Beim fast vierstündigen Mittagessen ist Reiner Calmund kaum zu bremsen. „Calli“ spricht über seine Zeit als Kult-Manager bei Bayer Leverkusen, seinen Weg zum TV-Promi – und Momente, die ihn zu Tränen rührten.
Reiner Calmund„Ich habe mal die Stasi-Spitzel abgehängt“

Was soll's? Reiner Calmund posiert vor dem Trikot des Leverkusener Erzrivalen 1. FC Köln – der Lieblingsverein von Uwe Kern, der das Landhaus Thea im saarländischen Schwalbach betreibt.
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Wer sich mit Reiner Calmund trifft, sollte keine Termine mehr haben. Denn der 76-Jährige hat viel zu erzählen: über erstaunliche Transfers zu seiner Zeit als Fußballmanager, emotionale Geschichten aus seinem Privatleben. Für den Blick auf die Uhr bleibt da kaum Zeit.
Das Landhaus Thea, das Calmund ausgesucht hat, ist eine seiner beliebtesten Adressen. Es liegt 15 Kilometer entfernt von seinem Wohnort Saarlouis. Dorthin zog es den Rheinländer, der seinen unverkennbaren Dialekt nie ablegte, 2012 mit seiner Ehefrau Sylvia. Ein Jahr später adoptierten sie das thailändische Mädchen Nicha. Aus früheren Ehen hat Calmund fünf weitere Kinder und mittlerweile auch fünf Enkel.
Bevor die Speisekarte kommt, klärt „Calli“ kulinarisch über seine Wahlheimat, das Saarland, auf – er kennt sich aus, saß 18 Jahre in der Jury der TV-Show „Grill den Henssler“ (früher „Die Kocharena“), bewertete über 1600 Teller. „Für das kleine Bundesland ist die Dichte an Restaurants mit Michelin-Sternen hoch. Dominik Holzer etwa hat ein Lokal mit Zwei-Sterne-Koch. Der hochdekorierte Christian Bau, drei Sterne, zaubert im Hotel von Hartmut Ostermann.“
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Das Gespräch beginnt draußen: Auf der Terrasse des Restaurants spricht Reiner „Calli“ Calmund (rechts) mit RND-Reporter Roman Gerth vor dem Essen bereits ausführlich über seine Managerkarriere.
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Zwei Namen, die wie Calmund selbst für Fußball und Essen stehen: Holzer ist Präsident und mit seinem Pharmakonzern wichtigster Geldgeber der SV Elversberg, jüngst knapp am Aufstieg in die Bundesliga gescheitert. Hotelunternehmer Ostermann fungiert als Boss und Gönner des Drittligisten 1. FC Saarbrücken.
Über das Lokal in Schwalbach, das Heike und Uwe Kern betreiben, sagt Calmund: „Es hat keinen Stern, schmeckt aber so.“
Lange geht dabei kein Blick in die Karte, weil der „Rentner mit den 13 Jobs“, wie ihn die „Welt“ einst bezeichnete, über seine Managerkarriere zu reden begonnen hat; ein Auge auf den Notizen auf seinem Tablet, das andere auf Wespen, die um ihn herumschwirren.
Sie gingen 1976 als Funktionär zu Bayer 04 Leverkusen. Wie kam das?
Ich habe ein Spiel bei den Herren von Frechen 20 gemacht, eigentlich noch als Jugendspieler – und war stolz wie Bolle. Meine Freundin und ihr Vater schauten zu, für mich war es wie ein WM-Eröffnungsspiel. Wenige Monate danach erlitt ich einen Knochenabriss am Sprunggelenk. Ich wurde C-Jugend-Trainer bei Franken Lövenich, wo mein Schwiegervater Präsident war, habe direkt den Pokal geholt. Schon da machte ich „Transfers“: Vom Nachbarverein holte ich den besten Mittelstürmer, es war der Sohn vom Metzgermeister. Später ging ich als Co-Trainer zum SC in meine Geburtsstadt Brühl.
Mit zweiten Plätzen kannten Sie sich als Manager aus, 2002 in der Bundesliga, im DFB-Pokal und in der Champions League gab es gleich drei; da entstand die Bezeichnung „Vizekusen“. In Brühl erlebten Sie es viel früher schon – ausgerechnet hinter Leverkusen.
Richtig, wir haben 1975 den Aufstieg in die 2. Liga verpasst. Da war ich nur Vize, zu deren Glück, beinahe hätte ich ihnen in die Suppe gespuckt. Trainer Fritz Pott fiel lange krank aus, als Assistent übernahm ich – und wurde mit nur einem Punkt weniger Zweiter. Dass ich im Profifußball gelandet bin, ist kein Zufall gewesen. Ich war auch Verbandsfunktionär, arbeitete außerdem als Sportredakteur, bevor ich mein BWL-Studium begann.
