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AltersarmutWer Karin aus Köln-Niehl besucht, wagt einen Blick in die Zukunft der Rente

11 min
Das Rentensystem ist in der Krise. Karin ist Rentnerin. Sie hat 40 Jahre in der Pflege gearbeitet. Jetzt ist sie altersarm.

Das Rentensystem ist in der Krise. Karin hat mehr als 40 Jahre in der Pflege gearbeitet. Jetzt ist sie altersarm. 

Das deutsche Rentensystem befindet sich in einer Schieflage. Immer weniger Beitragszahler versorgen immer mehr Senioren. Wenn es keine Reform gibt, droht der Kollaps. Und die Zahl der Menschen in Altersarmut droht stark zu steigen.

Gute Tage berechnet Karin in Naturalien. Ein ganzer Spitzkohl für einen Euro auf dem Nippeser Wilhelmsplatz. Wenn sie was einfriert, kommt sie damit über mehrere Tage. Sechs günstige Pakete Butter von der Freundin, die mit der Kühltasche nach Holland gefahren ist. Eine geschenkte Avocado von der Nachbarin.

Karin ist 76 Jahre alt. Sie hat 49 Jahre ihres Lebens gearbeitet und Beiträge eingezahlt. Dafür gewährt ihr die deutsche Rentenkasse seit neun Jahren 940 Euro im Monat. Zieht man die Kosten für Miete und Nebenkosten ab, bleiben ihr 360 Euro. Weil das zu wenig zum Leben ist, stockt der Staat ihr Einkommen mit knapp 200 Euro Wohngeld auf. Viele Zahlen. Und immer enden sie bei der 0.

So wie Karin geht es etwa jedem fünften Rentner in Westdeutschland. Weil sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, gelten sie als armutsgefährdet. Das bedeutet umgekehrt allerdings auch: Vier anderen geht es ganz gut. So wie dem 72 Jahre alten Wilfried Preisendörfer. Er hat Bankkaufmann gelernt und auf dem zweiten Bildungsweg ein Studium erfolgreich abgeschlossen, war später Personalratsmitglied und zum Schluss rund 15 Jahre freigestellter Personalratsvorsitzender einer westdeutschen Großsparkasse. Fast 48 Jahre hat er in die Rentenkasse eingezahlt, über 20 Jahre davon Höchstbeiträge. Dafür bekommt er heute circa 2700 Euro Rente. Dazu noch eine Zusatzversicherung. Allerdings muss er auch mehr als 2000 Euro jährlich Steuervorauszahlung leisten.

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Preisendörfer kann nach Lübeck zu seinem Enkel reisen, wenn ihm danach ist. Auch gelegentliche Urlaube sind möglich. „Ich kann von meiner Rente gut leben.“ Preisendörfer repräsentiert nicht den Durchschnitt. Aber trotzdem kann man vielleicht sagen, dass es den Rentnern heute so gut geht wie noch nie. Als Bismarck die Rente einführte, erreichten die meisten Beitragszahler das Eintrittsalter gar nicht. Heute bekommt ein Senior im Schnitt etwa 20 Jahre lang Rentenzahlungen, ehe er stirbt. Im Durchschnitt verfügt ein Ruheständler laut aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes über 1.990 Euro im Monat. Jeder Fünfte hat mehr als 2.870 Euro zur Verfügung. Insgesamt sind die Einkünfte von Rentnern in den vergangenen drei Jahren im Schnitt um neun Prozent gestiegen.

Mit dem Fernglas auf die Rentner der Zukunft blicken

Ziemlich sicher jedoch geht es den Rentnern heute so gut wie es ihnen in Zukunft lange nicht mehr gehen wird. Die Geschichte von Karin ist so gesehen auch ein Blick in die Zukunft. Als würde man ein Fernglas richten auf die Situation der Rentner in einigen Jahrzehnten. Denn wenn die Reformen ausbleiben, wird die Zahl derer, die in der Grundsicherung landen, bis 2040 deutlich wachsen. Zu diesem Schluss kommt eine Bertelsmann-Studie. Und man muss nicht mehr als Grundschul-Mathematik beherrschen, um das grob nachzurechnen. Weniger Geburten bedeuten weniger Beitragszahler für eine wachsende Masse an Alten, die nicht mehr erwerbstätig ist, aber dennoch eine finanzielle Absicherung benötigt.

