Vor Gericht gezerrt und angeklagtWie Kritiker mundtot gemacht werden

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Justitia am Gericht

Justitia an einem Gerichtsgebäude (Symbolbild)

Berlin – Als der erste Brief der Staatsanwaltschaft kam, saß Karl Bär gerade im Gartenhäuschen seiner Tante. „Da war mir gar nicht klar, was der Brief bedeutet“, erinnert sich der Umweltaktivist. An diesem Sommertag im August 2019 ahnte der damals 34-Jährige auch noch nicht, dass dieser Brief erst der Anfang war – und bald 1376 Klagen von Südtiroler Bauern auf ihn zukommen würden, die sein Leben komplett verändern sollten.

Der Anlass dafür war die aufsehenerregende„Pestizidtirol“-Kampagne, gehalten im Stil der Südtiroler Tourismuswerbung. Auf einem Plakat mit dem Schriftzug „Südtirol sucht saubere Luft“ war eine Pestizidwolke inmitten einer Apfelplantage zu sehen. Karl Bär hatte als Mitarbeiter des Umweltinstituts München die Kampagne vor vier Jahren mitorganisiert.

„Wenn es richtig blöd läuft, ist meine ganze Familie finanziell ruiniert.“

„Die Südtirol-Kampagne 2017 sollte provozieren“, sagt Bär heute im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Anzeige des Landesrats aus Südtirol, die ihn dann traf, habe er immer für Wahlkampf gehalten. Doch dieser Anzeige wegen übler Nachrede schlossen sich dann jene 1376 Landwirte an – und nun drohten Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe, erklärte ihm sein Anwalt Nicola Canestrini.

„Das war ein Schock“, erinnert sich Bär. „Wenn es richtig blöd läuft, ist meine ganze Familie finanziell ruiniert.“ Ein Fall mit so vielen Klagen sei einzigartig, meint auch Anwalt Canestrini: „Mein Vater hat in Sizilien große Fälle mit zahlreichen Mafiaopfern betreut, aber der Fall von Karl Bär ist noch größer.“

Pestizideinsatz

Umstritten: Ein Landwirt spitzt sein Feld mit einem Pestizid.

Dabei gilt der Landesrat Arnold Schuler als einer der liberaleren Politiker innerhalb der konservativen Südtiroler Volkspartei, sein Sohn hat selbst vor einigen Jahren den eigenen Hof auf Biolandwirtschaft umgestellt. „Ich vermute, dass Landesrat Schuler mit der Klage unter Beweis stellen wollte, dass er die Südtiroler Bauern vor den Ökos aus dem Ausland verteidigen kann“, glaubt Umweltaktivist Bär. Möglicherweise habe es auch Druck von den einflussreichen Bauerngenossenschaften in Südtirol gegeben.

75 Prozent mehr Klagen

Die Anzeigen gegen Bär sind in der Region indes kein Einzelfall. In Südtirol stand bereits ein Kommunalpolitiker vor Gericht, der sich kritisch über Pestizide geäußert hatte. Ein Imker, der öffentlich über Schäden an Bienen gesprochen hat, bekam Post von Anwälten. „Die Obstbauern wollen klarmachen, dass jede Kritik unerwünscht ist“, so Bärs Eindruck.

Dass Umweltschützer, Menschenrechtler oder Journalisten wegen ihrer öffentlichen Kritik angezeigt und verklagt werden, lässt sich auch außerhalb Südtirols immer häufiger beobachten. Zwischen 2018 und 2019 hat die Zahl solcher Klagen laut einer Untersuchung von Greenpeace International um 75 Prozent zugenommen.

Juristen bezeichnen diese Einschüchterungsklagen als „Slapp“. Die Abkürzung steht für „Strategic Lawsuits Against Public Participation“ – strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung. Ihr Ziel ist es nicht, vor Gericht Recht zu bekommen. Vielmehr sollen horrende Anwaltskosten, lange Gerichtsprozesse und hohe Schadensersatzforderungen jede weitere kritische Äußerung über Missstände unterbinden und andere Kritiker abschrecken.

Slapp-Verfahren als Mittel zur Einschüchterung

Der Fall Bär gilt als eines der größten Slapp-Verfahren weltweit. „Hier werden engagierte Menschen, die den Status quo zu Recht kritisieren, eingeschüchtert, psychisch belastet und finanziell unter Druck gesetzt“, kritisiert die Grünen-EU-Abgeordnete Sarah Wiener.

In ganz Europa gibt es prominente Slapp-Fälle, wie den der französischen Umweltschützerin Valérie Murat. Nachdem sie Pestizidrückstände in Bordeaux-Wein öffentlich machte, wurde sie im Februar zu Schadensersatzzahlungen von über 125 000 Euro verurteilt. In Deutschland war Georg Friedrich Prinz von Preußen juristisch in mindestens 120 Fällen gegen die Gewerkschaft Verdi, Wissenschaftler und Medien vorgegangen, um bestimmte öffentliche Äußerungen über die Hohenzollern zu verhindern. In Hamburg steht die Organisation „Rettet den Regenwald“ vor Gericht, nachdem sie Kritik an der Vernichtung von Regenwald in Indonesien geübt hatte.

Für die europäische Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatovic sind Slapps „eines der gefährlichsten Instrumente zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung“. Ihrer Einschätzung nach stellen diese Klagen daher eine ernsthafte Bedrohung der Meinungsfreiheit in Europa sowie des Rechts auf freien Zugang zu Informationen dar. „Die einfache Androhung einer solchen Klage, auch durch Briefe mächtiger Anwaltskanzleien, reicht oft schon aus, dass die öffentliche Kritik verstummt.“ Sie beobachtet eine deutliche Zunahme dieser Klagen in ganz Europa.