Sie arbeiteten als Journalist?
Ich habe für die „NRZ“ und die „Kölnische Rundschau“ geschrieben, war immer wieder sonntags im Einsatz. Dann kam Willibert Kremer, damals Trainer in Leverkusen, man bot mir eine Tätigkeit bei der Bayer AG an. Ich verdiente 2500 D-Mark, damals, 1976, ein Riesengehalt. Bei der Familie herrschte Festtagsstimmung. Angestellt war ich in der Abteilung für Personal, Bereich internationaler Lohnkostenvergleich. Ab mittags hatte ich frei, erhielt zusätzlich 1000 D-Mark für die Tätigkeit bei Bayer Leverkusen.
Der Ex-Manager schweift aus. Dann nerven ihn die Wespen. „Jetzt kommen die Mücken, lass‘ uns zum Essen reingehen.“
Sie gelten als Sympathieträger mit den flotten Sprüchen. Konflikte gehörten im Alltag als Manager aber dazu. Haben Sie Feinde?
Ich bin sehr froh und ein wenig stolz darauf, dass ich jedem, den ich kenne, in die Augen schauen kann. Gerade im Fußballbusiness ist das nicht einfach, da geht es manchmal hart und deftig zu. Ich hatte große Auseinandersetzungen mit Michael Meier, mit Uli Hoeneß, mit Christoph Daum, das konnte alles ausgeräumt werden. Das würde jeder, bestimmt auch der vor einem Jahr verstorbene Christoph oben im Himmel, sicher bestätigen.
Sie haben gern Spieler aus Ostdeutschland nach Leverkusen geholt, etwa 1983 die aus der DDR geflohenen Falko Götz und Dirk Schlegel.
Sie kamen rüber und sind bei Hessen Kassel gelandet, die mein Freund Jörg Berger trainierte. So kam der Kontakt. Ich habe Falko und Dirk abgeholt. Sie wurden beobachtet und verfolgt, auf dem Weg nach Leverkusen habe ich die Stasi-Spitzel abgehängt.
Sogar Bundeskanzler Helmut Kohl war mal Calmunds Widersacher. Nach dem Mauerfall baggerte Leverkusens Boss an Ulf Kirsten, Andreas Thom und Matthias Sammer, alles Topstars aus der DDR. Bei Kirsten und Thom klappte es, doch dann kam ein Veto von Kohl, der für den Pharmakonzern einen Imageschaden befürchtete, sollten gleich drei Ost-Fußballer beim Werksklub landen; so zog es Sammer zum VfB Stuttgart.
Mittlerweile sind die leeren Teller nach Vorspeise und Zwischengang abgeräumt. Vor der Hauptspeise erzählt „Calli“ von seinem ersten Coup: Tita, ein zuvor in Europa unbekannter Brasilianer.
1988 gewann Leverkusen auch dank Tita den UEFA-Cup. Wie ist Ihnen dieser Glücksgriff gelungen?
Mit Berti Vogts saß ich im Urlaub im legendären Maracanã-Stadion, da habe ich ihn bei Vasco da Gama, dem Traditionsklub aus Rio de Janeiro, mit der Nummer 10 gesehen, er war super.
Der erste Brasilianer, den sie geholt haben, ehe viele weitere dank Ihres Netzwerks folgen sollten, ist eine Zufallsentdeckung gewesen?
Ja! Für 500.000 Dollar haben wir den Wechsel klargemacht, davon wusste unser Trainer in Leverkusen, Erich Ribbeck, noch nichts. Zu Tita sagte ich, er soll schauen, ob ihm Deutschland gefällt. Da musste ich flunkern – denn Erich Ribbeck hatte ich nur jemanden zum Probetraining vorgestellt.
Und dann?
Na ja, Erich Ribbeck meinte: „Hör auf, Calli, wir spielen keinen Zirkusfußball. Es hat sich noch kein Brasilianer in der Bundesliga durchgesetzt.“ Ich werde nie vergessen, als Erich zwei Tage später an der Tür klopfte und kleinlaut meinte: „Mensch, Calli, der ist ja nicht schlecht, der ist richtig torgefährlich.“ Mein Glück, es war schon alles eingefädelt. (lacht) Als Tita Nationalspieler wurde, hat er gesagt: ‚Calli, kleines, dickes Bandido, Du zahlst zu wenig.‘ Es war ordentlich, aber nicht das, was seine Landsleute sonst in Europa kassierten. So ist er im Sommer 1988 nach einigen Monaten weiter nach Italien, wo viele Brasilianer spielten.