Seit Norbert Blüms Satz „Die Renten sind sicher“ vor 30 Jahren diskutiert Deutschland, wie lange das wohl noch gut gehen kann. Politiker allerdings reden über das Thema ungern. Schließlich sind vierzig Prozent aller Wahlberechtigten älter als 60 Jahre und wollen von Reformen oder gar Kürzungen nichts hören. Also verteilt man lieber weiter Geld, das das System eigentlich nicht hergibt: Die CSU zauberte jüngst die Mütterrente aus dem Hut, die SPD die abschlagfreie Rente für besonders langjährige Versicherte. Immerhin an die Beamten traute sich Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) zuletzt ran, als sie vorschlug, auch diese, sowie Selbständige sollten in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzahlen und das System so stützen. Der frühere sozialdemokratische Vizekanzler Franz Müntefering, der seinerzeit in der SPD die Rente mit 67 durchsetzte, schwor alle zusammen auf die Notwendigkeit von Reformen ein: „Bevor der Wagen in den Graben fährt, muss man auch lenken“, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Gräben allerdings, sie lauern überall. Bei den arbeitenden Beitragszahlern, die bei Laune gehalten werden müssen, damit sie nicht frustriert vom geringen Netto ins Bürgergeld flüchten. Bei den Alten, die am Ende des Lebens von der gesetzlichen Rente nicht leben können. Wo man auch zieht, die Decke bleibt zu kurz - irgendjemand friert immer.

Karin ist Rentnerin. Sie hat 40 Jahre in der Pflege gearbeitet, meist Teilzeit wegen der Kinder. Jetzt ist sie altersarm.

Karin bekommt 940 Euro Rente. Weil das zum Leben nicht reicht, gewährt man ihr Wohngeld. Trotzdem steht sie oft am Rudolfplatz vor den Cafés und denkt: „Das kannst du dir alles nicht leisten.“

Überproportional oft sind das heute Frauen. Sie sind von Armut im Alter häufiger betroffen als Männer, schließlich beziehen sie fast 40 Prozent weniger Rente. Der sogenannte Gender Pension Gap ist damit einer der größten Europas. Wie es so weit kommen kann? Frauen arbeiten häufig in Teilzeit oder ohne überhaupt bezahlt zu werden, weil sie sich zu Hause um den Abwasch und die Kinder kümmern. Diesen Fehler hat Karin nicht begangen. „Es ist nur ein Verlobungsring. Da ist Bügeln nicht inbegriffen“, habe sie immer zu ihrem Lebensgefährten gesagt. Mit Kindern habe es leider nicht geklappt. Heiraten wollte sie nie, obwohl die Eltern ihr zurieten. Ein Konzept der Abhängigkeit, das missfiel ihr schon ihr Leben lang.

Mit vierzehn Jahren hat Karin eine Lehre als Arzthelferin angefangen. „Nein, nicht Medizinische Fachangestellte! Ich war examiniert, durfte intravenös spritzen.“ Karin ist stolz. Sie sitzt in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung in Niehl. Die Haare kurz und wollgrau, die Bluse apfelgrün, die dunklen Augen blicken aufmerksam und fast ein bisschen herausfordernd durch Brillengläser. Sie ist geschminkt, das sei sie immer dann, wenn sie sich Mut machen wolle. Der Lippenstift als Rüstung. Und auch ohne wüsste jeder, der Karin begegnet: Vielleicht ist sie nicht mehr so stark. Aber sie wird ihr Territorium weiter verteidigen, notfalls auch zum Angriff übergehen. Sie hat in ihren Berufsjahren alle möglichen Fachrichtungen durchlaufen. Sie weiß, was ein Differenzialblutbild ist. Sie kann Leukozyten im Urin zählen. Sie kann gipsen. Sie kann Sportler massieren. Sie hat schon Geld als Bademodenmodell verdient. Sie hat einige Jahre auch auf dem Markt gearbeitet. Deshalb kann sie auch Erdbeeren so appetitlich mit den grünen Krönchen nach oben drapieren, dass alle, die vorüberlaufen, in eine reinbeißen wollen. Sie kann mit Professoren hochdeutsch sprechen und mit den Patienten, wenn nötig, in derbstes Kölsch verfallen. „Mein Chef hat immer gesagt: Dich kann ich überall hinschicken. Du kriegst alles geregelt.“