EU hat Brisanz erkannt

Anders als in den USA, Kanada und Australien gibt es bisher in keinem EU-Land ein Gesetz gegen Slapps. Doch auf europäischer Ebene hat man die Brisanz dieser Fälle inzwischen erkannt. Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im Rechtsausschuss des EU-Parlaments, Tiemo Wölken (SPD), fordert in einem Anti-Slapp-Bericht von der EU-Kommission einen Rechtsakt gegen missbräuchliche Klagen. „Was mich am meisten erschüttert, ist die psychische Belastung für die Opfer von Slapps“, sagt Wölken. Sich kritisch äußern zu dürfen sei jedoch für eine Demokratie essenziell, meint Anwalt Canestrini und warnt: „Wenn die freie Meinung eingeschränkt wird, rutschen wir von einem Rechtsstaat in die Diktatur“.

Der Anti-Slapp-Initiativbericht soll am Donnerstag im Rechtsausschuss beschlossen werden. Zu klären ist vor allem die Frage, wann genau ein Missbrauch der Justiz vorliegt – denn der freie Zugang zu Gerichten ist verfassungsrechtlich genauso geschützt wie die Meinungsfreiheit. Die EU-Kommission will noch in diesem Jahr Vorschläge einbringen, wie ein Missbrauch des Rechtssystems verhindert werden soll.

Anti-Slapp-Gesetz auf europäischer Ebene schwer umzusetzen

Doch die EU droht an ihre Grenzen zu stoßen: Sie kann auf europäischer Ebene keine Vorschriften für rein nationale Gerichtsprozesse erlassen. Fragwürdige Klagen könnte ein europäisches Anti-Slapp-Gesetz somit nur verhindern, wenn ein Fall mehrere EU-Mitgliedsländer betrifft. Verklagt zum Beispiel ein regionaler Bauernverband eine ortsansässige Umweltschützerin, würde das EU-Recht nicht angewendet werden.

Mijatovic fordert daher die EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, selbst Gesetze zur Unterbindung nationaler Slapp-Klagen zu erlassen. Dazu seien sie sogar verpflichtet, denn: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe deutlich gemacht, dass hohe Schadensersatzansprüche bei Verleumdungsklagen eine abschreckende Auswirkung auf die freie Meinungsäußerung haben können, argumentiert Mijatovic.

Bärs Beharrlichkeit wirkt

Dabei hätten gerade die lokalen Klagen gravierende Folgen für die Opfer, beklagt auch Bär: „Sie werden als Nestbeschmutzer beschimpft und können sich in ihrem Heimatort nicht mehr sicher fühlen.“ Er selbst bekommt viel Unterstützung. Doch obwohl der 36-Jährige als Umweltaktivist häufig in der Öffentlichkeit steht, lassen auch ihn die Termine vor Gericht nicht kalt. „Ich habe immer wieder Momente voller Wut und Sorge“, sagt Bär. Aber er ist fest davon überzeugt, dass er freigesprochen wird. „Wenn unsere Plakataktion illegal wäre, dann wären auch jede „heute-show„-Sendung und jedes “Greenpeace-Magazin„ illegal.“

Bärs Beharrlichkeit hat inzwischen Wirkung gezeigt: Von den 1376 Apfelbauern haben fast alle ihre Anzeige zurückgezogen. Doch weil zwei Brüder an ihrer Klage festhalten, muss sich der Umweltaktivist Ende Oktober erneut vor Gericht verantworten. Gesprochen hat er mit den beiden Klägern nie, Verständnis für ihre Klage hat er auch nicht. „Die Strafanzeige gegen den politischen Gegner ist eine Grenzüberschreitung“, meint Bär, und sei durch nichts zu rechtfertigen. Die beiden Brüder äußern sich auf RND-Anfrage hin nicht.

Anzeigen könnten unangenehme Folgen für Landwirte haben

Bär möchte jetzt so viel Wirbel wie möglich um die Slapp-Klage machen, damit anderen der Ärger erspart bleibe. Sein Anwalt erklärt: „Wir haben circa 60 Umweltexperten aus der ganzen Welt als Zeugen zum Prozess geladen.“ Außerdem würden auch Touristen als Zeugen kommen, die wegen einer großen Pestizidwolke aus ihrem Hotel in Südtirol geflüchtet seien.

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Für die Südtiroler Landwirte könnten ihre Anzeigen indes noch unangenehme Folgen haben, nicht nur wegen der großen Aufmerksamkeit durch den Gerichtsprozess. Die Staatsanwaltschaft Bozen hat bei ihren Ermittlungen die Betriebshefte der Apfelbauern beschlagnahmt, in denen der Pestizideinsatz detailliert aufgelistet ist. „Wir haben jetzt einen nie dagewesenen Datenschatz, wer wann welche Pestizide spritzt“, sagt Bär und grinst. Bis zum Frühjahr dauert die Auswertung der Betriebshefte noch, dann will Bär die Daten zum Einsatz von Spritzmitteln auf Südtiroler Apfelplantagen öffentlich machen.

Der Fall Bär könnte zu einer Erfolgsgeschichte im Kampf gegen solche Klagen werden, doch das hat seinen Preis. „Wir haben kaum Zeit, auf andere Missstände aufmerksam zu machen“, sagt der Umweltschützer. Aber Bär will nicht aufhören zu kämpfen. Vor wenigen Tagen wurde er für die Grünen in den Bundestag gewählt. Sein Kampf für mehr Umweltschutz geht weiter. 

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