diesen Zutritt zum Reichstagsgebäude verschafft haben. Die Protestler haben dann andere Abgeordnete bedrängt – unter anderem Wirtschaftsminister Altmaier. Ist das nicht eine neue Qualität der Verachtung des Parlaments?

Nein. Es passiert Abgeordneten immer wieder, dass sie von Menschen auf eine Art angesprochen werden, wie sie es nicht möchten, auch wenn das im Bundestag sicher seltener passiert als auf der Straße. Zu den Vorfällen vom 18. November laufen die Verfahren, um mögliche Rechtsverstöße zu ahnden. Abgeordnete haben nach den bisherigen Erkenntnissen nur dadurch mitgewirkt, dass sie eingeladene Gäste im Reichstag nicht begleitet haben. Man darf aus der Aufregung des Augenblicks nicht überzogen reagieren. Nur so kann man mit allen Formen der Provokation fertig werden.

Das könnte Sie auch interessieren:

Sie haben damals im Nachgang gesagt, dass die Demokratie Protest aushalten müsse und dass es schon immer Spinner gegeben habe. Viele Bürgerinnen und Bürger sind über diese Art des aggressiven Protests sehr wohl erschrocken. Wann sind die Grenzen erreicht?

Die Demokratie war zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Diejenigen, die auf die Reichstagstreppen vorgedrungen sind, haben dort Selfies gemacht. Richtige Revolutionäre machen nicht in erster Linie Selfies. Es ist inzwischen auch mit dem Land Berlin und der Bundespolizei geklärt, dass genügend Kräfte vor Ort sind, um das Reichstagsgebäude zu schützen. Bei den Protesten im November ist das auch gelungen.

2020 war das Jahr der Exekutive – immer wieder haben Kanzlerin Merkel und die Regierungschefs der Länder den Alltag in Deutschland bestimmt. War der Einfluss des Parlaments zu gering?

In einer Notsituation muss gehandelt werden und das macht die Exekutive. Der Bundestag ist jederzeit seiner Aufgabe gerecht geworden. Er hat die pandemische Lage festgestellt und die Beschlüsse des Bundes diskutiert und kontrolliert. Im November hat der Bundestag mit dem Infektionsschutzgesetz beschlossen, den Spielraum für die Exekutive enger zu fassen. Im Übrigen hat der Bundestag als erstes Parlament in Europa während der Pandemie wieder in Sitzungen mit Präsenz getagt. Darauf habe ich gedrängt. Wir können Entscheidungen des Bundestags nicht per Videokonferenz treffen, das erlaubt das Grundgesetz nicht. Deshalb haben wir uns früh mit Abstand, Beachtung der Hygienevorschriften und Mund-Nase-Bedeckung wieder getroffen. Der Bundestag geht aus diesem Jahr gestärkt hervor.

Wenn Sie aus der Vogelperspektive auf das Jahr 2020 schauen: Wie hat sich die Gesellschaft durch die Pandemie verändert?

Dieses Jahr hat gelehrt, dass das Leben nicht immer auf dem Niveau von Sicherheit und Wohlstand weitergeht, wie wir es gewohnt sind. Niemand konnte sich vorstellen, was eine Pandemie bedeutet – auch wenn es Szenarien gab, die solche Abläufe erstaunlich genau beschrieben haben. Gerade haben wir von der Virus-Mutation aus Großbritannien erfahren. Durch solche Entwicklungen wächst natürlich die Unsicherheit, wie schnell wir auch mit einem Impfstoff wieder in die Normalität kommen und wann es wirklich Licht am Ende des Tunnels gibt.

Und die Lehre ist?

Wir müssen scheinbar entfernte Gefahren und Missstände ernster nehmen. Wir haben uns zu lange dagegen gewehrt, uns den Klimawandel bewusst zu machen. Wir haben unterschätzt, was es bedeutet, dass auf dieser Welt fast acht Milliarden Menschen leben. Viele davon leben unter viel schlechteren Umständen als wir in Europa. Millionen drohen zu verhungern. Solche elenden Verhältnisse führen zu Krieg, Terror, Gewaltherrschaft und Fluchtbewegungen. Wir haben zu lange angenommen, das werde uns nicht betreffen. Nun müssen wir feststellen, dass wir sehr wohl davon betroffen sind. Wir müssen im eigenen Interesse mehr Verantwortung für die Welt und für die ärmeren Teile der Welt übernehmen. Wir müssen unserem Nachbarkontinent Afrika mehr helfen, sonst werden wir auch keine gute Zukunft haben.

Sie haben die Ära Kohl begleitet und zu Ende gehen sehen. Im kommenden Jahr wird die Ära Merkel zu Ende gehen. Zweimal 16 Jahre. Sehen Sie Parallelen?

