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Junge PflegendeUnsichtbare Heldinnen und Helden

5 min
Ein kleines Mädchen in grünem Kleid steht vor einer Spüle und erledigt den Abwasch

Viele Kinder und Minderjährige übernehmen viel zu früh viel zu große Verantwortung.

500.000 Minderjährige müssen sich um Pflege und Haushalt kümmern – und leben oft im Verborgenen. Eine Kölner Initiative möchte Abhilfe schaffen.

„Meine Mutter ist schon morgens ziemlich schwach. Bevor ich zur Schule gehe, helfe ich ihr beim Aufstehen, wasche sie, ziehe sie an, mache das Frühstück. Nach der Schule gehe ich einkaufen, putze die Wohnung oder begleite meine Mutter zum Arzt. Ich mache das jeden Tag, auch wenn ich lieber mit meinen Freundinnen draußen wäre, weil ich meine Mutter liebe“, berichtet die 14-jährige Klara (Name geändert), die sich seit zwei Jahren um ihre alkoholkranke Mutter kümmert.

Die Teenagerin ist in ständiger Alarmbereitschaft, um sofort auf Symptome der Krankheit, auf Stimmungsänderungen oder gesundheitliche Bedrohungen ihrer Mutter reagieren zu können. Klara möchte anonym bleiben, wie viele weitere der geschätzten 6.000 Minderjährigen, die im Großraum Köln regelmäßig einen oder mehrere kranke, pflegebedürftige oder behinderte Familienangehörige versorgen müssen.

Geopferte Kindheit, zu große Verantwortung

„Young Carer“ heißen sie in der Fachsprache, was übersetzt so viel wie „Junge Pflegende“ bedeutet. Laut der „KiFam“-Studie der Universität Witten-Herdecke übernehmen rund sechs Prozent aller Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren, also knapp 500.000 Jungen und Mädchen, und 12 Prozent aller Studierenden regelmäßig Pflegeaufgaben in ihren Familien – und opfern damit ihre Kindheit.

Diese jungen Menschen leisten Außergewöhnliches – und massiv Überlastendes: Sie versuchen, Schule und Alltag zu meistern und tragen zu große Verantwortung, haben kaum Zeit für Freunde und erst recht keine Zeit für sich selbst. Pflegende Kinder und Jugendliche laufen dabei Gefahr, sich selbst zu vernachlässigen. Sie leben häufig im Verborgenen, tragen die Verantwortung im Stillen und versuchen, die häusliche Situation zu verbergen. Aus Angst davor, dass sie selbst oder die zu pflegende Person die Familie verlassen muss. Sie fühlen sich mit ihren Problemen alleingelassen, denken, dass es niemanden gibt, dem es genauso geht.

Kölner Kontaktstelle will Abhilfe schaffen

Genau hier setzt die Kontaktstelle Pflegeselbsthilfe Köln an: Sie möchte diese jungen Menschen und deren Situation sichtbar machen, sie stärken und vernetzen. Deshalb hat sie gemeinsam mit der AOK Rheinland/Hamburg zu der Fachveranstaltung „Ich bin verborgen – nehmt mich wahr“ in das AOK-Haus am Neumarkt eingeladen. Um mit Betroffenen, Fachkräften, Expertinnen und Experten darüber zu sprechen, welche Herausforderungen junge Pflegende bewältigen müssen und welche Unterstützung sie brauchen.

Im AOK-Haus am Neumarkt hat auch Lea Dreissen von ihrem ehemaligen Alltag mit ihrem mehrfach behinderten Bruder berichtet. „Unser Zuhause war zunächst voller Leben – meine Freundinnen kamen häufig zum Spielen, während mein Bruder auf der Couch lag, gewickelt werden musste oder lautierte. Mit dem Wechsel in die Grundschule änderte sich alles“, berichtet die Referentin. Plötzlich hätten ihre Mitschüler ihr Zuhause und ihren Alltag komisch, anders und fremd empfunden. Neue Freundschaften entstanden kaum. Lea zog sich zurück, wurde still und so schüchtern, dass sie fremden Menschen kaum in die Augen schauen konnte.

