Interview mit Maria Schrader„Bis vor fünf Jahren waren tägliche Chauvinismen normal“

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Maria Schrader beschäftigt sich in ihrem aktuellen Kinofilm mit sexuellem Missbrauch.

Maria Schrader beschäftigt sich in ihrem aktuellen Kinofilm mit sexuellem Missbrauch.

Die Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader spricht im Interview über ihren neuen Film "She Said", die Enthüllungen rund um Harvey Weinstein und die nächste Oscar-Gala.

Frau Schrader, Sie haben als Regisseurin der Serie „Unorthodox“ den Emmy gewonnen. Ihre Filme „Vor der Morgenröte“ über Stefan Zweig und die Roboterromanze „Ich bin dein Mensch“ wurden gefeiert. Trotzdem schreiben Sie als Berufsbezeichnung immer noch Schauspielerin. Wieso?

Das ist ein Automatismus. Ich habe gespielt, seit ich 16 bin. Ich habe nur eine Ausbildung, die als Schauspielerin. Es ist mir einfach zu anstrengend, zwei Berufe zu nennen. Würde ich nur Regisseurin schreiben, hieße das ja, dass ich keine Schauspielerin mehr bin, das wäre traurig. Allerdings habe ich jetzt wirklich viel zu lange nicht mehr gespielt.

Wann waren Sie zuletzt als Darstellerin zu sehen?

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Das war bis 2020 in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Hamburger Schauspielhaus zusammen mit Devid Striesow – bis der erste Corona-Lockdown uns alle ereilt hat. In den vergangenen Jahren hatte ich schöne Angebote als Schauspielerin, leider habe ich nie Zeit. Aber ich möchte mich von diesem Beruf nicht verabschieden. Ich möchte Schauspielerin bleiben.

Jetzt haben Sie einen Film inszeniert, auf den die Welt genau schaut: In „She Said“ geht es um die Aufdeckung der sexuellen Verbrechen von Harvey Weinstein. Wieso beauftragt Hollywood eine deutsche Regisseurin sowie eine britische Drehbuchautorin mit diesem Thema – und niemanden aus den eigenen Reihen?

Ich könnte die Frage jetzt an die Produzenten weitergeben. Sie haben mich schließlich kontaktiert. Wollen Sie ihre Telefonnummer haben? (lacht) Ich glaube, dass meine Netflix-Serie ausschlaggebend war. „Unorthodox“ war in Nordamerika sehr erfolgreich, und die US-Kinoindustrie ist immer hungrig. Sofort nach der Veröffentlichung meldeten sich bei mir eine ganze Reihe von amerikanischen Produzenten. Auch die britische Drehbuchautorin Rebecca Lenkiewicz war in Hollywood eine gute Bekannte. Zudem gibt es zwischen „Unorthodox“ und „She Said“ eine inhaltliche Verwandtschaft.

Welche?

Es geht bei beiden Projekten um etwas sehr Privates und Intimes – bei „Unorthodox“ um dysfunktionale Sexualität in einer viel zu frühen Ehe und den Erwartungsdruck der Gesellschaft an eine junge jüdische Frau, bei „She Said“ um sexuelle Gewalt in Abhängigkeits- und Arbeitsverhältnissen.

Wieso fanden sich keine amerikanischen Filmemacherinnen?

Man könnte die Frage andersherum stellen: Wieso sollte die Nationalität von größerem Gewicht sein als die künstlerische Arbeit? Es geht doch um die Suche nach inhaltlicher Partnerschaft und Inspiration. Aber sicherlich war es auch ein Vorteil, dass Rebecca und ich als garantiert unbefangen galten. Mit Hollywood hatte ich nie etwas zu tun und schon gar nicht mit Harvey Weinstein. Damit hatten wir einen ähnlichen Ausgangspunkt wie die „New York Times“-Reporterinnen Jodi Kantor und Megan Twohey, von denen wir in unserem Film erzählen.

Wie meinen Sie das?

