„Brüder im Nebel“Das Gutachten zum Missbrauch im Kölner Erzbistum

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  • Der Kölner Strafrechtler Björn Gercke hat am Donnerstag das Missbrauchsgutachten vorgestellt.
  • Auf rund 900 Seiten werden acht lebende und verstorbene Verantwortliche belastet.
  • Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ist nicht darunter.

Köln – „Danke“. Das ist Kardinal Rainer Woelkis erstes Wort, als er aus der Hand von Rechtsanwalt Björn Gercke dessen Gutachten zum Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln entgegennimmt.

Was auf den 900 Seiten steht, ist eigentlich alles andere als dankenswert: Die Führungsspitze des Erzbistums Köln hat im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte hinweg Pflichten verletzt.

Woelki spricht mit einem Wort aus, was der Gutachter-Bericht in langen Kaskaden über die Teilnehmer der Präsentation ausgegossen hat: Vertuschung. Es sei eine „enttäuschende Bestätigung“ für die Schuld „höchster Verantwortungsträger“, sagt Woelki. Aber: Er hat es so gewollt. Er wollte Verantwortung und Verantwortliche identifizieren und benennen. Das jedenfalls nun geschehen.

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Ein Drittel der nachgewiesenen Pflichtverletzungen ordnet Gercke Woelkis Vorgänger, Kardinal Joachim Meisner, zu – „in voller Bandbreite“ von unterlassener Aufklärung und Weitermeldung der Taten, Sanktionierung der Täter, Verhinderung weiteren Missbrauchs bis hin zu nicht wahrgenommener Opferfürsorge. Ein langes Sündenregister.

An der mit Spannung erwarteten Pressekonferenz darf – coronabedingt – lediglich etwa ein Dutzend Journalisten im großen Saal des Maternushauses, der Tagungsstätte des Erzbistums, teilnehmen. Etwa die zehnfache Zahl ist digital zugeschaltet.

Das Erzbistum hat einen Livestream für alle Interessierten eingerichtet. Entsprechend ruhig bleibt es vor dem Maternushaus. Nur eine Handvoll Kamerateams hat dort Position bezogen.

Ort des Protests eines bundesweiten Verbunds von Betroffenen-Initiativen ist die Domplatte, wo sie öffentlichkeitswirksam eine Pappskulptur des Karnevalswagen-Bauers Jacques Tilly platziert haben. Unter einem schlafenden Bischof in der Hängematte steht zu lesen: „11 Jahre schonungslose Aufklärung der Missbrauchsfälle“.

Ein Bild von Woelki, der schräg gegenüber vom Maternushaus wohnt und nur wenige Meter zu Fuß zurückzulegen hat, bekommen sie nicht. Offenbar hat der Kardinal entweder den Weg durch die Tiefgarage genommen, oder er ist schon lange vor den Journalisten im Maternushaus eingetroffen.

Punkt 10 Uhr betritt er dort zusammen mit seinem Generalvikar Markus Hofmann den Saal und nimmt, ohne nach links oder rechts zu schauen, in der Mitte der ersten Reihe Platz.

Matthias Katsch von der Opferinitiative „Eckiger Tisch“ hingegen spricht vor dem Maternushaus gern mit den Wartenden, um seine Sicht der Dinge kundzutun: „Ich bin hier, um zu zeigen, dass wir Betroffenen weiter draußen vor der Tür warten.“ Er wirft Woelki, dem Erzbistum, aber auch der ganzen katholischen Kirche in Deutschland vor, „weiterhin die Kontrolle über den Aufklärungsprozess behalten zu wollen“. 

Mit solchen Problemen der Aufarbeitung hält Gutachter Gercke sich nicht auf. Verschiedene Formen seien denkbar. Er habe einen juristischen Prüfauftrag erhalten – und dem ist er nachgekommen. Was Woelki selbst betrifft, stellt das Gutachten keine nachweisbaren Verfehlungen fest. Es geht hier um den Missbrauchsvorwurf gegen einen mit Woelki befreundeten Priester, den Woelki 2015 nicht untersuchen ließ und nicht nach Rom meldete.

Gleich zweimal betont Gercke, dass es „medial am einfachsten“ gewesen wäre, „Herrn Woelki zum Schafott zu führen“. Als Gercke an diesem Punkt seiner Ausführungen ankommt, hebt der Kardinal kurz den Blick, den er sonst fast die ganze Zeit starr auf den Schreibtisch vor ihm geheftet hat.