Lea Dreißen

Plötzlich empfanden meine Mitschüler unser Zuhause wegen meines mehrfach behinderten Bruders komisch, anders und fremd. Neue Freundschaften entstanden kaum. Ich erfuhr Mobbing, blieb dem Unterricht fern und entwickelte psychosomatische Beschwerden
Lea Dreissen, Mitgründerin des Vereins„ In 2 Welten“

„Ich erfuhr Mobbing, blieb dem Unterricht fern und entwickelte psychosomatische Beschwerden“, sagt die heute 28-jährige Sozialarbeiterin. Um Kinder und Jugendliche in ähnlichen Situationen zu unterstützen, sie zu motivieren, sich professionelle Hilfe zu holen, und ihre Bedürfnisse in der Gesellschaft sichtbarer zu machen, hat Lea Dreissen gemeinsam mit dem Systemischen Berater Wolfgang Foltin, der auch an der „KiFam“-Studie mitgewirkt hat, den Verein „In 2 Welten“ gegründet. Seitdem bieten Dreissen und Foltin bundesweit Vorträge und professionelle Fortbildungen an für Lehrerinnen, Erzieher und Sozialarbeiterinnen – Menschen, die täglich mit pflegenden Kindern und Jugendlichen zu tun haben, oft ohne es zu wissen.

Die Fachtagung der Kölner Kontaktstelle Pflegeselbsthilfe ist für das Experten-Duo genau das richtige Forum, um möglichst viele Betroffene und Multiplikatoren zu erreichen. „Viele Kinder haben eine tiefe Angst, entdeckt zu werden. Sie fürchten, dass Jugendämter, Lehrerinnen oder Freunde ihre Situation nicht verstehen, ihre Familie in Gefahr geraten könnte. Aus Sorge, Ärger mit oder Trennung von Angehörigen zu riskieren, halten sie ihr Doppelleben geheim. Sie jonglieren zwischen Schule, sozialen Kontakten und Pflegeaufgaben – und tragen diese Last allein“, sagt Foltin und fordert: „Diese Unsichtbarkeit muss ein Ende haben.“ Deshalb setzten sich Foltin und Dreissen unter anderem auch dafür ein, dass eine Landesfachstelle für „Young Carer“ geschaffen wird.

Young Carer sichtbar machen

„Möglichst viele Menschen sollten verstehen, dass so eine Pflege für junge Menschen häufig ein Grenzgang ist. Man lebt in zwei Welten, übernimmt große Verantwortung – und ist doch noch Kind. Dieser Spagat, täglich einem immensen Stress ausgesetzt zu sein und zeitgleich die eigene Rolle zu finden, kann auf Dauer krank machen“, weiß Lea Dreissen. Viele betroffene Kinder und Jugendliche gerieten in eine Lage, die sie körperlich, psychisch oder emotional stark belastet – und das Kindeswohl gefährdet.

Wolfgang Foltin

Young Carers jonglieren zwischen Schule, sozialen Kontakten und Pflegeaufgaben – und tragen diese Last allein. Diese Unsichtbarkeit muss ein Ende haben
Wolfgang Foltin, Mit-Autor der „KiFam“-Studie und systemischer Berater

„Ich musste lernen, Selbstfürsorge zu betreiben und meine Grenzen zu wahren. Das heißt aber nicht, dass ich meinen Bruder nicht liebe. Ich habe die Rolle der Kümmernden und Pflegenden noch immer nicht verlassen – es bleibt mein Herzensthema.“ Lea Dreissen und Martin Foltin machen sich dafür stark, dass betroffene Kinder und Jugendliche durch gezielte Aufklärung, Beratung und Vernetzung genau die professionelle Hilfe erhalten, die benötigen und die langfristige psychische und soziale Schäden verhindern könnte.

Kölner Netzwerk entsteht

Dafür müsste pädagogisches Personal wie Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte durch regelmäßige Fortbildungen „Young Carer“ identifizieren und angemessen auf deren individuellen Bedürfnisse reagieren können. Schulen und Kindergärten sollten verstärkt auf deren besondere Herausforderungen achten und spezielle Hilfsangebote zur Verfügung stellen. Pflegeberatungsstellen dürften junge Pflegende nicht vernachlässigen, spezialisierte Beratungsangebote müssten breit beworben werden. Die Initiatorin der Kölner Veranstaltung Elisabeth Igelmund-Schmidt von der Kontaktstelle Pflegeselbsthilfe ist mehr als zufrieden mit der Fachtagung. „Unsere Veranstaltung war ein voller Erfolg – es hat sich inzwischen sogar ein Netzwerk gegründet, das weiter an dem Thema arbeiten wird“.