Die beiden kamen ja auch von außen und hatten keinerlei Verbindung zu Hollywood, als sie gegen alle Widerstände mit ihren Recherchen über den Miramax-Studioboss Harvey Weinstein begannen. Auch sie sahen darin genau wie wir nicht nur den individuellen Fall, sondern etwas Universelles. Nach ihren Veröffentlichungen im Oktober 2017 wurde Weinstein zu einer globalen Symbolfigur: Ein Mann in hoher Position missbraucht seine Macht. Alle wussten oder konnten jedenfalls wissen, dass Weinstein kein Einzelfall war.

Heute wissen alle Bescheid über Harvey Weinstein. Wer damals was genau wusste, darüber möchte ich gar nicht spekulieren.
Maria Schrader

Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie 2017 von Weinsteins sexuellen Verbrechen erfahren haben?

Gerüchte über sein Verhalten waren schon zuvor bis in die deutsche Filmbranche gedrungen. Gleichzeitig kann ich mich aber auch noch gut daran erinnern, dass Miramax ein bewundertes Label war, das mit Filmen wie „Shakespeare in Love“, „Der englische Patient“ oder „Pulp Fiction“ Oscars abräumte. Ich zählte damals zum Kreis der Berliner Produktionsfirma X Filme, die meine Filme „Stille Nacht“, „Meschugge“ und „Vor der Morgenröte“ produziert hat. Miramax war für uns ein leuchtendes Beispiel für anspruchsvolle Filme. Umso schockierender war, was die „New York Times“ zutage förderte. Heute wissen alle Bescheid über Harvey Weinstein. Wer damals was genau wusste, darüber möchte ich gar nicht spekulieren.

Was bewirkten die Weinstein-Enthüllungen in Deutschland?

Sie lösten ein unmittelbares Echo aus, so wie in vielen anderen Ländern. Auch ich bekam viele Nachfragen von Journalisten. Sogleich begann eine Art Wettlauf darum, den deutschen Harvey Weinstein zu outen. Bald waren sich alle einig, dass dies der inzwischen gestorbene Regisseur Dieter Wedel war. Skandalös war es aber in meinen Augen, wie lange es dauerte, bis der Prozess gegen ihn endlich begann.

Warum ist es wichtig, fünf Jahre danach auf die Enthüllungen zu blicken?

Unser Film berichtet davon, was diese beiden Journalistinnen dazu gebracht hat, in allen möglichen Industrien, also nicht nur in der Kinobranche, nach Fällen von Machtmissbrauch zu suchen. Der Film erzählt auch gar nicht von den eigentlichen Anfängen von #MeToo. Den Anstoß zu der Bewegung gab es Jahre zuvor, 2006 initiierte die Menschenrechtsaktivistin Tarana Burke diesen Slogan. Tatsächlich lösten aber erst die „New York Times“-Veröffentlichungen 2017 eine regelrechte Revolution aus. Da brach sich viel Wut Bahn, was gewiss auch mit vorangegangenen Frustrationen zu tun hatte.

Harvey Weinstein, Filmproduzent aus den USA, verlässt die Verhandlung im Prozess wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung an einem New Yorker Gericht.

Harvey Weinstein, Filmproduzent aus den USA, verlässt die Verhandlung im Prozess wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung an einem New Yorker Gericht.

Was hat diese Wut verursacht?

Ein halbes Jahr vorher hat die Wahl von Donald Trump zu Frustration und Wut geführt. Trotz der Veröffentlichung des „Access Hollywood Tapes“ und verschiedener Aussagen zu sexuellen Übergriffen wurde er Präsident. Aber es geht noch viel weiter zurück, der Film deutet das an. Was bedeutet es, als Frau in einer männerdominierten Welt aufzuwachsen und von patriarchalen Strukturen bestimmt zu arbeiten? Die meisten Frauen in meinem Umkreis, wohl in der westlichen Welt überhaupt, tragen vermutlich ihre eigenen Erlebnisse mit sich herum.

Können Sie das konkretisieren?

Erinnern wir uns doch mal: Bis vor fünf Jahren wurden tägliche Chauvinismen als normal angesehen. Wohl jede Frau weiß von kleinen, unangenehmen Situationen zu berichten. Das Spektrum war groß und fing bei verbalen Sexismen oder der Bewertung von reinen Äußerlichkeiten an. Für Frauen meiner Generation war die Objektifizierung noch völlig normal – in der Werbung, am Arbeitsplatz oder in persönlichen Begegnungen. Die Graubereiche waren uferlos. Erst #MeToo hat geholfen, Grenzen zu ziehen. Die Bedeutung des Begriffs „sexuelle Belästigung“ wurde neu definiert. Erst jetzt versuchen wir auf breiter Ebene, Menschen davor zu schützen.

