Kölner Armutsforscher Butterwegge„Armut macht Kinder und Jugendliche einsam”

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Grundschule

Jedes fünfte Kind ist in Köln von Armut bedroht. Es hat schlechtere Chancen auf gute Bildung. (Symbolbild)

  • Die Armutsforscher Carolin und Christoph Butterwegge haben ein Buch über Reichtum und Armut bei Kindern geschrieben.
  • Von den 13,6 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland sind 2,8 Millionen von Armut bedroht.
  • Die Wissenschaftler schildern, was Armut mit Kindern macht und was der Staat dagegen tun kann.

Frau und Herr Butterwegge, wie kam es zur Idee zu Ihrem neuen Buch, das sich mit Kinderarmut und Kindereichtum beschäftigt?

Christoph Butterwegge: Covid-19 hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir unser erstes gemeinsames Buchprojekt begonnen haben. Schließlich gehörten die Kinder zu den Hauptleidtragenden der Pandemie. Wie unter einem Brennglas trat Kinderungleichheit beim Wohnen, bei der Bildung, bei der Gesundheit sowie nicht zuletzt bei Einkommen und Vermögen hervor. Wir haben auch an unseren eigenen, fünf und 13 Jahre alten, Kindern beobachtet, was die Pandemie mit jungen Menschen macht. Es geht im Buch aber nicht bloß um die Folgen der Pandemie, sondern mehr noch um die Aufdeckung schon vorher bestehender Ungleichheiten.

Wie sind Armut und Reichtum unter den Kindern und Jugendlichen verteilt? Carolin Butterwegge: Von den etwa 13,6 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland leben fast 1,9 Millionen in Hartz-IV-Haushalten. Diese Zahl ist über viele Jahre relativ stabil geblieben. 2,8 Millionen sind von Armut bedroht, wenn man EU-Kriterien anlegt. Demnach ist ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei einem Monatseinkommen von weniger als 2255 Euro armutsgefährdet. Wir würden eine solche Familie aber einkommensarm nennen, weil sie davon in einer Stadt wie Köln normalerweise einen Großteil für die Miete ausgeben muss.

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Christoph Butterwegge: Zu den reichen Kindern fehlen statistische Daten, weil ihre Eltern die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Familie im Unterschied zu Hartz-IV-Abhängigen nicht offenlegen müssen. Wir bezeichnen Kinder dann als reich, wenn sie in vermögenden Familien aufwachsen. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung besitzen die reichsten 45 Familien in Deutschland so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung – mehr als 40 Millionen Menschen.

90 Kinder unter 14 Jahren erhielten allein zwischen 2011 bis 2014 insgesamt 29,4 Milliarden Euro von ihren Eltern übertragen, weil diese eine Anhebung der Erbschaftsteuer für Firmenerben befürchteten. Das waren im Durchschnitt nicht weniger als 327 Millionen Euro pro Kind – steuerfrei!

Kinderarmut Köln

Grafik

Die Kinderarmutsquote reicht von 0 bis 60 Prozent in unterschiedlichen Kölner Vierteln. Die kindlichen und familiären Lebenswelten driften auch hier auseinander, oder? Carolin Butterwegge: Gerade in Köln ist die Ungleichheit der Kinder stark ausgeprägt. Die einen wachsen in gutbürgerlichen Wohngegenden und Familien auf, die über ein ausreichend hohes Einkommen verfügen. Aber es gibt eine wachsende Zahl von Stadtvierteln, in denen sich die Armut konzentriert. Dort sind Kinder und Jugendliche von vielen Risiken betroffen.

Wenn 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Hartz-IV-Haushalten aufwachsen, prägt das ein Quartier. Dort ist die Infrastruktur oft unterentwickelt, und es gibt weder ein Jugendzentrum um die Ecke noch einen gut ausgebauten Spielplatz. Die weniger förderlichen Lebenswelten dieser Kinder beeinträchtigen deren Bildungschancen.

