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„Synonym für ein dysfunktionales Land“Wie das Bahn-Chaos den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet

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Auf der Strecke geblieben: Die Bahn gilt als kaputtgespart und marode. . Florian Gaertner

Auf der Strecke geblieben: Die Bahn gilt als kaputtgespart und marode. . Florian Gaertner

Während die Führungskräfte Haka tanzen und der Konzern Imagefilme dreht, kam im Juli nur jeder zweite ICE pünktlich. Erste Stimmen warnen, dass die Bahnkrise das Vertrauen in die Demokratie untergrabe. Was muss jetzt passieren?

Wie kaputt das System Bahn ist, merken vor allem jene, die dringend auf einen funktionierenden Betrieb angewiesen sind.

So wie neulich, ICE 611 von Hamburg nach Osnabrück. Der Fahrstuhl zum Gleis: defekt. Davor eine Frau mit zwei Koffern in heller Aufregung. Von hinten schiebt ein Mann einen Rollstuhl heran. „Das gibt es nicht“, japst er, der auf der anderen Bahnhofsseite sei auch kaputt.

Also die Treppe runter, irgendwie, zum Kopfende des Bahnsteiges hetzen. Kurz vor der Abfahrt die allseits beliebte Durchsage: Liebe Fahrgäste, der Zug fährt heute abweichend von Gleis 8.

Panisch strömt die Herde die Treppen hinauf, ein alter Mann steht hilflos mit seinem Gepäck herum, ein anderer quält sich mit Krücken hinauf.

Plumpsen dann alle verschwitzt auf ihre Plätze, geht das Abenteuer Bahnfahren ja erst richtig los. In den nächsten zwei Stunden wird der Zug immer wieder auf freier Strecke halten, eine halbe Stunde Verspätung einfahren, das Gleiche auf der Rückfahrt. Einen Termin mit der Bahn ohne Pufferzeit pünktlich erreichen – fast unmöglich.

Der Bundeskanzler solle mal „mit der Bahn von Berlin nach Köln fahren“

Hunderttausende Fahrgäste finden sich in Deutschland jeden Tag in weiß-roten Zügen zu Schicksalsgemeinschaften zusammen. Ausgesetzt diversen Verspätungen, geänderten Wagenreihungen, ausgefallenen Reservierungsanzeigen, geschlossenen Bordbistros.

Für das Chaos ist ab 1. Oktober erstmals eine Frau verantwortlich, die Südtirolerin Evelyn Palla. Sie soll schaffen, woran in diesem Jahrhundert drei teils egozentrische Männer gescheitert sind.

Mittlerweile hat sich die Krisenstimmung derart tief in die Republik gefressen, dass erste Stimmen warnen, das Vertrauen in die Demokratie stehe auf dem Spiel, wenn die Infrastruktur nicht funktioniere. Das sagte neulich Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann und riet Bundeskanzler Friedrich Merz, er solle doch mal „mit der Bahn von Berlin nach Köln fahren“.

Schon länger grassiert der Eindruck, dass es hierzulande an immer mehr Stellen hakt: Schulen bröckeln, auf Arzttermine wartet man monatelang, starre Gesetze bremsen Unternehmen aus.

Dabei taugt insbesondere die Bahn zum Symbol eines reformbedürftigen Landes. Der Konzern reagiert mit großspurig angekündigten Generalsanierungen, lässt aufwendige Image-Dokus produzieren und seine Topmanager exotische Tänze aufführen.

Was würde wirklich helfen? Und was steht auf dem Spiel, wenn es nicht bald besser wird?

Überraschung: Die neue Bahnagenda setzt Pünktlichkeit an die erste Stelle

Der x-te Neustart bekam dieses Mal keine griffige, sondern eine fast sehnlich klingende Überschrift: „Agenda für zufriedene Kunden auf der Schiene“. So nennt Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) den Ende September vorgelegten ersten Baustein für eine bessere Bahn.

Auf 34 Seiten legt sein Ministerium Prioritäten für den Staatskonzern fest. An erster Stelle die Pünktlichkeit: Bis Ende 2029 sollen mindestens 70 Prozent der Fernzüge ohne größere Verzögerung ankommen. Klingt nicht nach viel, ist aber angesichts eines Julis, in dem fast jeder zweite Zug zu spät war, ein realistisches Ziel.

Ferner soll sich die DB auf das Kerngeschäft konzentrieren, sich von Auslandsbeteiligungen trennen, den Vorstand entschlacken. Transportgesellschaften wie der Fern- und Güterverkehr sollen wirtschaftlich arbeiten. Vor allem soll das Bahnnetz, kontrolliert von der InfraGo, sich stärker am Gemeinwohl orientieren.

