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Tartu wird europäische KulturhauptstadtMassenküssen in Zeiten des Krieges

Lesezeit 5 Minuten
Der Marktplatz von Tartu im Süden Estlands. Im Vordergrund steht in großen roten Buchstaben #TARTU2024

Tartu im Süden Estlands wird in schwierigen Zeiten europäische Kulturhauptstadt.

Tartu, zweitgrößte Stadt Estlands, wird 2024 Europäische Kulturhauptstadt und steht vor großen Herausforderungen.

Manchmal können vier Jahre eine Ewigkeit sein. 2019 wurde bekannt, dass Tartu, die zweitgrößte Stadt Estlands, im Jahr 2024 eine von drei Europäischen Kulturhauptstädten wird. „Arts of Survival“ - die Kunst des Überlebens - war das Motto, das die Organisatoren damals präsentierten. Viele große, drängende Fragen wollten sie damit verknüpfen, vor allem die eine: Wie begegnen wir dem Klimawandel? 

Doch heute, im Jahr 2023, im Schatten eines Krieges, den der große Nachbar Russland durch seinen Überfall auf die Ukraine begonnen hat, geht es plötzlich um das konkrete Überleben in dieser Bedrohungslage. Was kann die Europäische Kulturhauptstadt leisten in einem Land, in dem die Regierung die Steuern erhöht, um das Militär zu verstärken und alle den Blick nach Osten richten? 

Lemmit Kaplinski, Vorsitzender des Stadtrats von Tartu, ist überzeugt, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt für Kultur ist. Wissenschaft sei zuständig für eindeutige Aussagen, Kultur sei das genaue Gegenteil, biete Möglichkeiten, ins Gespräch zu kommen. Darauf hoffen sie in Tartu, darin haben sie eine lange Tradition.

Estland ist ein Paradies für Start-ups

Ihre Universität, 1632 vom schwedischen König Gustav II. Adolf gegründet, hat viele renommierte Forscherinnen und Forscher hervorgebracht und einen maßgeblichen Anteil daran, dass Estland ein Paradies für Start-ups ist. Das Land hat zehn Einhörner hervorgebracht, also Unternehmen, die mit mindestens einer Milliarde Euro bewertet werden.

Doch der Krieg hat auch Auswirkungen auf die Universität. Ein Drittel weniger ausländische Studierende kommen wegen Sicherheitsbedenken in die Stadt. Und unter den eine Million Besucherinnen und Besucher, die man mit der Kulturhauptstadt anziehen will, wird niemand aus Russland sein, wie sie ursprünglich hofften, schließlich ist die Grenze nicht weit entfernt.

24 Millionen Euro wird das Kulturhauptstadt-Jahr kosten, zehn Millionen kommen von der Regierung, den Rest geben die Stadt und die umliegenden Gemeinden. Viel Geld in einer Zeit, in der viele Menschen Angst vor dem Winter haben, weil sie hier, im kalten Nordosten Europas, nicht wissen, ob sie es sich leisten können, ausreichend zu heizen. 

Doch für das kleine Land mit nur knapp so vielen Einwohnern wie München geht es beim Titel Europäische Kulturhauptstadt um mehr als nur um einige schöne und spannende Aktionen wie das Massenküssen-Event „Kissing Tartu“ mit Conchita Wurst, das Sauna-Debattenfestival „Naked Truth“ oder ein Theaterstück über den riesigen Geldwäsche-Skandal um die Danske Bank in Estland.

Estland ist auf der Suche nach seiner Identität

Estland, seit 1991 unabhängig, ist auf der Suche nach seiner Identität. Das kleine baltische Land wurde so lange von Russland beherrscht und beeinflusst, dass Abgrenzung für viele Esten gerade jetzt immer wichtiger wird. Aber wie soll das gelingen in einem Land, in dem viele Einwohner ihre Wurzeln in Russland haben?