Sie treten gewissermaßen im Namen der Frauen an: Haben Sie bei dem Film besonderen Druck verspürt?

Jedes Regieprojekt steht unter Druck und triggert Ängste. Bei „She Said“ haben wir alle eine besondere Verantwortung gespürt. Das fing schon damit an, dass wir ausnahmslos Menschen porträtieren, die unter uns leben. Die Journalistinnen Megan und Jodi gewährten uns Zutritt zu ihren Familien und ihrem Gefühlsleben. Aber auch die betroffenen Frauen im Weinstein-Umfeld haben uns einen unglaublichen Vertrauensvorschuss gegeben.

Verfolgen Sie eine Mission?

Wir sehen das erste Mal zwei weibliche Reporter im Zentrum eines Journalistenthrillers. Sie sind Profis, Mütter, sie sind bewundernswert und Kinoheldinnen, auch deswegen, weil sie ihr Ziel erreichen, und doch sind sie normale Menschen. Ihre Zeuginnen haben den Mut gehabt, erst in den Medien und nun in einem Spielfilm zur öffentlichen Figur zu werden – und ein Spielfilm ist etwas ganz anderes als ein Artikel oder ein Sachbuch. Diese wenigen Frauen haben mit ihren Aussagen Jodis und Megans Artikel möglich gemacht und damit die Welt verändert.

Können Sie nachvollziehen, wie Frauen in Weinsteins Umgebung in Gefahr gerieten?

Zu Beginn der Karriere geht für junge Menschen vom Filmgeschäft ein Zauber aus. Sie träumen davon, in dem Metier zu arbeiten und Karriere zu machen. Das habe ich selbst so erlebt. Dann kriegen sie den ersten Job, es fühlt sich an wie das große Los. Die ehemaligen Assistentinnen, die sich Jodi und Megan anvertrauten, trafen, kaum älter als 20, auf Weinstein, und ihr Leben nahm dann eine ganz andere Wendung. Es ist so schlimm, was zerstört wurde. Da hilft es wenig, das Weinstein inzwischen zu 23 Jahren Haft verurteilt worden ist und gerade zum zweiten Mal in Los Angeles vor Gericht steht. Im Film fällt die rhetorische Frage: „Wie viele Harveys sind wohl noch da draußen?“ Wie viele sind es? Die Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey wollten die Wahrheit über Harvey Weinstein herausfinden. Sie stießen auf ein System von Komplizenschaft, Abhängigkeiten und Angst. Wo immer steile Hierarchien herrschen, ist die Gefahr groß, dass es zu ähnlichen Schweigekartellen kommt.

Sie werden inzwischen als Oscarkandidatin gehandelt: Lust oder Last?

In erster Linie bin ich glücklich, dass dieser Film ein Echo zu finden scheint und genauso Diskussionen wie Emotionen freisetzt. Hoffentlich macht er Mut. Es ist mir wichtig, dass man ein größeres Verständnis dafür bekommt, warum es so schwierig für Frauen war und immer noch ist, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Ich möchte, dass das anders wird. Außerdem sieht man zwei großartige Reporterinnen bei der Arbeit. Ihre Story ist ein beeindruckendes Zeugnis dafür, wie einflussreich Journalismus sein kann.

Und was ist mit den Oscars?

Als Europäerin sind Filmpreise für mich ein Spiel, eine Ehre und ein Fest mit allen anderen, nachdem die Filme im Kino waren. In Hollywood dagegen sind die Oscars ein Werkzeug für Promotion und Erfolg. Alles scheint sich schon darum zu drehen, bevor die Filme überhaupt ins Kino kommen. Mit „Vor der Morgenröte“ und „Ich bin dein Mensch“ war ich schon zweimal im Rennen um den Auslands-Oscar, aber das war eine ganz andere Kategorie. Jetzt staune ich, finde das alles interessant und versuche, es trotzdem immer wieder als Spiel zu betrachten. Das Gespräch führte Stefan Stosch

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