Eigentlich Selbstverständlichkeiten, die für einen Konzern mit zig gescheiterten Strategien und aufgeblähter Zentrale eben längst keine mehr sind. Im ersten Halbjahr fuhr die DB einen Verlust in Höhe von 760 Millionen Euro ein.

Die neue Bahnchefin hat nebenbei den Lokführerschein gemacht

Was sich zumindest auf dem Papier schlüssig liest, muss die neue Chefin Evelyn Palla nun umsetzen. Sie hat die historische Chance, die Bahn an ihrem Tiefpunkt wieder in stabile Verhältnisse zu führen – so wie es ihr seit 2022 als Chefin der DB-Regio-Tochter und mit einer Pünktlichkeitsquote von 90 Prozent gelungen war. In Fachkreisen schon länger für den Chefposten gehandelt, trat sie öffentlich bislang zurückhaltend auf.

Dass sie dennoch weiß, sich zu inszenieren, zeigt ihre Ausbildung zur Lokführerin, die sie neben ihrem CEO-Job absolvierte und mit einem Imagefilm dokumentieren ließ. Darin sagt sie anheimelnde Eisenbahnersätze wie: „Das Schwierigste ist tatsächlich das Bremsen, das muss man lange üben. Man spürt die Kraft und Energie des Zuges.“

Ihr Lokführerschein wirkt wie eine hausinterne Immunisierung gegen den von Ex-Gewerkschaftschef Claus Weselsky geprägten Spruch der „Nieten in Nadelstreifen“ im Bahntower.

Doch nicht nur zwischen Management und Belegschaft, auch zwischen Konzern und Kundschaft war zuletzt eine Entfremdung zu beobachten. Im Juni gab die Bahn bekannt, die beliebten Familienreservierungen zu streichen. Es folgten ein Shitstorm und eine Online-Petition, in der mehr als 130.000 Menschen fordern, sie wieder einzuführen.

Kurz darauf kursierte ein Video von einer Führungskräftetagung, in dem Hunderte Topmanager den neuseeländischen Haka-Tanz aufführten und Pünktlichkeit beschworen. O-Ton: „Wir liefern, wir siegen, a, upane! ka upane! Pünktlichkeit und Verlass!“ Gebracht hat der Krafttanz unter Anleitung eines Coaches und Heilpraktikers seither wenig.

Schon ein Jahr zuvor, am medialen Tiefpunkt während der Heim-EM, lachte die halbe Welt über die stolze Ingenieursnation und ihre chronisch unpünktlichen Züge. Wie die Deutschen unter ihrer Bahn litten, bekam nun ganz Europa mit.

Aus dem Bahn- wird ein Politikversagen

Das Verheerende daran: Nicht wenige setzen den Staatskonzern Bahn mit dem Staat an sich gleich. Mit den chronischen Bahnproblemen breitet sich auch das Gefühl aus, es funktioniere immer weniger im Land. Wenn es dem Bund als Eigentümerin nicht gelingt, die Bahn in den Griff zu bekommen – wie soll er dann all die anderen Problem im Land verlässlich lösen?

So verschmilzt die Bahnkrise mit den vielen anderen Infrastrukturkrisen im Land, den maroden Brücken, kaputten Straßen. „Die Bahn ist zum Synonym eines dysfunktionalen Landes geworden“, räumte selbst Verkehrsminister Patrick Schnieder zuletzt in einem „Zeit“-Interview ein.

Die kommenden Bahnjahre, inklusive 100-Milliarden-Sondervermögenspritze, werden deshalb auch zu einer politischen Schicksalsfrage.

Dass Missmanagement und ein verschlissenes Netz verheerende Folgen haben können, zeigt ein Bahn-Untersuchungsbericht, über den die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet. So sollen Mitarbeiter von Vorgesetzten unter Druck gesetzt worden sein, wenn sie auf kaputten Trassen Langsamfahrstellen einrichten wollten. Bahnen dürfen diese Abschnitte nur mit gedrosselter Geschwindigkeit passieren.

Der Bericht suggeriert, dass Sicherheitsbedenken zugunsten von Pünktlichkeitszielen fallen gelassen wurden.

Die Frage ist: Wann schlägt der Galgenhumor, mit dem sich viele im Alltag noch behelfen, endgültig in Wut, Politik- und Bahnverdrossenheit um?

Bei der Imagepflege sollen Dokus helfen - und Anke Engelke

Die Bahn reagierte auf den EM-Sommer unter anderem mit einer siebenteiligen Marketing-Doku („Bahnsinn Riedbahn“) über die Generalsanierung der Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim. Komplettsperrung und umfassende Reparaturen von Bahnhöfen, Weichen und Gleisen sollen sicherstellen, dass viel befahrene Strecken über Jahre ruckelfrei bleiben.

