Leere Kölner PhilharmonieVom neuen Leben im Paradox

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Berlioz in gähnender Leere: Das Gürzenich-Orchester unter Sylvain Cambreling beim Dienstag-Abokonzert in der Kölner Philharmonie

Berlioz in gähnender Leere: Das Gürzenich-Orchester unter Sylvain Cambreling beim Dienstag-Abokonzert in der Kölner Philharmonie

Köln – Orchesterproben finden üblicherweise – Ausnahmen sind als solche ausgewiesene öffentliche Proben – im leeren Saal statt. Aber am Dienstagabend war die Situation eine andere: Das Gürzenich-Orchester hatte in der Kölner Philharmonie vor unbesetzten Reihen keine Probe, sondern einen regulären Auftritt – es spielte das dritte und letzte Konzert im Rahmen der aktuellen Abo-Sequenz.

Ein Konzert ohne Publikum? Nicht ganz, die Vorführung wurde immerhin für den Live-Stream des Gürzenich-Orchesters aufgenommen – und damit für ein unsichtbares, weil getrenntes entferntes Online-Publikum. Andernfalls hätte man das Konzert zweifellos ausfallen lassen – weil die angesichts des umlaufenden Coronavirus amtlich festgelegte Grenzzahl der tausend Besucher unweigerlich überschritten worden wäre.

So oder so bleibt die Situation denkwürdig, besser: gespenstisch genug: In einer konstitutiv auf Resonanz, auf wechselseitige Wahrnehmung und Bestätigung hin angelegten Situation agiert einer der Partner in einen echolosen Raum hinein. Rechnete sich die Neue Musik einst die leere Estrade – und damit ihre Daseinsform als „Flaschenpost“ (Adorno) – im Sinne eines Qualitätssiegels zu, so wäre es absurd, Ähnliches für eine Agenda zu formulieren, in deren Zentrum der französische Klassiker Hector Berlioz steht. Nein, es ist der Mainstream, der hier erzwungenermaßen ins Leere läuft.

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Darf man sich dabei erinnert fühlen an Camus’ Definition des Absurden – das ihr zufolge entsteht aus der Konfrontation des Menschen, der fragt, mit einer Welt, die vernunftwidrig schweigt? Nun ist das Fehlen der Zuhörer bei besagtem Abokonzert – sozusagen die Anwesenheit ihrer Abwesenheit – durchaus ja noch rational zu erklären. In einem anderen Corona-affinen Fall aber aber stoßen wir an die Grenze zum offenen Paradox: Wie aus der Pressestelle von KölnMusik zu hören ist, macht die Philharmonie jetzt für ein Konzert gezielt Anti-Werbung – nicht etwa, weil sie es verhindern, sondern weil sie es unbedingt stattfinden lassen möchte.

Es geht um die Aufführung der Johannespassion durch das Japanische Bach-Collegium unter Masaaki Suzuki am kommenden Sonntagabend. Damit die Aufführung steigen kann, muss die Besucherzahl wie gehabt unter 1000 gedrückt werden (weil das bei den beliebten Lunch-Konzerten aussichtslos erscheint, sind diese bis auf weiteres abgesagt). „Risikopublikum“ – alte Menschen, Musikfreunde mit Vorerkrankungen – soll jetzt, wie zu hören ist, vom Besuch der Philharmonie abgeraten werden.

Nicht von solchen Einschränkungen betroffen sind Kammerkonzerte und andere von Haus aus schwächer frequentierte Formate. Auch dies ein Paradox: Ausgerechnet die Tatsache, dass etwas von Haus aus nicht das allergrößte Interesse findet, ist in diesen Tagen eine Überlebensgarantie.

Verschärft auftretende lebensweltliche Paradoxien sind indes nur ein Symptom des um sich greifenden Ausnahmezustandes. Mit einem Krieg, in dem – sei es wegen wegbrechender Ressourcen oder aus Angst vor Luftangriffen – Konzertsäle, Theater, Kinos geschlossen werden, ist er nicht gleichzusetzen. Während der Krieg – und zumal der mit den heutigen Vernichtungskapazitäten geführte – auch die Zivilbevölkerung absoluter Lebensgefahr aussetzt, haben selbst Corona-Infizierte statistisch gesehen gute Chancen, völlig ungeschoren davon zu kommen. Allemal bemerken wir aber den verlustreichen Einbruch in etablierte Selbstverständlichkeiten.

Das Konzert, das hören zu können doch „eigentlich“ zum verbrieften Anspruchsrepertoire gehört; der schon lange geplante Kinobesuch eines Oscar-Films; das gemütliche Abendessen mit Freunden beim Lieblingsitaliener – all das geht auf einmal nicht mehr. Das Schmieröl für ein interessantes, abwechslungsreiches, erlebnisgesättigtes Wohlstandsleben verklebt auf einmal, trocknet aus. Und das, was fehlt, merken es erst, wenn und weil es fehlt.

Die Erfahrung könnte zu Bescheidenheit anregen – und zum Gedenken an diejenigen, die in einer zutiefst gespaltenen Weltgesellschaft all diese zivilisatorisch-kulturellen Segnungen auch in „normalen“ Zeiten entbehren müssen. Wäre die Krise – von der wir ja wissen, dass sie vorübergeht – überhaupt für ein und sei es fiktives mentales Erziehungsprogramm zu nutzen? Etwa im Sinne eines Nachdenkens über die Frage, wie sich auch ohne Kino, Theater, Konzert und Restaurant-Cuisine sinnhaltig leben ließe.

Absagen und Alternativen

Das Beethovenfest vom 13. bis 22. März mit zehn Veranstaltungen in Bonn ist abgesagt.

„Disney in Concert – Dreams Come True“ wird von März auf einen Ersatztermin im September verschoben. Tickets behalten ihre Gültigkeit.

Die italienische Sängerin Gianna Nannini wird am 12. März , 16 Uhr, ein Konzert im Instagramlivestream (@officialnannini) gegen die „Corona-Einsamkeit“ bei ihr Zuhause geben.

Die Verleihung des Grimme-Preises am 27. März in Marl findet nicht statt.

Die Premiere des von Oscar-Preisträger Christoph Waltz inszenierten „Fidelio“ am kommenden Montag in Wien ist abgesagt. Die geplante TV-Aufzeichnung findet trotzdem statt.

Nicht nur die Lit.Cologne, sondern auch die Leipziger Buchmesse fällt aus. Unter dem Hashtag #LeiderNichtLeipzig findet man Buchvorstellungen und Signierstunden, die dennoch stattfinden. Die Bekanntgabe des Buchpreises findet Donnerstagvormittag im Deutschlandfunk Kultur statt, und die ARD organisiert eine „virtuelle Buchmesse“ mit Autorengesprächen – live im Radio und im Netz.

Frühzeitig schließt die Kunstmesse Tefaf in Maastricht.

Die beiden Pariser Madonna-Konzerte sind abgesagt worden. (jmr)

Dabei ginge es, angesichts erzwungener Immobilität naheliegend, vor allem um die Ergiebigkeit einer Existenz in den eigenen vier Wänden. Das literarische Urmodell für die Erfahrung, wie aus Enge Weite, wie der erzwungene Verzicht die Kreativität stimuliert, ist immer noch Boccaccios Novellenzyklus „Decamerone“, der als Überlebensmittel das Erzählen thematisiert – auf der Flucht nicht vor Corona, sondern vor der Pest. Und wer selbst keine Novellen erfinden kann, könnte in diesen Tagen zumindest dies tun: einmal das „Decamerone“ lesen.

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