Im Fünfjahresvergleich haben sich die Körperverletzungsdelikte in den Kliniken fast verdoppelt. Warum das so ist und wie sich die Kliniken wehren.
Übergriffe nehmen zuFrau schlägt auf Pflegerin ein und streamt es auf TikTok
Wer wollte, konnte die Eskalation der Gewalt live vom Smartphone aus verfolgen. Weil eine Frau sich ungerecht behandelt fühlt, zückt sie im Warteraum der Notaufnahme des Klinikums Merheim ihr Handy und filmt drauflos. Sie beschimpft Pfleger und Ärzte, meint, endlich vorgelassen werden zu müssen. Doch es bleibt nicht bei Beleidigungen und Drohungen. Irgendwann steht sie auf, stürmt auf eine Pflegerin zu und fängt an, auf sie einzuschlagen. Ihre Kamera läuft währenddessen.
Per Livestream verfolgen Menschen auf Tiktok, wie die Pflegerin von der Frau geschlagen wird. „Das hat uns alle fassungslos gemacht“, berichtet Dominik Weber, Pflegeleiter der Notaufnahmen in Merheim und Holweide. „Und wenn man dann die teilweise zustimmenden Kommentare unter dem Video sieht, wird einem übel.“
Umfrage: 73 Prozent der Krankenhäuser sehen Zunahme der Gewalt
In dieser krassen Form stellt der Fall zwar eine Ausnahme dar. Und trotzdem steht er sinnbildlich für eine Entwicklung, die auch Einzug in Kölner Krankenhäuser gehalten hat: In einer Umfrage im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) aus dem April gaben 73 Prozent der befragten Kliniken in Deutschland an, dass die Zahl der Übergriffe in den letzten fünf Jahren mäßig (53 Prozent) oder deutlich (20 Prozent) gestiegen ist. Das lässt sich auch an Zahlen der Kölner Polizei ablesen. Diese zählte im vergangenen Jahr 25 Körperverletzungsdelikte in Kölner Krankenhäusern. 2019 waren es noch 13 Fälle.
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„Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist“, sagt Weber. Immer wieder sind er und sein Team mit körperlicher Gewalt konfrontiert. Oft geht sie von psychisch kranken Menschen oder Drogenabhängigen aus. Das liege auch am Standort eines Krankenhauses. „Wir liegen zum Beispiel mit dem Krankenhaus Holweide im Einzugsgebiet vom Wiener Platz in Mülheim.“ Der Wiener Platz gilt als einer der größten Drogen-Hotspots der Stadt. Mit den Angriffen, sagt Weber, könne man noch einigermaßen umgehen. „Noch schlimmer sind oft die Drohungen, die wir häufiger zu hören bekommen. Wenn einer schreit ‚Ich mach’ dich fertig, wenn du rauskommst‘, das macht schon Angst.“
Doch es seien nicht nur Drogenabhängige oder psychisch kranke Menschen, die auf das Krankenhauspersonal losgehen. „Diese Gewalteskalationen gehen genauso auch von psychisch gesunden Patienten aus, denen es einfach nicht schnell genug geht und die sich deswegen ungerecht behandelt fühlen“, sagt Hannah Makait, ärztliche Leiterin der Notaufnahme in Merheim. „Seit Corona ist die Hemmschwelle bei vielen Patienten deutlich gesunken. Das spüren wir hier in der Notaufnahme.“
Uniklinik Köln beschäftigt jetzt Sicherheitsmann für Notaufnahme
Auch Matthias Müthing, Pflegeleiter der Notaufnahme der Uniklinik Köln nimmt das so wahr. Erst einen Tag vor dem Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ wurde auch sein Team Opfer von Gewaltandrohungen eines Mannes, der seiner Meinung nach zu lange auf eine Behandlung warten musste, berichtet er. „Das Phänomen ist nicht neu, aber es nimmt seit Corona deutlich zu.“ Der gesellschaftliche Frust sucht sich ein Ventil. Und entlädt sich dann bei Ärzten und Pflegern, die eigentlich dazu da sind, Menschen zu helfen.
Neben der gesellschaftlichen Stimmung nach Corona sind aber auch die Strukturen im Gesundheitssystem für die sich zuspitzende Gewaltspirale verantwortlich, glaubt Müthing. „Wir haben einen erheblichen Fachärztemangel. Das führt dazu, dass viele Patienten, die zum Beispiel Monate auf einen Termin beim Orthopäden warten müssten, stattdessen in die Notaufnahme kommen.“ Die Folge: Immer längere Wartezeiten und eine sich immer stärker aufheizende Atmosphäre in den Kliniken.
Um sich vor den zunehmenden Übergriffen zu schützen, hat die Uniklinik vor einigen Monaten beschlossen, einen eigenen Sicherheitsmann einzustellen, der sich nur um die Notaufnahme kümmert. Zusätzlich gibt es Deeskalationstraininings für Pfleger und Ärzte. Und auch auf seelsorgerische Angebote können Mitarbeiter zurückgreifen. Außerdem befindet sich Müthing im Austausch mit der Polizei, um einen Leitfaden zu entwickeln, „wie solche Übergriffe in Zukunft verhindert werden können und begangene Straftaten rechtssicher verfolgt werden können.“
Ähnliche Maßnahmen haben auch die städtischen Kliniken ergriffen. Neben Selbstverteidigungskursen und einem Sicherheitsdienst gehe es vor allem um psychische Betreuung des Personals, erklärt Gerlinde Schlang, Leiterin der Arbeitsmedizin der städtischen Kliniken: „Bei uns zählt jeder Übergriff als psychischer Arbeitsunfall. Das hat zur Folge, dass unser Personal dann Anspruch auf eine Traumanachsorge hat.“ Dafür arbeite man mit einem psychologischen Institut in Köln zusammen.
Müthing von der Uniklinik hofft indes auch, dass das Bewusstsein in der Gesellschaft dafür wächst, dass die Notaufnahme ein Ort für medizinische Notfälle ist. „Wir müssen die Selbsthilfe-Kompetenz der Menschen wieder stärken. Teilweise kommen Patienten mit einem schmerzenden Zehnagel zu uns und erwarten dann, sofort behandelt zu werden.“ Das könne nicht funktionieren. „Dieser Gesundheitsegoismus muss sich wieder zu mehr Solidarität wandeln.“
Ähnlich sieht das auch Schlang: „Ich würde mir wünschen, dass wir uns in allen Bereichen der Gesellschaft wieder mit mehr Wertschätzung und Freundlichkeit begegnen.“ Sie hofft, dass auch die Aufklärung darüber, wie es in den Notaufnahmen aktuell aussieht, dazu beitragen wird.