Nach Spiegel-RücktrittWarum Angela Merkel ein Beispiel für Work-Life-Balance ist

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Grünen-Politikerin Anne Spiegel war nach Kritik an ihrem Umgang mit der Flutkatastrophe als Familienministerin zurückgetreten.

Berlin – Können Spitzenpolitiker überhaupt eine Work-Life-Balance haben? Thomas Bachmann ist Coach für Führungskräfte und ist sich sicher, dass das funktionieren kann. Im RND-Interview erklärt er, worauf es dabei ankommt und warum Angela Merkel dabei ein Vorbild ist.

Der Rücktritt von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) hat auch ein Licht auf das Privatleben von Politikern geworfen. Die Familie habe eine Auszeit gebraucht, da Mann und Kinder sich in einer Krise befunden hätten, erklärte Spiegel auf der denkwürdigen Pressekonferenz kurz vor ihrem Rücktritt.

Das warf die Frage auf, ob sie in ihrer familiären Situation ein Ministeramt antreten konnte: Spitzenpolitik und Privatleben – geht das überhaupt?

Alles zum Thema Angela Merkel

Thomas Bachmann ist Diplom-Psychologe und arbeitet als Coach am Artop-Institut der Humboldt-Universität Berlin. Er berät Führungskräfte und Personen im Managementbereich. Bachmann hält eine Work-Life-Balance auch bei Spitzenpolitikern für möglich – das sei aber abhängig von der Persönlichkeitsstruktur.

Herr Bachmann, die zurückgetretene Familienministerin Anne Spiegel hat vier jüngere Kinder und einen Mann, der von seinem Schlaganfall gezeichnet war, als sie das Amt der Familienministerin annimmt. Hat sie sich zu viel vorgenommen?

Thomas Bachmann: Ich kenne Anne Spiegel nicht persönlich und kann das deshalb nicht abschließend beurteilen. Ich hatte mich gewundert, dass sie sich zur Bundesministerin nominieren ließ. Auf Ministern lastet ein unglaublicher gesellschaftlicher Druck, dem manche nicht standhalten können.

Was brauchen Menschen, um einen so stressigen und häufig schlaflosen Job auszuhalten?

Die Persönlichkeit spielt eine große Rolle. Man muss sich selbst von seiner Arbeit abgrenzen können. Sowohl zeitlich als auch persönlich.

Ein Ministeramt ist mehr als ein Vollzeitjob, wie grenzt man sich davon ab?

Vielleicht plant man für eine Zeit lang weniger Termine ein, sagt auch mal Nein zu einer Aufgabe, wenn man das braucht. Das hat Anne Spiegel streng genommen mit ihrem Urlaub auch getan. Aus der persönlichen Perspektive ist es sehr wichtig, seinen Selbstwert nicht an das Ministeramt zu knüpfen. Angela Merkel beispielsweise hat man diese Abgrenzung förmlich angesehen. Sie ist nicht narzisstisch und damit weniger kränkbar und durch Aufgaben weniger verführbar. Dem liegt oft ein stabiler Selbstwert zugrunde. Als Bundeskanzlerin hat Merkel weiterhin in ihrer eigenen Wohnung gewohnt und ist mit dem VW Golf in den Garten gefahren. Wenn man so einen guten Rhythmus hat, braucht man auch gar nicht so viel Urlaub, um seinen erschöpfenden Job zu überleben.

Angela Merkel hat keine Kinder. Mit einer großen Familie scheint ein Führungsamt jedoch kaum vereinbar zu sein. Wie beraten Sie als Coach, wenn Ihr Klient mit dem Gedanken spielt, ein solches Amt anzunehmen?

Ich würde zunächst herausarbeiten, mit welcher Motivation meine Klienten die Arbeit angehen. Die ist nämlich häufig sehr individuell. Kann der Klient einfach nicht „Nein“ zu Angeboten sagen? Sucht er oder sie nach Anerkennung? Gibt es auch Anerkennung für das Erschöpft-Sein? Wenn der Klient oder die Klientin den Job annimmt oder bereits angenommen hat, würde ich nach den Schrauben suchen, an denen man für einen guten Rhythmus drehen muss. Das sind zum Beispiel eine Kalenderstruktur, Kinderbetreuung, Handynutzung und Zeit für sich selbst oder mit dem Partner oder Partnerin.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ohne gute Planung ist ein Job an der Belastungsgrenze also kaum möglich. Könnte man nicht auch die Belastung verringern und die Arbeitgeber in die Pflicht nehmen, sich stärker um Kinderbetreuung und verträglichere Arbeitszeiten zu kümmern?

Es liegt eher nicht an den Angeboten, die gibt es nämlich meistens schon. Vielmehr spielt der soziale Druck eine Rolle, der einen Mann beispielsweise daran zweifeln lässt, ob er es sich leisten kann, in Elternzeit zu gehen. Ich habe dennoch den Eindruck, dass mittlerweile eine hohe Sensibilität für solche Themen besteht. Vielleicht stehen Länder wie Finnland noch etwas besser da, aber auch in Deutschland sind wir schon extrem weit gekommen. Unser Arbeitsmarkt erlaubt es, dass sich Arbeitnehmer immer mehr nehmen können, was sie brauchen und zum Beispiel flexiblere Arbeitszeiten einfordern.

KStA abonnieren