Gelegentlich nimmt er einen Stift zur Hand, macht sich kurze Notizen. Die Lippen fest aufeinander gepresst, die Mundwinkel heruntergezogen, die Wangen gerötet – die ganze Anspannung ist Woelki deutlich anzusehen, und man kann es ihm glauben, dass er diesen Tag „herbeigesehnt, darauf hin gelebt“ und „zugleich gefürchtet“ habe „wie nichts Anderes“.

Als einem Mann, der unter Kardinal Joachim Meisner in der Kirche von Köln Karriere machte, muss es Woelki klar gewesen sein, was Gercke bei der Präsentation seines Gutachtens darlegt: Hunderte von Fällen sexuellen Missbrauchs – in den verschiedensten Formen und Schweregraden.

Am Ende listet Gercke 202 Beschuldigte und 314 Opfer auf. Von ihnen war mehr als die Hälfte unter 14 Jahre alt. Fast zwei Drittel waren Jungen. Diese Befunde entsprechen den Ergebnissen anderer Studien auf Bundesebene oder in einzelnen Bistümern.

In dem angeblich so hervorragend organisierten Erzbistum Köln mit seinem hoch ausgebauten Verwaltungsapparat hat Gercke im Umgang mit Missbrauchsfällen „Chaos, subjektiv empfundene Unzuständigkeit und Missverständnisse“ festgestellt.

Das rechtfertigt aus seiner Sicht zwar nicht den Vorwurf systematischer Vertuschung, weil man dafür eine Absicht nachweisen müsse. Und das sei anhand der Aktenlage nicht ohne Weiteres nachweisbar. Dafür fallen so deftige Worte wie planlos, unkoordiniert und unkontrolliert. Und es seien, das dann doch, immer wieder Bestrebungen im Erzbistum erkennbar gewesen, Missbrauchsfälle nicht öffentlich werden zu lassen, sie „nicht an die große Glocke zu hängen“.

Also eben doch das, was landläufig Vertuschung heißt. „Systembedingt“, fügt Gercke hinzu, was man auch als eine Form der Entlastung lesen kann. Denn wenn das System schuld ist, wiegt die persönliche Verantwortung nicht mehr gar so schwer. 

Einige Kölner Besonderheiten hebt Gercke ausdrücklich hervor. So habe Kardinal Meisner – über die beim Generalvikar aufbewahrten sogenannten Giftakten mit aus Sicht der katholischen Kirche „brisanten Inhalten“ wie Zölibatsvergehen, Homosexualität oder Suchterkrankungen hinaus – auch persönlich noch weitere Unterlagen „mit geheimhaltungsbedürftigen Inhalten“ zu Priestern des Erzbistums aufbewahrt.

Dieses Material hatte Meisner mit einem so blumigen wie vielsagenden Titel versehen: „Brüder im Nebel“. Im Nebel befanden Meisners Brüder im Priesteramt mit ihren Vergehen. Der Nebel des Verschweigens waberte aber auch im Erzbistum, sodass das Licht der Wahrheit nicht durchdringen konnte – und erst recht nicht das Leid der Opfer, über denen wiederum der Nebel des Vergessens lag.

Das geht auch aus einer Info-Broschüre hervor, die in der Verantwortung Meisners und seiner Generalvikare Dominikus Schwaderlapp und Stefan Heße 2010 beziehungsweise 2012 an die Kölner Pfarrgemeinden verteilt wurde: Sie nennt für das Erzbistum lediglich fünf Beschuldigte. Einzelfälle. Schlimme Einzelfälle, gewiss. Aber auch nicht mehr. Noch 2015 erklärt Meisner in einem Interview, er habe vom Ausmaß des Missbrauchsskandals „nichts geahnt, nicht geahnt“.

Genau diese Formulierung greift Woelki in seinem kurzen Statement auf, nachdem er das Gutachten entgegengenommen hat. „Nichts geahnt ist seit heute nicht mehr möglich“, sagt der Kardinal.

Weihbischof und Kirchrichter von Aufgaben entbunden

Peter Bringmann-Henselder, der als Vertreter des Betroffenenbeirats ein zweites gedrucktes Exemplar des Gutachtens erhält, lobt Woelki ausdrücklich. Er sei überrascht über die erste Konsequenz. Auf der Presskonferenz entbindet Woelki Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und den obersten Kirchenrichter des Erzbistums, Günter Assenmacher, von ihren Aufgaben. Er habe aber auch nichts anderes von ihm erwartet. Schon zuvor sei Woelki „ganz gerade nach vorn gegangen“.

Auf dem Weg vom Rednerpult zurück zu seinem Platz wiegt Woelki das schwere, dunkel gebundene Buch in seinen Händen hin und her. Er wirkt erleichtert.

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