Für den Film ließ sich die Konzernkommunikation auf der Bühne der Hamburger Marketingmesse OMR feiern. Dieser Tage startet schon die nächste DB-Webserie mit Anke Engelke.

Das hehre Ziel, 42 solcher Generalsanierungen bis 2030 zu schaffen, wurde derweil wieder einkassiert. Die Riedbahnsanierung wurde teurer als geplant – die derzeitige Überholung der Strecke Hamburg–Berlin abgespeckt.

Dabei zeigen rund eine Million Abrufe der ersten Doku-Folge auf YouTube, dass sich die Bahn auf das Interesse der Deutschen an ihrem größten Staatskonzern verlassen kann.

Fast wirkt es, als sei die Bahn neben dem Fußball einer der wenigen verbliebenen Kittstoffe, die das Land zusammenhalten. Jeder hat eine Verspätungsgeschichte zu erzählen, im ICE leiden und schimpfen alle zusammen. Bahnmeckern als Volkssport. Dabei würden die Deutschen ihre Bahn ja gern liebhaben – wenn es der Konzern ihnen nur nicht so schwer machen würde.

Trotz der Horrorbilanz legten Fahrgäste 2024 fast 110 Milliarden Kilometer zurück, ein neues Allzeithoch, wie Allianz pro Schiene vermeldete.

Doch was könnte den Fahrgästen aktuell helfen, im ICE 611 nach Osnabrück und anderswo?

Die Gretchenfrage: Wie kann das verstopfte Netz entlastet werden?

Patrick Schnieder will die Bahn mit drei „Sofortprogrammen“ beliebter machen und verspricht sauberere sowie sicherere Bahnhöfe und will die „DB-Navigator“-App verbessern. Allesamt kosmetische Korrekturen.

Was aber ist mit den Verspätungen?

Eine Lösung, die von Experten immer wieder ins Spiel gebracht wird, ist die Entlastung des maroden Netzes durch weniger Verkehr. Seit der Bahn-AG-Reform 1994 sind immer mehr Züge auf den Gleisen unterwegs, gleichzeitig schrumpfte die Gesamtlänge des Schienennetzes um 17 Prozent. Das rappelvolle Netz hat zur Folge, dass etwa eine defekte Tür oder eine Oberleitungsstörung auf viel befahrenen Trassen rasch zu einem Kollaps führt.

„Das Einzige, was schnell Erfolge bringen würde, wäre die Frage: Was kann man am Fahrplan verschlanken?“, sagt auch Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, einer der profiliertesten Bahnexperten im Land.

Für Fahrgäste und die Politik, klinge der Ansatz zwar nicht so populär. Es gehe jedoch nicht darum, pauschal zehn Prozent der Züge zu streichen. „Sondern wirklich selektiv zu gucken: Wo entstehen Verspätungen und was kann ich in bestimmten Bahnhöfen tun, um das zu reparieren?“ So könne man etwa Regionalzüge auch an einem Vorstadtbahnhof enden lassen.

Vor allem an überlasteten Knoten wie Köln, Frankfurt, Hamburg, wo neben Fern-, auch viele Regionalzüge eintrudeln und Gleise belegen, entstehen Staus, die sich auf die gesamte Republik auswirken.

Lobbyverbände wie Allianz pro Schiene warnen jedoch vehement vor einer Verdünnung des Angebots und einer „Schrumpfbahn“. Patrick Schnieder will für das Thema eine Expertengruppe einrichten. Das klingt nicht so, als würde es eine schnelle Lösung geben.

Eine bessere Bahn wäre Balsam für die Volksseele

Bis der Bahnverkehr wieder einigermaßen pünktlich rollt, werden noch einige Jahre sowie Baustellen folgen. Stand heute sollen die Generalsanierungen der wichtigsten Strecken 2036 abgeschlossen sein. Eine Pünktlichkeitsquote von 90 Prozent sei erst mit einem sanierten Netz möglich, stellte Schnieder klar. Es braucht also mal wieder viel Geduld.

Andererseits liegt in den immer niedriger werdenden Erwartungen auch eine Chance. Gelingt es der Italienerin Palla die Bahn wieder auf Kurs zu bringen, strahlt das auch auf die Bundespolitik ab. Nichts würde der viel zitierten Laune im Land so guttun wie eine aufpolierte und pünktliche Bahn.

Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, soll beim Bahnfahren dann aufkommen, was Evelyn Palla bereits heute beim Zuglenken verspürt: „Ein ganz, ganz tolles Gefühl“.