„Ein schöner Land“Warum der Grünen-Spot besser ist, als alle glauben

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Szene aus „Ein schöner Land“, dem Spot der Grünen zur Bundestagswahl  

Szene aus „Ein schöner Land“, dem Spot der Grünen zur Bundestagswahl  

Köln – Kennen Sie dieses superangenehme Kribbelgefühl auf der Haut, das sich vom Hinterkopf bis in die Schultern zieht? „Tingles“ nennt man dieses Kribbeln auf Englisch, oder, technischer, Autonomous Sensory Meridian Response, kurz ASMR. Auf Youtube finden sich Tausende, oft stundenlange Videos, in denen Menschen flüstern, mit Papier knistern oder mit der Handfläche über eine Drahtbürste streichen.

Was ASMR-Clips mit dem neuem Wahlkampf-Spot der Grünen verbindet, in dem das 180 Jahre alte Volkslied „Kein schöner Land“ auf Tagesaktuelles oder auch nur diffus Gefühliges umgedichtet und von einem sorgfältig ausgewählten Schnitt durch die deutsche Bevölkerung gesungen wird? Haben Sie bitte noch ein wenig Geduld, wir kommen gleich darauf zurück.

Die Grünen haben ein geiles Cringe-Video produziert

Ebenfalls sehr beliebt auf Youtube sind nämlich sogenannte Cringe-Videos. „To cringe“, das kann man mit „erschaudern“ übersetzen. Freilich ist es kein wohliger Schauder wie im Fall von ASMR, sondern eher jenes innere Zusammenzucken für das es das schöne deutsche Wort „fremdschämen“ gibt.

Alles zum Thema Annalena Baerbock

Aber warum bloß schauen sich Menschen freiwillig Fremdscham-Videos an? Um besser mit den eigenen Blamagen zurechtzukommen. Cringe, das ist Empathie aus Selbsthass: Wir können etwas nur dann als peinlich empfinden, wenn wir den gesellschaftlichen Kontext verstehen oder uns selbst in diesem Kontext vorstellen können. Machen sich andere stellvertretend für uns zum Affen, wirkt der Fremdscham-Schauder wie eine Art Sozial-Massage.

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Über den „Ein schöner Land“-Werbespot überschlug sich, kaum dass er veröffentlicht worden war, eine Tsunamiwelle aus Spott und Hohn. Das häufigste Urteil: peinlich, zum Fremdschämen, eben cringe.

Die Klischees reihen sich im Spot denn auch gnadenlos aneinander. Grillende Boomer, friedensbewegte Pfarrer, Migranten in Ausbildungs- und Frauen in MINT-Berufen, dazu fröhliche iPad-Senioren. Dann die ungelenken Reime: „Müssen uns’re Erde wahr’n/ Fürs Leben wird es hier zu warm“, oder „Anschluss an Straße, Bus und Bahn/ Und natürlich auch W-Lan“.

Schließlich Sarah Wiener, die in völliger Melodieverweigerung mit Grabesstimme „und meine Farm“ brummt. Einzig das Ende des Clips, in dem sich Robert Habeck und die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock nur zu sprechsingen trauen, statt sich in selbstbewusster Schieflage ihren sangesunkundigen Normalbürgern anzuschließen, unterläuft die Erwartungen der Twitter-Kommentatoren.

Fremdschämen über uns selbst ist so etwas wie deutsche Staatsreligion

Dieses Gesamtpaket lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Das „Ein schöner Land“-Video ist kein weiterer Stolperer in Baerbocks ziemlich verkorkstem Wahlkampf, sondern exakt so gemeint, wie es im Netz angekommen ist: Als ein Panoptikum der Peinlichkeiten, als geiles, zweiminütiges Cringe-Video. Denn soziales Unwohlsein eint. Wenn sich Deutsche auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen können, dann auf das endlose Zitieren von Loriot-Sketchen. Und was hat Loriot anderes gemacht, als die Deutschen als im Grunde liebenswerte Fremdschämsubjekte zu inszenieren?

Ha, genau so sind sie!, riefen die Deutschen beim Anblick der von Bülow’schen Spießbürger aus – und meinten damit stets sich selbst. Zwei Touristenfamilien, die sich an zwei benachbarten Tischen in einer toskanischen Trattoria jeweils ein halb empörtes „Schau mal: Deutsche“ zuraunen, das beschreibt unser nationales Selbstbild doch ganz gut.

„(K)ein schöner Land in dieser Zeit“ eignet sich übrigens aus einer Vielzahl von Gründen besonders gut zur grünen Verwurstung: Weil jeder die Melodie kennt. Weil so gut wie jeder denkt, es handele sich um ein patriotisches Stück, während es sich tatsächlich, schreiben Waltraud Lindner-Beroud und Tobias Widmaier im „Historisch-kritischen Liederlexikon“, um ein Loblied auf freundschaftliche Zusammenkünfte an Sommerabenden in freier Natur handelt. Die grillenden Boomer haben es also genau erfasst.

Nackensteaks und Maiskolben in geselliger Runde auf dem Rost zu wenden, diesem Webergrill-Patriotismus dürften den sich selbst Fundis problemlos anschließen können.

Auch die Diskursrocker Blumfeld hatten ähnlich viel Mut zur Peinlichkeit

Zudem trägt das vom Waldbröler Heimatschriftsteller Anton Wilhelm von Zuccalmaglio komponierte Volkslied eine lange Vorgeschichte ökologisch bewusster Adaptionen mit sich: Die den Städten entfliehende Wandervogelbewegung hat es zu Anfang des 20. Jahrhunderts populär gemacht. In den Nachkriegsjahren entstanden – neben der unvermeidlichen Heino-Interpretation – Versionen vom linken Liedermacher Dieter Süverkrüp, vom Folk-Duo Zupfgeigenhansel und der Folkrock-Gruppe Ougenweide.

In deren ehemaligen Proberäumen nahmen die Diskursrocker von Blumfeld ihr letztes Album „Verbotene Früchte“ auf, in dem sie mit viel Mut zur Peinlichkeit von Apfelmännern und Schmetterlingsflügeln sangen. Das löst beim Hörer bis heute ein gar nicht so unangenehmes Kribbeln zwischen Cringe und ASMR aus.

Und von diesen verbotenen Früchten naschen nun auch die Grünen. Bis jetzt sind wir Deutschen mit unserer Fremdscham doch ganz gut gefahren. Die Energiewende stemmen wir locker aus dem Eigenheimgarten heraus: „Die richtigen Sachen, lass sie uns machen, oh yeah.“

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