Manchmal kotzt mich das an. Ich sitze hier bei meinem Wasser und weiß: Nebenan lassen andere die Gläser klirren
Karin, Rentnerin

Schlechte Tage berechnet Karin in Naturalien. Es sind Tage des Verzichts. Dann steht sie auf dem Rudolfplatz und studiert die Speisekarten der Cafés. „Da sitzen ja alle und lachen.“ Latte macchiato. Kartoffelsuppe. Reibekuchen. Ein Schnitzel. „Dann merke ich: Das kann ich mir alles gar nicht leisten.“ Sie dreht sich also weg, geht nach Hause, setzt sich alleine auf ihr Sofa. „Manchmal kotzt mich das an. Ich sitze hier bei meinem Wasser und weiß: Nebenan lassen andere die Gläser klirren.“ Einen Luxus gibt sie nicht auf: Das Rauchen. Auch hier hilft ihr, dass sie ein geselliger Mensch ist. „Ich habe eine Freundin, die dreht mir manchmal ein ganzes Päckchen.“

Die Sache mit dem Geld stand in Karins Leben unter keinem guten Stern. Irgendwie hatte sie gedacht, es reiche, sich anzustrengen. Aber Fleiß ist keine Währung. Selten wird man dadurch reich. Nicht immer wird man davon satt. Es fing schon kärglich an. „75 Mark habe ich im ersten Lehrjahr verdient. Man nannte das damals gar nicht Gehalt, sondern Erziehungsbeihilfe“, sagt Karin. Ein Frauenjob war das. Was in den 1970er Jahren nichts anderes bedeutete als: Er wurde schlecht bezahlt. Schließlich rechnete niemand so richtig damit, dass Frauen von ihrer Erwerbstätigkeit auch leben können müssten. Der Beruf war eher als Beschäftigungs-Scharnier gedacht zwischen versorgter Kindheit zu Hause und der Versorgerehe.

„Viele Frauen haben sich damals nach dem ersten oder zweiten Kind gar ihre Rentenansprüche auszahlen lassen“, sagt Wilfried Preisendörfer, der heute Rentner berät. „Da kaufte man sich dann zum Beispiel ein Schlafzimmer und heute sitzen diese Frauen bei mir und hadern, weil der Mann weg und die Rente dürftig ist.“ Das rentenfinanzierte Schlafzimmer liegt zudem längst auf dem Sperrmüll.

Überhaupt ist das mit der Rente am Ende dann doch oft eine Überraschung. Karin sagt: „Ich habe mir damals beim Amt die Summe angesehen und gedacht: Ok, und was kommt dann da noch dazu?“ Und auch das mit dem Antrag sei nicht so einfach. „Viele wissen nicht, wie umfangreich das alles ist. Da müssen Kinder angegeben werden und Wohnsitze“, sagt Preisendörfer. Am Ende erlebt er gerade bei Frauen, dass es dennoch nicht reicht. „Die landen dann im Ruhestand als Flaschensammlerinnen auf der Straße. Das finde ich für ein solch reiches Land wie unseres wirklich beschämend. Wer 45 Jahre gearbeitet hat, sollte auch eine auskömmliche Rente erhalten.“

An die Rente denken? Erstmal ist da ja das Leben

Ein einziges Mal hat Karin finanziell Glück gehabt. Laborleiterin beim Betriebsarzt in der Oberpostdirektion. Sie hat so viel verdient wie vorher und hinterher nie. Und das bei weniger Arbeit. Fünf Impfungen, mehr war da manchmal nicht. Karin war das zu wenig. „Es gab Tage, da konnte ich um zwei Uhr nach Hause gehen. Das Rumsitzen ist nichts für mich. Da habe ich gekündigt. Mein Vater war außer sich. Kind, wieso? Hat er mich gefragt. Und gesagt, dass ich auch an die Rente denken müsse.“