Kinder fühlen sich ausgegrenzt

Sie zitieren im Buch eine alleinerziehende Mutter, die froh ist, wenn ihr Kind nicht zu einem Kindergeburtstag eingeladen wird, weil sie sich kein Geschenk leisten kann. Was macht Armut mit Kindern? Carolin Butterwegge: Die betroffenen Kinder fühlen sich gegenüber ihren Mitschülern benachteiligt, vermissen Freundschaften und werden ausgegrenzt, weil sie bei Freizeitaktivitäten nicht mithalten können.

Christoph Butterwegge: Armut macht Kinder einsam, und zwar nicht erst in einem Lockdown. Wenn man bei Kindergeburtstagen abseits steht, fühlt man sich isoliert und entwickelt oft auch kein Selbstwertgefühl.

Welche Kinder und Jugendlichen sind von Armut besonders betroffen und warum? Carolin Butterwegge: Kinder teilen das hohe Amutsrisiko von Arbeitslosen, welches über 57 Prozent beträgt, von Alleinerziehenden, deren Armutsrisiko bei mehr als 42 Prozent liegt, und von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die zu über 35 Prozent von Armut bedroht sind. Dazu kommen Kinder aus kinderreichen Familien und geflüchtete Kinder, die materiell am schlechtesten gestellt sind. Bei kinderreichen Familien reichen die Löhne der Eltern nicht aus, um eine solche Familie zu ernähren.

Dem Familienleistungsausgleich gelingt es nicht, das zu kompensieren. Kinder Erwerbsloser leiden unter den zu niedrigen Kinderregelsätzen von Hartz IV. Bei den Eltern geflüchteter Kinder sind die Sprachkenntnisse oft unzureichend oder es fehlt die Anerkennung ihres Berufsabschlusses, weshalb sie das Familieneinkommen häufig noch nicht durch eigene Erwerbsarbeit sichern können.

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Warum gelingt Kindern in Deutschland seltener als in anderen Industrieländern der soziale Aufstieg? Carolin Butterwegge: Das deutsche Bildungssystem übersetzt die soziale Herkunft in Bildungschancen. Auf mehrsprachige Schülerinnen und Schüler ist es schlecht eingerichtet. Erst seit wenigen Jahren wird mehr Wert auf schulische Sprachförderung gelegt. Ein weiteres Problem ist die frühe Selektion. In anderen Ländern werden Kinder bis zur neunten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet, bei uns wird schon in der vierten Klasse ausgesiebt. Dies führt dazu, dass sich an Hauptschulen die Kinder aus sozial benachteiligten und Migrationsfamilien konzentrieren.

Deshalb müssen die Gesamtschulen gestärkt werden. Sie nehmen Kinder jeder Herkunft und Empfehlung auf, und es gelingt ihnen am besten, die Unterschiede nach sozialer Herkunft zu nivellieren. Fast 80 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten von Gesamtschulen verfügten nach der vierten Klasse über keine Empfehlung für ein Gymnasium. Jährlich erhalten in Köln 700 bis 1000 Kinder keinen Platz an einer Gesamtschule, sondern werden auf das gegliederte Schulsystem verwiesen, wo ihre Chancen geringer sind.

Christoph Butterwegge: Auch das Lernklima spielt eine große Rolle. Kindern von Alleinerziehenden, von Eltern im Transferleistungsbezug oder aus Familien mit Migrationshintergrund traut man weniger zu. Insbesondere Gymnasiallehrer kommen häufig aus der Mittelschicht, wohnen in gutbürgerlichen Stadtteilen und sind nicht immer frei von Vorurteilen gegenüber sozial Benachteiligten. Oft hält man den Nachwuchs einer Arzt-Familie für begabter als den einer Familie im Hartz-IV-Bezug. Wiederholt haben die Pisa-Studien belegt, dass die soziale Herkunft in Deutschland über den Bildungserfolg entscheidet.

Das neue Buch

Dr. Carolin Butterwegge ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln; Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat dort von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft gelehrt. Am 18. August ist ihr neues Buch „Kinder der Ungleichheit“ beim Verlag Campus (303 Seiten, Ladenverkaufspreis: 22,95 Euro) erschienen.

