Keine Priorität beim ImpfenSchwer erkrankte Kölnerin fühlt sich vergessen

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Luise Bassiri (35) hat Krebs und kämpft dafür, früher geimpft zu werden.

Köln – Einige Nachrichten ärgern Luise Bassiri in diesen Wochen besonders: Wenn sie liest, dass sich ein 31-jähriger Bürgermeister aus Hennef impfen lässt, der keine Vorerkrankungen hat, oder die Frau eines Pflegedirektors, zum Beispiel, „kann ich kaum glauben, dass das wahr sein kann“, sagt sie. Auch der hohe Anteil der Covid-19-Opfer in Altenheimen und eine Debatte, die seit fast einem Jahr um die Pflegeheime kreist, verstört die 35-Jährige. „Ich verstehe es einfach nicht, dass es bis heute so oft Corona-Ausbrüche in Pflegeheimen gibt. Dass es dort so lange keine FFP2-Masken-Pflicht gab. Dass die Schutzkonzepte so oft nicht funktioniert haben.“ Luise Bassiri hat Krebs in stark fortgeschrittenem Stadium, sie gilt als nicht mehr heilbar. Aber sie ist zu jung, um schon in den kommenden Wochen geimpft zu werden.

Die Prioritätsliste der Bundesregierung sieht vor, dass Menschen wie die 35-jährige Mutter dreier Kinder erst an der Reihe sind, wenn über 80-Jährige, Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sowie in der zweiten Stufe Menschen ab 70 Jahren sowie „Menschen mit einem sehr hohen oder hohen Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf“ geimpft sind. Aber hat sie dieses hohe Risiko nicht auch?

„Es gibt ja gar keine Studien dazu, ein wie viel höheres Risiko zum Beispiel Krebspatienten haben, an Covid 19 zu sterben“, sagt sie. Jüngst ist in Köln ein junger Dialysepatient an oder mit dem Virus gestorben. „Dass Menschen mit einem stark geschwächten Immunsystem ein stark erhöhtes Risiko haben, steht wohl außer Frage“, sagt die Zahnärztin, die ihren Beruf schon lange nicht mehr ausüben kann. „Indem ich für eine frühere Impfung kämpfe, möchte ich eine Debatte anregen, die aus meiner Sicht bislang viel zu wenig stattfindet.“

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Hoffnungsschimmer Impfkommission

Womöglich hat Bassiri mit ihrem Brief an Oberbürgermeisterin Henriette Reker und das Kölner Gesundheitsamt genau dazu zumindest einen kleinen Teil beigetragen: Am Mittwoch gab der Kölner Krisenstab bekannt, eine Ethikkommission einzurichten, um eine „gerechte Verteilung von übrig bleibendem Impfstoff sicherzustellen“. Die Kommission besteht aus Lothar Becker, Leiter des Amts für Recht, Vergabe und Versicherungen, Monika Kleine, Geschäftsführerin des Sozialdiensts katholischer Frauen Köln, Alex Lechleuthner, Leiter des Rettungsdiensts der Berufsfeuerwehr, Gerhard A. Wiesmüller, stellvertretender Leiter des Gesundheitsamts, und Jürgen Zastrow, Vorsitzender der Kreisstelle Köln der Kassenärztliche Vereinigung. Sie sollen in den kommenden Monaten dafür sorgen, dass die wenigen, übrig bleibenden Impfdosen „ethisch, moralisch und rechtlich transparent“ verteilt werden. Medizinisches Personal soll dabei zuerst berücksichtigt werden, die Kommission soll aber auch über Einzelfälle mit schweren Vorerkrankungen entscheiden.

Für Luise Bassiri bedeutet die Kommission einen kleinen Hoffnungsschimmer. „Natürlich werde ich mich an sie wenden und meinen Fall schildern“, sagt sie. Vor einigen Wochen schon hatte sie Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann geschrieben: „Ich denke mein Fall ist nicht sehr selten, doch haben wir keine Lobby. Ein Krebspatient ist nicht unbedingt alt und alleinstehend. Es gibt auch junge Väter und Mütter, die mein Schicksal teilen. Wir alle müssten früher bedacht werden, damit wir wieder einigermaßen am Leben teilhaben können und nicht Angst haben müssen zum Beispiel von unseren Partnern oder Kindern angesteckt zu werden.“ Das Kölner Gesundheitsamt hatte sie an die Kassenärztliche Vereinigung verwiesen (KV). Die KV schrieb ihr in für sie schwer erträglicher Nüchternheit: „Wir sind nicht berechtigt und haben nicht die Möglichkeit, von den in der Impfordnung festgelegten Priorisierungen abzuweichen bzw. von der Impfverordnung abweichende Priorisierungen zu entscheiden.“