Sportliche Rückschläge erlebte Calmund später einige – 2002 und zuvor 2000 war der Meistertitel nah. 2004 trat er ab. Umso stolzer habe es ihn gemacht, als Bayer 04 im vergangenen Jahr erstmals die Schale gewann, „Calli“ und Familie mittendrin: „In drei Momenten sind bei mir Tränen geflossen, das war einer davon.“

Dem Rivalen nah: Reiner Calmund (links) wirft einen Blick auf das Köln-Trikot an der Wand. „Calli“ stellte dem befreundeten Restaurantbesitzer Uwe Kern etwa Torwartlegende Toni Schumacher vor, im Bilderrahmen unten links zu sehen.
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Der zweite hatte einen privaten Hintergrund: Calmunds Vater Karl starb 1954 als Fremdenlegionär im Indochina-Krieg. Reiner Calmund reiste 2008 nach Vietnam und fand das Grab auf einem kleinen Friedhof nahe Hanoi: „Dort zu stehen, hat mich emotional so angefasst, das kann sich keiner vorstellen.“
Der dritte tränenreiche Moment liegt wenige Monate zurück. „Grill den Henssler“ drehte Calmunds Abschiedsshow, die am 14. September ausgestrahlt wird. „263 Sendungen sind eine Menge Holz. Das Team dort bedeutet mir viel“, so der langjährige Juror.
Wie ist aus dem Fußballmanager eigentlich der TV-Promi Reiner Calmund geworden?
Tom Sänger, damals Unterhaltungschef von RTL, warb mich 2004 für die Sendung „Big Boss“ an. Da lagen mir zwei Angebote aus der Bundesliga vor, doch ich habe das Metier gewechselt.
Warum?
Die große Verantwortung, einen Klub zu führen, kann belastend sein. Ich habe mich dagegen entschieden, zumal der Verdienst im TV um einiges höher war. Es folgten Werbeverträge, Auftritte bei Günther Jauch bis zu Florian Silbereisen, schließlich „Grill den Henssler“. Ich bereue nichts.
Ist das nun ein Schlussstrich?
Ich bin weiter aktiv – als Rentner mit dann 12 Jobs. Im kommenden Jahr gehe ich mit meinem Fußball-Talk auf Live-Tour: Zwei Monate, 34 Städte, mit einem Sportmoderator und Überraschungsgästen. Im Sommer kam mein Programm „Durch dick und dünn“ auf einem Kreuzfahrtschiff wieder sehr gut an.
Gesundheitlich gab es vergangenen Dezember einen Schock bei „Grill den Henssler“, als Sie einen Schwächeanfall erlitten und danach festgestellt wurde, dass Ihre Halsschlagader gefährlich verengt war.
Ich bekam einen Stent gesetzt, hatte Glück im Unglück, und bedanke mich von ganzem Herzen bei Prof. Dr. Sinning sowie seinem Assistenten Dr. Nguyen, der – wie der Zufall so wollte – Vietnamese war.
Um sich der Namen der Ärzte zu vergewissern, ruft er seine Ehefrau Sylvia an. „Sie ist Chefin, weiß alles“, sagt er wertschätzend. Mit ihr ist Calmund seit 2003 verheiratet. In allen Belangen erhält er von ihr große Unterstützung. Dann kommt das Dessert, knapp dreieinhalb Stunden sind vergangen.
Abnehmen mit Joey Kelly im TV, Witze in Werbespots oder mit Stefan Raab: Kaum jemand ist mit seinem Gewicht so offensiv umgegangen. Wie sehr genießen Sie Essen noch?
Vor dem Einsetzen des Magen-Bypasses wog ich gut 185 Kilogramm, danach zeitweise knapp 85, nun hat sich das bei etwa 95 eingependelt. Food-Kritiker im TV zu sein, war meine Leidenschaft, die Begeisterung fürs Essen ist nach wie vor groß.
Als das Landhaus Thea schließt, plaudert Calmund noch weiter. Dann noch ein Anruf bei Ehefrau Sylvia: „Uwe legt uns eine Currywurst in den Kofferraum. Ich habe hier genug gehabt, aber da freuen wir uns morgen drauf.“
Beim Termin aß Calmund vorweg Carpaccio, der RND-Reporter nahm Pfifferlingsuppe. Als Zwischengang teilten sich beide gebratene Black-Tiger-Garnelen. Zur Hauptspeise wählte Calmund ein Duett von Seeteufelmedaillons und Wolfsbarschfilet mit Bratkartoffeln. Der Reporter entschied sich für südamerikanisches Rumpsteak mit Pommes Dauphine. Als Nachspeise gab es zweimal Crème brûlée mit Eis und Erdbeeren. Bei 35 Grad wurden drei Liter Wasser ausgeschenkt; stilles für Calmund, Sprudelwasser für den Reporter und den Fotografen.
Gesamtkosten: 171,30 Euro – und ein üppiges Trinkgeld, das Kult-„Calli“ aus eigener Tasche hinlegte.