An die Rente denken. Manche Worte brauchen ein Leben lang, um anzukommen. Schließlich ist da erstmal das Leben. Und das will Karin nicht mit Rumsitzen verbringen. „Ich wollte es immer krachen lassen.“ Lieber verkauft sie fünf Jahre lang Obst und Gemüse auf dem Markt. Süße Aprikosen, saftig-saure Äpfel, leuchtend gelbe Bananen. Um halb drei steht sie auf, ist 45 Minuten später in der Großmarkthalle, um vier geht’s dann mit dem Hänger raus auf den Markt. Düren, Gummersbach, Marienheide, Wipperfürth. 15 Meter Bleche mit Früchten und Salaten belegen, ehe die ersten Kundinnen kommen. „Das war eine tolle Arbeit, eine freie Arbeit“, schwärmt Karin noch heute. Manchmal hat sie 1000 Euro in der Woche ausbezahlt bekommen. In die Rente einbezahlt hat sie davon nur wenig. Gar nicht nur aus Unbedachtheit, noch weniger aus Gier, wie sie beteuert. Sondern weil sich da ja noch ihr Lebensgefährte aus dem Staub gemacht hatte, ein Investmentbanker. Der mit dem Ring, für den sie nicht bügelte. Aber leider bürgte. So hinterließ er ihr am Ende 100.000 D-Mark Schulden. „Das habe ich jahrelang abbezahlt. Sogar meine Mutter hat einen Teil übernehmen müssen.“

Jürgen Daldrup von „Ein Herz für Rentner“ ist im Porträt zu sehen.

Jürgen Daldrup von „Ein Herz für Rentner“ kümmert sich um Seniorinnen und Senioren in finanzieller Not.

Ihre Gesundheit berechnet Karin in Naturalien. Bluthochdruck, ein Bandscheibenvorfall, Fußheber-Parese, Borreliose. Schwarzkümmelöl würde ihr gut tun. 20 Euro kostet eine Flasche. Einmal in der Woche soll sie Fisch essen, ab und zu auch Kalbsleber, hat ihr alles der Arzt geraten. „Da kostet eine Scheibe acht oder neun Euro. Das kann ich mir nicht leisten.“ 6,51 Euro stehen ihr pro Tag für Essen und Getränke zur Verfügung, so stellt sich der Sozialstaat das zumindest vor. „Eine altersgerechte Ernährung ist damit nicht möglich“, sagt Jürgen Daldrup vom Kölner Verein „Ein Herz für Rentner“, der jährlich rund eine Million an Spendengeld aufwendet, um etwa 5000 Seniorinnen und Senioren aus der finanziellen Klemme zu helfen.

Der Bedarf sei weit höher. „Hier rufen sehr viele Leute an, die am Telefon in Tränen ausbrechen. Wir können aber nur einem Bruchteil von ihnen helfen“, sagt Daldrup. Nachzahlungen bei Strom und Gas, ein neuer Wintermantel, ein kaputter Kühlschrank. Seit die Inflation die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben hat, hilft der Verein aber immer häufiger auch mit Gutscheinen vom Supermarkt aus, wenn der Vorrat nicht bis zum Monatsletzten reicht. „Es kommen Menschen zu uns, die haben am 25. noch eine Dose Ravioli. Das reicht nicht“, sagt Daldrup. Gute Ratschläge wolle laut Daldrup in derlei Notlagen niemand hören: „Gegen Armut hilft nur Geld.“ Auch für Karin konnte der Verein schon einspringen. Eine Nachzahlung bei der Gasrechnung brach in ihr bescheidenes Leben herein und quälte sie mit der Frage: Wie viel Minus verträgt ihre bescheidene Rente? Daldrup fürchtet: Gar keins: „Wie wollen Sie die 2000 Euro Nachzahlung jemals aus dem niedrigen Budget raussparen? Das kann doch gar nicht klappen.“

So oft es geht, versucht Karin eine Pause vom Rechnen zu machen. Sie ist schließlich keine, die sich kleinkriegen lässt. Dann dreht sie die Musik laut auf und bewegt sich in ihrem Wohnzimmer zur Perkussion einer dänischen Band namens Safri Duo. „Da fetz ich drauf ab.“ Wenn sie tanzt, ist sie nicht arm. Wenn sie tanzt, ist sie vielleicht nicht einmal alt.


Ein Herz für Rentner e. V. unterstützt bundesweit Rentnerinnen und Rentner, die sich trotz jahrelanger Arbeit nicht das Nötigste zum Leben leisten können. Dazu gehören Brillen, Zahnbehandlungen, Möbel, Heizkostennachzahlungen, usw. Ebenso setzt sich der Verein mit kostenlosen Veranstaltungen gegen Einsamkeit im Alter ein. Seit 2019 gibt es ein NRW-Büro in Köln am Rudolfplatz. Wer spenden will, kann das hier tun: Spendenkonto bei der Sparkasse KölnBonn, IBAN: DE70 3705 0198 1934 9935 67