Die Seele als Künstler

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Unter Mineralwassertrinkern gibt es zwei "Verwender"-Typen: Der "Durstlöscher" und der "Dauerbefeuchter". Der Löscher greift tendenziell eher zum CO²-haltigen, der "Dauerbefeuchter" zum stillen Wasser. Zu diesem Ergebnis kommt die "Morphologische Analyse der Trinkverfassungen bei Mineralwasser". Es mag banal anmuten und der gemeine Konsument mag einwenden: Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen ausdauernd still bewässern, wollen sich halt nicht ständig lauthals entgasen. Für Mineralbrunnen-Betreiber aber liefern "morphologische" Analysen, wie sie in Köln die privaten Markt- und Medienforschungsinstitute Rheingold und ifm erstellen, Informationen für Werbekampagnen, Markteinschätzungen und Produktentscheidungen. Begründet wurde diese so genannte "Kölner Schule" von Wilhelm Salber, der am Sonntag 80 Jahre alt wird. Mit seiner Arbeit über die "Morphologie des seelischen Geschehens" führte Salber 1965 die universitäre Psychologie auf neue Pfade: Was genau passiert beim Sprudeltrinken, beim Zähneputzen, beim Fernsehgucken? Welche unbewussten psychologischen Wirkungs- und Handlungszusammenhänge laufen bei ganz alltäglichen Verrichtungen wie Essen, Straßenbahnfahren oder Einkaufen ab?

Die Erforschung von Alltagsphänomenen hat Salber wenig Freunde unter den akademischen Kollegen gemacht. Die beschäftigten sich vornehmlich mit pathologischen Erscheinungen, während Salber deren Begriffsrepertoire ablehnt. "Ich glaube nicht, dass man von der Pathologie her den Menschen einordnen sollte", erklärt Salber im Gespräch mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger". "Begriffe wie "depressiv" und andere, das sind alles Klischees, die nicht genau hingucken lassen." Wer eines von Salbers mehr als 30 Büchern liest, wird deshalb nicht auf klinisches Vokabular stoßen, dringt stattdessen ein in die "Gestalt"-Welten der Märchen und Mythen, der Kunst und Medien. Salber stammt aus katholischem Elternhaus in Aachen, wo er sich nach der Schule zunächst als Journalist und Zeichner betätigt und die Psychologie erst im Vorlesungsverzeichnis der Uni Bonner entdeckt. "Ich merkte, dass ich in diesem Fach die Nase in alle Lebensbereiche stecken konnte. Das blieb für mein ganzes Leben so. Die Psychologie ist eine allgemeine Grundlage für alles, was mit dem Menschlichen zu tun hat." Schon in den 50er Jahren stellt er "Motivuntersuchungen" im Umgang mit Filmen an, wird Gutachter der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK).

Mit Sigmund Freud beschäftigt Salber sich intensiv erst, nachdem er 1963 zum Direktor der neugegründeten Psychologischen Institutes II an der Universität Köln berufen wird. Seine Lektüreergebnisse fließen in drei Freud-Bücher ein, mit denen er sich Anfang der 70er Jahre zu Freuds Tochter Anna nach London begibt. Sie bietet an, er könne sich in den Semesterferien einer Analyse unterziehen. Fünf Jahre lang legt er sich in den Ferien auf Anna Freuds Couch, während sie schweigt und strickt. "Manchmal sagte sie stundenlang nichts. Am Schluss stand sie auf und erklärte, Wir werden sehen'. Das muss man erst mal aushalten. Anna Freud ließ einen im eigenen Saft schmoren." Wenig angetan ist Anna Freud davon, dass der Kölner Professor kein Anhänger der Freudschen Analyse wird, sondern einen eigenen systematischen Zugang zur menschlichen Seele entwickelt - die "Morpho-Logie". Er beschreibt die eigentümlichen Wirkungszusammenhänge von Gestalten, Bildern, Träumszenen, die die Seele selbst als psycho-ästhetische Kunstwerke ununterbrochen kreiert. Das Wesen der Seele, formuliert Salber in Anlehnung an Nietzsche, sei der Wille zur Gestaltung und Verwandlung.

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Das Seelische als schöpferische Energie

Der deutsche Idealismus, Goethe, die Ansätze der Ganzheits- und Gestaltpsychologie stehen Pate für Salbers Psychologie, die er nach Goethes "Morphologie" (Morphe bedeutet Gestalt, Form, Aussehen) benennt. Das Seelische sei eine schöpferische Energie, die beständig nach Gestaltung und Verwandlung dränge. An Hand der Märchen der Gebrüder Grimm systematisiert Salber drei Dutzend Handlungs- und Wirkungsmuster, die er in allem menschliche Verhalten und Erleben wieder erkennt. "Menschen und Märchen hängen für mich ganz eng zusammen", erklärt Salber, "das sind Urphänomene, die Grundzüge der Existenzprobleme des Menschen zeigen." Märchenhafte Muster erkennt Salber in Dramen, Filmen, Opern, in den Selbst-Entwürfen und Selbst- wieder, die eine Kultur organisieren. Die Psychoanalyse des "Morpho-Logen" bringt die Menschen dazu, sich ihres unruhigen Gestaltungsdranges bewusst zu werden, ihre "Besessenheit" durch Bild- und Selbst-Entwürfe zu durchschauen. Salber und seine Studenten veröffentlichen eine Flut von "psycho-ästhetischen" Untersuchungen, die die Morpho-Logie von Hollywood-Filmen, Fernsehserien, Architekturen, ja der alltäglichsten Verrichtungen beschreiben.

Damit werden sie umgekehrt immer interessanter für jene, die ihre Produkte passend zum Selbst-Bild und Ansehen bestimmter Konsumenten-Typen verkaufen wollen. Deshalb ist Salbers "Kölner Schule" vor allem bei der Werbe- und Marketingbranche gefragt. Salber selbst arbeitet nach seiner Emeritierung unter anderem als Berater von RTL. Mit welchen Bildern und in welchen Erzählungen sollten Duschgels, Autos, TV-Serien daherkommen, damit sie sich als möglichst unverzichtbarer Teil der Selbst-Bilder der Konsumenten-Typen anbieten. Wie sollte ein Werbespot stilles Wasser erzählen, damit es den "Dauerbefeuchter" anspricht. Marken, fanden die Morphologen von "Rheingold" heraus, rücken in jene seelische Lücke, die durch den Bedeutungsverlust von programmatischen Instanzen wie Staat, Kirche, Schule entstehen. Nach Salbers Ausscheiden von der Universität Köln wurde sein Lehrstuhl nicht wieder mit einem Morphologen besetzt. In der akademischen Welt, räumt Salber ein, habe sein Denkansatz nicht reüssieren können - dafür aber in der Wirtschaft.

Der 80-jährige ist nach wie vor gefragter Couch und hellwacher Zeitgenosse. So beobachtet er mit Interesse, die "märchenhaften Auftritte von Politikern, in denen sie sich selber wie Könige oder wie der Wolf im Märchen präsentieren. Was sich im Augenblick bei den Parteien abspielt, ist für mich eine Fundgrube." Wenn man die Muster einmal erkannt, entdeckt man seine Varianten überall.

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