Diese zweimal 16 Jahre waren völlig unterschiedlich. In Kohls Ära lag die Wiedervereinigung. Das war einmalig. Am Ende gibt es noch einen wichtigen Unterschied: Meine Frau hat immer vorhergesagt, Merkel werde eines Tages freiwillig aufgrund eigener Entscheidung aufhören und das Kanzleramt aufgeben. Ich habe das immer bezweifelt. Und am Ende . . .

. . . hat Ihre Frau Recht behalten.

Es sieht danach aus. Das ist auch ein großer Unterschied – um gleich Ihre nächste Frage zu beantworten - für die Partei. Als die Ära Kohl zu Ende war, fand sich die CDU in der Opposition wieder.

Welchen der drei zur Wahl stehenden Kandidaten muss die CDU denn nach vorne stellen, damit sie dieses Mal nach 16 Jahren im Kanzleramt nicht in der Opposition landet?

Das ist eine intelligente Form, eine Frage zu stellen, auf die ich vor dem Parteitag keine Antwort geben werde. Die CDU wird am 16. Januar bei einem digitalen Parteitag einen neuen Vorsitzenden wählen, der im Anschluss durch eine Briefwahl formal bestätigt wird. Die beiden Vorsitzenden von CDU und CSU werden sich dann darüber verständigen, zu welchem Zeitpunkt die Union entscheidet, mit welchem Kanzlerkandidaten oder welcher Kanzlerkandidatin sie bei der Bundestagswahl antreten wird.

Was raten Sie?

Mein Rat ist seit langem, die Entscheidung spät zu treffen. Ich sehe mit Freude, dass nicht nur der CSU-Vorsitzende Söder diese Position vertritt, sondern inzwischen auch der Vorsitzende des größten CDU-Landesverbandes, Armin Laschet. Neben der in der Corona-Krise besonders hoch angesehenen und damit starken, die Öffentlichkeit auf sich ziehenden Bundeskanzlerin Angela Merkel ist der Raum für einen Kanzlerkandidaten der Union ein begrenzter. Der Zeitraum, in dem die beiden – der Kanzlerkandidat und die Kanzlerin – nebeneinanderstehen, sollte nicht allzu lang sein.

Vor zwei Jahren hatten Sie sich für Friedrich Merz ausgesprochen. Hat er immer noch Ihre Unterstützung?

Friedrich Merz ist mein Freund. 2018 hatte ich mich für Friedrich Merz in der Woche vor dem Wahlparteitag ausgesprochen, nachdem viele andere CDU-Politiker ihre Meinung gesagt hatten.

Noch eine Frage zur Feststellung, dass eine Frau eher den freiwilligen Ausstieg aus einem wichtigen Amt schafft als ein Mann. Was treibt Sie an, noch einmal für den Bundestag zu kandidieren?

(Lacht) Ernsthaft: Es war eine schwierige Entscheidung. Das war es schon 2017. Damals wollte ich eigentlich aufhören, bin aber von führenden Parteimitgliedern gedrängt worden, dies nicht zu tun, weil ich als Finanzminister bei vielen Wählern ein hohes Vertrauen hatte. Dieses Mal sind vor allem jüngere Parteimitglieder auf mich zugekommen, die mich gebeten haben, in der bevorstehenden Zeit des Übergangs meine Erfahrungen als ehemaliger Fraktionschef, als ehemaliger Bundesminister und als Bundestagspräsident weiter einzubringen. Mir macht es immer noch Freude und ich habe auch die Kraft. Deshalb bin ich bereit, noch einmal zu kandidieren.

Sind Sie auch bereit, noch einmal die aktuelle Funktion als Bundestagspräsident auszufüllen?

Ich bin jedenfalls nicht bereit, diese Frage jetzt zu beantworten.

Ein Thema ist im Bundestag liegengeblieben. Es gibt noch kein neues Gesetz, das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Sterbehilfe neu regelt. Sollte es in dieser Wahlperiode noch einen neuen Anlauf geben?

Ich bin zuversichtlich, dass es in dieser Wahlperiode noch eine fraktionsübergreifende gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe geben wird, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit Augenmaß umsetzt. Ich gehöre zu denjenigen, die über das Urteil nicht glücklich sind. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Gesetz des Bundestags verworfen, das nach einer außergewöhnlich langen, nicht durch Fraktionszugehörigkeit geprägten Auseinandersetzung mit dem Thema beschlossen wurde. Dieses Gesetz ist von den Verfassungsrichtern überraschend auf der Grundlage einer Interpretation des Grundgesetzes verworfen worden, die man so vornehmen kann, aber nicht so vornehmen muss. Nun ist der Gesetzgeber gehalten, eine Lösung zu finden, worum sich Abgeordnete aus verschiedenen Fraktionen bemühen.

Das Gespräch führte Eva Quadbeck

KStA abonnieren