Hinzu kommt, dass Bildung immer kommerzieller wird. Zehn Prozent der Schüler und Hochschüler besuchen kostenpflichtige, private Einrichtungen. Carolin Butterwegge: De facto konzentrieren sich im Privatschulsystem die Kinder reicher Eltern, wo sie bessere Rahmenbedingungen vorfinden. Das geht schon bei den bilingualen Kitas los und setzt sich über die Privatschulen fort, die zum Teil sehr hohes Schulgeld verlangen. Dort mangelt es nicht an digitalen Lernmaterialien und Endgeräten, wie sich in der Corona-Krise zeigte. Die Absolventinnen und Absolventen haben wesentlich bessere Chancen im späteren Berufsleben. Da entstehen soziale Parallelwelten.

Sie schreiben, Erbschaften zementierten die Ungleichheit. Warum nimmt das unsere Gesellschaft hin? Christoph Butterwegge: Es gibt offenbar einen heimlichen Konsens zwischen wirklich reichen und Mittelschichtfamilien hinsichtlich der Erbschaftsteuer. Mittelschichtangehörige hegen die Hoffnung, selbst zu erben und sozial aufzusteigen. Deshalb befürworten sie auch eine niedrige oder gar die Abschaffung der Erbschaftsteuer.

Dabei gibt es hohe Freibeträge, die bewirken, dass von der Erbschaftsteuer nicht betroffen ist, wer „Omas kleines Häuschen“ erbt, sondern höchstens, wer ein großes Vermögen übertragen bekommt. Es ist aber keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Multimillionärs zu sein. Die Erbschaftsteuer ist ein Instrument, mit dem der Staat für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen kann.

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In Köln werden mehr Kita-Plätze für die Kleinsten benötigt. (Archivfoto)

Was kann der Staat gegen Kinderarmut tun? Christoph Butterwegge: Das materielle Wohlergehen der Kinder hängt stark vom Einkommen der Eltern ab. Für arme Familien wäre es wichtig, dass der Mindestlohn schnell auf mindestens 13 Euro steigt. Vom jetzigen Mindestlohn, der 9,60 Euro brutto pro Stunde beträgt, kann man selbst bei Vollzeittätigkeit keine Familie ernähren. Zudem muss der Sozialstaat alle Familien verlässlich absichern. Von den Kinderregelbedarfen bei Hartz IV kann man kein Kind gesund ernähren, anständig kleiden und ihm eine gute Bildung ermöglichen.

Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche sollte man zu höheren Steuerzahlungen heranziehen, denn Armutsbekämpfung kostet sehr viel Geld, das man etwa für eine bessere Ausstattung von Kitas und Schulen braucht.

Carolin Butterwegge: Ein kostenloses Mittagessen für alle Kinder in Ganztagseinrichtungen wäre sinnvoll. Wer morgens hungrig in die Schule kommt, weil es zu Hause kein Frühstück gab, kann sich schlecht konzentrieren. An dieser Stelle könnte mit mehr Steuergeld schnell etwas verbessert werden.

Kinder in einer Kita (Symbolbild)

Kinder in einer Kita (Symbolbild)

Corona hat manche Probleme verdeutlicht. Richtig? Carolin Butterwegge: Kindern sozial benachteiligter Familien fehlten zu Beginn der Pandemie häufig digitale Endgeräte. Es mangelte an einem Internetzugang, einem Tablet und/oder einem Drucker. Ohnehin haben viele Arme eine größere Distanz zur Schule und sind für Lehrkräfte schwerer zu erreichen. Teilweise sind Schüler ganz aus dem Blickfeld geraten und haben den Anschluss verloren.

Bei Familien, in denen Sprachbarrieren dazukamen, war es noch schwieriger. Auch viele Dinge, die im Ganztag erfolgen, sind ausgefallen. Und bei vielen Kindern mit einer anderen Familiensprache haben sich die Deutschkenntnisse zurückgebildet. Das alles muss aufgearbeitet, verbessert und nachgeholt werden.

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