Die Zerrissenheit der Esten lässt sich vielleicht nirgendwo besser verstehen als im 200 Kilometer von Tartu entfernten Narva. Estlands drittgrößte Stadt liegt ganz im Nordosten des Landes, der gleichnamige Fluss trennt Narva in einen estnischen und einen russischen Teil. Gut 95 Prozent der Menschen hier sind russischstämmig, die meisten sprechen gar kein Estnisch. 

Russlands Angriff auf die Ukraine hat diese Stadt nicht nur im übertragenen Sinne gespalten, die Grenze ist zu. Aber man sieht vom estnischen Ufer des Flusses die russische Flagge im Wind auf der Festung Iwangorod wehen. St. Petersburg ist von hier aus näher als die estnische Hauptstadt Talinn.

Katri Raik sagt, hier liege der Anfang Europas, nicht das Ende. Die 56 Jahre alte promovierte Historikerin, die auch schon Innenministerin ihres Landes war, liebt Narva. Bis vor wenigen Monaten war die Sozialdemokratin Bürgermeisterin, dann stürzte sie über einen Streit über die Umbenennung einiger Straßen mit sowjetischen Namen, die der Stadtrat beschlossen hatte. Eine neu gebildete „Narva Gruppe“ initiierte ein Misstrauensvotum gegen sie. Sie wurde abgesetzt. Als vergangenes Jahr ein sowjetischer Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg abgebaut und in ein Museum gebracht wurde, gab es große Proteste.

Die Hälfte der 56000 Einwohner der Stadt sei nicht in Estland geboren, viele hätten keine Verwandten in anderen Teilen des Landes, sondern nur in Russland. Eine estnische Redewendung wiederum besagt: Alles Schlechte kommt aus dem Osten. Wie passt das zusammen? 

Sprache, Sprache, Sprache. Die estnische Identität ruht auf der estnischen Sprache.
Katri Raik, Historikerin und Politikerin

Für Katri Raik gelingt der Weg zur nationalen Einheit nur über eines: „Sprache, Sprache, Sprache. Die estnische Identität ruht auf der estnischen Sprache.“ Aber es gibt nur eine knappe Million Muttersprachler. Um die Sprache zu stärken, verabschiedete das Parlament im Dezember 2022 ein Gesetz, mit dem Estnisch schrittweise zur einzigen Unterrichtssprache werden soll. Bisher gibt es auch russischsprachige Schulen. Die Übergangsphase soll von 2024 bis 2030 dauern.

Mikhail Komashko, Redakteur beim russischsprachigen Programm des estnischen Rundfunks ERR in Narva, sagt, russischsprachige Esten fühlten sich diskriminiert und unter Generalverdacht gestellt: „Sogar, wenn man Estnisch lernt, stößt man an eine gläserne Decke.“ Gleichzeitig bestätigt er, dass die Gräben in der Gesellschaft durch die Sprachbarriere entstehen.

Lemmit Kaplinski bestätigt, wer kein Estnisch spreche, habe keine Aufstiegschancen. Aber er ist auch überzeugt: „Wir nehmen euch nichts weg, wir helfen euch dabei, stolze Esten mit russischem Background zu werden.“ Katri Raik findet es deshalb richtig, das Schulsystem umzustellen, auch in Narva. Aber wie soll das gehen in Regionen wie der ihren, wo es gar nicht die Lehrkräfte gibt, um das umzusetzen? Wie soll die hohe Qualität der Schulbildung, die 2018 zu einem europäischen Spitzenplatz in der Pisa-Studie führte, gesichert werden? 

Sich als eine Nation zu fühlen, sei auch in der aktuellen Lage, in der die Bedrohung durch Russland von den meisten Esten als allgegenwärtig empfunden wird, wichtig, sagt Kaplinski und macht Parallelen zur Ukraine auf: „Der Wille zu kämpfen ist eine Folge davon, dass man ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat.“

2024 wird kein leichtes Jahr für die Europäische Kulturhauptstadt Tartu werden. Aber es bietet auch eine große Chance: Zwischen der Suche nach Identität, der Angst vor Russland und der Lust darauf, sich zu präsentieren, kann die Kultur zeigen, dass sie zu so viel mehr fähig ist als nur zu unterhalten.