Medizinethiker kann Ärger nachvollziehen

Viele Menschen werden nun wie Bassiri die Ethikkommission anschreiben. Die Einberufung eines solchen Gremiums hält der Bremer Medizinethiker Karl-Heinz Wehkamp grundsätzlich für sinnvoll. „Es ist nachvollziehbar, dass sich viele Menschen von den Einstufungen der Bundesregierung vergessen fühlen. Die bürokratischen Priorisierungslisten haben etwas Grobes, Holzschnittartiges. Die Wahrscheinlichkeit, dass man da als Individuum übersehen wird, ist leider sehr groß“, sagt er. Ob Kommissionen überhaupt eingesetzt werden könnten, hänge von den Ressourcen vor Ort ab. „Ob diese Gremien in der aktuellen Lage auch kompetent genug besetzt werden können und ausreichend Zeit haben, um passgenaue Beurteilungen abwägen zu können, halte ich für zumindest fraglich. Es müssen schließlich Erkrankungen und die mit ihnen verbundenen Gefahren und Leiden bezogen auf die jeweilige Person gewichtet und miteinander verglichen werden. Wenn Ehrenamtliche das können, wäre das von Vorteil, Leute aus ihren Arbeitsprozessen herauszunehmen, in denen sie sowieso schon stark belastet sind, wird nicht leicht sein. Wünschenswert ist ihr Einsatz natürlich“, sagt Wehkamp. „Aber es kann natürlich sein, dass die Kommissionen von sehr vielen Menschen angerufen werden.“

Nur Menschen mit seltenen Erkrankungen bevorzugen?

In der Verordnung der ständigen Impfkommission heißt es bewusst allgemein gehalten, dass die Prioritätenliste „nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigen“ könne. „Deshalb sind Einzelfallentscheidungen möglich.“ Als Beispiele werden „Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen“ genannt, „für die ein erhöhtes Risiko angenommen werden kann“. Aber was heißt das für die Praxis? Eine seltene Vorerkrankung hat Luise Bassiri wie viele andere Krebserkrankte und Menschen mit anderen schweren Erkrankungen nicht. Ein erhöhtes Risiko für schwere Covid-19-Verläufe kann gleichwohl angenommen werden.

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Die 35-Jährige hatte in den vergangenen drei Jahren mehrere Chemotherapien und Operationen. Sie erhält eine Immuntherapie und muss zahlreiche Medikamente einnehmen. Für Untersuchungen geht sie jede Woche in die Kölner Uniklinik. Ihr Mann arbeitet als niedergelassener Urologe, der ebenfalls noch nicht geimpft ist und täglich rund 40 Patienten sieht, zwei ihrer drei Kinder befinden sich in der Notbetreuung der Kita. Durch die Kontakte von Mann und Kindern ist sie einem höheren Risiko ausgesetzt, dass das Virus innerhalb der Familie übertragen wird. Mut macht Bassiri, die auf Instagram regelmäßig über ihre Erkrankung schreibt, eine Krebspatientin aus Hamburg. Sie stand kurz vor einer Chemotherapie und konnte jüngst eine frühzeitige Impfung durchsetzen. Das Gesundheitsamt hatte eine frühere Impfung zunächst abgelehnt. Ehe das Verwaltungsgericht über die Klage entschied, hatte die Stadt Hamburg dem Anwalt der Frau zufolge aber eingelenkt und die Erkrankte ohne viel Aufhebens geimpft. Ein 73-jähriger Herzpatient aus Niedersachsen scheiterte dagegen mit seiner Klage auf eine sofortige Impfung.

Immer mehr Klagen

In Köln läuft derzeit ein Eilverfahren, in dem die Kläger ihren Angehörigen zu Hause pflegen – und mit der gleichen Priorität geimpft werden möchten wie das Pflegepersonal in den Seniorenheimen. Noch gibt es nicht viele Klagen von schwer Erkrankten oder Angehörigen – die Zahl der Verfahren nimmt aber kontinuierlich zu.

Die berechtigten Sorgen und Enttäuschungen von Härtefällen lindern könnte ironischerweise auch der Impfstoff vom Hersteller Astrazeneca: Eine neue Empfehlung der ständigen Impfkommission sieht vor, das Vakzin an Menschen unter 65 Jahren zu verimpfen – die Datenbasis für die Wirksamkeit bei älteren Menschen sei zu gering.

Der Sohn der an Demenz erkrankten Ute B., die in einem Kölner Pflegeheim lebt, will zunächst die neue Kölner Ethikkommission anrufen. Im Oktober seien in dem Heim zwölf von 24 Bewohnern an Covid 19 erkrankt, auch seine Mutter. „Sie hatte einen sehr leichten Verlauf, wäre aber aus meiner Sicht durch die Infektion mit dem mutierten Virus stark gefährdet“, sagt der Sohn. „Da sie als immunisiert gilt, ist sie für eine Impfung gar nicht vorgesehen – dabei gibt es nachweislich Menschen, die an einer zweiten Infektion verstorben sind.“ Die Chancen von Ute B. auf eine frühzeitige Impfung dürften eher gering sein.

Alte Menschen und Schwerkranke, die durch das Coronavirus besonders gefährdet sind, bevorzugt zu schützen, hält Medizinethiker Karl-Heinz Wehkamp für „ethisch angemessen. Das bedeutet, dass wir keine Triage vornehmen – die würde bedeuten, dass wir die Gemeinschaft bevorzugen und nicht das Individuum“. Wie genau die Einzelfallentscheidungen ausdifferenziert werden, sei indes „schwierig. Einige werden sich leider zurückgestuft und vergessen fühlen – gleich wie die Entscheidungen getroffen werden“.

Impfregeln verfassungswidrig?

Juristen wie der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio halten die derzeitigen Impfregeln für verfassungswidrig, weil dem Gesetz eine Härtefallregelung fehle. „Genau das fordere ich auch: Eine gesetzlich verankerte Härtefallregelung, die Rechtssicherheit für viele Tausend Menschen schafft, denen es ähnlich geht wie mir“, sagt Luise Bassiri. Bis dahin bleibt Betroffenen in Köln, die Ethikkommission anzurufen – oder zu klagen.

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